in: Graswurzelrevolution, Nr. 235, Münster, Januar 1999, S. 13.

Die Ordnung der Weltbilder
Der Holocaust, der Soziologe Zygmunt Bauman und die deutsche Linke

Bei Linksradikalen ist der polnische Soziologe Zygmunt Bauman unbeliebt. Für seine Zeitdiagnose titulieren die einen ihn als „postmodernen Zyniker“ (Ebermann/Trampert), und weil er „die Moderne“ für tendenziell schuldiger am Holocaust hält als „die Deutschen“, wird er außerdem der Seite der „Verharmloser“ (Wippermann) zugeschlagen. Mit beiden Themen - Postmoderne und Holocaust - war der in Polen aufgewachsene und in England lebende Sohn jüdischer Eltern bislang auch in seiner Fachwelt ein Außenseiter. Seiner Kritik der Moderne gab er das Etikett „Postmoderne“, was die Soziologie wie auch traditionelle Linke ihm mit profunder Skepsis seinem Werk gegenüber dankten.
Anders als herkömmliche Modernisierungstheorien sieht Bauman im Holocaust nicht den „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner), sondern den „einzigartigen, aber signifikanten und zuverlässigen Test des latenten Potentials der modernen Gesellschaft“. Die Shoah ist ihm lediglich historischer Prototyp für das Scheitern der Moderne und ihrer Anstrengungen, Ordnung und Eindeutigkeit herzustellen. Die geplante und bürokratisch organisierte Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden führt Bauman mehr auf den Kampf gegen die Ambivalenz zurück, die die Jüdinnen und Juden verkörperten, als auf einen speziell deutschen oder sonstwie „eliminatorischen Antisemitismus“ (Goldhagen). Gescheitert sei die Moderne quasi an ihrer eigenen, konstitutiven Aufgabe, Homogenität herzustellen. Anders als andere ModernisierungstheoretikerInnen hält Bauman es deshalb auch nicht für primär antifaschistisch, die zivilisatorischen Bemühungen zu steigern, damit Auschwitz sich nicht wiederhole. Denn eben die Zvilisationsanstrengungen seien von denen des „Gartenstaates“ nicht zu unterscheiden. Die Vision von der „perfekten Gesellschaft“ habe Intellektuelle wie PolitikerInnen der Moderne zu GärtnerInnen gemacht. Durch die behauptete Notwendigkeit von Klassifikationen seien erst Nützliches und Unnützes erfunden, Fruchtbares und Unfruchtbares geschaffen worden. Der Staat als Garten wiederum war im nationalsozialistischen Deutschland am weitesten entwickelt: als Feld für soziale Planung, mit Beeten, die zur Klassifizierung und Befreiung von Unkraut und für die Veredelung zur Vollkommenheit genutzt werden sollten. Die „Endlösung“, beschreibt Bauman, war zu jeder Zeit ein offenes Konzept mit dem ernsthaften Bemühen um die rationalste Lösung eines gegebenen, aber sich verändernden Problems. Bauman leugnet eine spezifisch deutsche Dimension des Holocaust, und stellt sich damit gegen die unter Linken verbreitete These vom „deutschen Sonderweg“ (in die Moderne). Die „Betonung und Erklärung des Holocaust als deutsches Verbrechen“ sei „verhängnisvoll“. Denn sie führe dazu, schreibt Bauman in „Dialektik der Ordnung“, „daß alle anderen und insbesondere alles andere entlastet“ würde(n). Nicht zuletzt argumentiert Bauman damit auch gegen Daniel Jonah Goldhagen, der die TäterInnen des Holocaust explizit in „den Deutschen“ ausmacht. Den Deutschen einen exponierten Platz in der Geschichte der Moderne abzuerkennen, ist in gewisser Hinsicht jedoch gerade das Verdienst Baumans. Nur dadurch nämlich, dass der Holocaust als zwar einzigartiger, aber doch verallgemeinerbares und typisch modernes Phänomen betrachtet wird, kann er zum eingreifenden Gegenstand in der soziologischen Theorie werden. Es ist kein Zufall, dass der deutsche Historikerstreit der 80er Jahre kein SoziologInnenstreit war. Einen vergleichbaren Disput um die Bewertung des Nationalsozialismus hat es in den Reihen der deutschen Soziologie bis heute nicht gegeben. Und zwar deshalb nicht, weil der Holocaust als Bruch in der Zivilisationsgeschichte dort nicht theorietauglich ist, wo sich - wie in den Sozialwissenschaften - vornehmlich mit den Regeln statt den Ausnahmen gesellschaftlicher Verhältnisse beschäftigt wird. Die Holocaust-Forschung zieht also in die scientific community der deutschen Soziologie ein. Auf Irritationen stößt, dass sie dies nur Dank Bauman und mit seiner postmodernen Kritik tut.
Weil Bauman dem Holocaust im Vergleich zu anderen Verbrechen moderner Staaten „keinerlei Besonderheit zu(erkenne)“, wird er nun aber vom linken Berliner Historiker Wolfgang Wippermann attackiert. Wippermann, einer der wenigen Goldhagen-Befürworter seiner Zunft, kritisiert Bauman in seinem Buch „Wessen Schuld?“ an der Antwort auf eben diese Frage, und ordnet ihn den VerharmloserInnen zu. Klingt Baumans Betonung der sozialtechnologischen Maßnahmen in der Tat verdächtig nach Totalitarismustheorie, ist es entschieden zu reflexhaft, ihn deshalb in die Reihen derer zu rücken, die im Historikerstreit auf der falschen, der konservativen Seite standen. So bestreitet Bauman beispielsweise weder den Einfluss wirtschaftlicher Eliten noch die massenhafte Beteiligung williger VollstreckerInnen an der Shoah. Wichtigste Motivation für deren Handeln sei jedoch nicht der Antisemitismus, sondern die Maßgaben der instrumentellen Vernunft gewesen. Gerade obwohl Bauman und Goldhagen immer wieder als Vertreter gegensätzlicher Schulen in der Faschismusforschung behandelt werden, ergänzen sie sich m.E. in mancherlei Hinsicht. So fällt Goldhagen – als Repräsentant der eher individuelle Ursachen betonenden „IntentionalistInnen“ – in seinem sozialgeschichtlichen Abriss über den modernen deutschen Antisemitismus auf, dass die Juden und Jüdinnen spätestens mit der verstärkten Verwendung des Rassebegriffs für den deutschen Antisemitismus „die vorrangige Ursache von Unordnung (Hervorhebung J.K.) und Niedergang“ waren. Es gibt also, entgegen Baumans Insistieren, doch etwas spezifisch deutsches an der allgemein modernen Gärtnereitendenz, nämlich der aufkommenden kulturellen Inkohärenz mit Antisemitismus zu begegnen. Goldhagen schreibt weiter, schon in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts hätten selbst Liberale in Deutschland von Juden und Jüdinnen als „parasitäre Pflanze“ gesprochen. Ein Umgang mit dieser Gruppe von Menschen in gärtnerischen Kategorien lag also in Deutschland besonders nahe. Von Goldhagen werden hier wiederum die Metaphern Baumans benutzt, der als  „Funktionalist“ gilt, weil er systematische Gründe für die Shoah betont. Goldhagen fasst die Sicht der Unordnung fürchtenden, modernen deutschen AntisemitInnen schlicht zusammen: „Die Juden waren Gift“.
Die von Bauman aufgezeigte Gefahr, durch die Betonung eines bestimmten Landes zu einer bestimmten Zeit, „alles andere“ zu entlasten,  ist allerdings durch die vorgenommene Verallgemeinerung nicht gerade gebannt. An einem Punkt trifft also Wippermanns Kritik doch: die Gartenstaat-Metapher lässt Differenzierungen zwischen verschiedenen modernen Staaten kaum zu. Diese wiederum sind notwendig, um nicht der elenden Einebnung system(at)ischer Unterschiede aufzusitzen und infolge dessen die peinliche Aufrechnung einzelner Verbrechen zu betreiben.

Auch Thomas Ebermann und Rainer Trampert behaupten in ihrem Buch „Die Offenbarung der Propheten“, dass Bauman mit seiner Interpretation der Moderne „den Positionen der rechten Historiker, Philosophen und Dichter ziemlich nahe“ komme. Zur Begründung führen die beiden Ökosozialisten zum Beispiel an, Bauman unterstelle durch seine Betonung der Planmäßigkeit und wissenschaftlichen Korrektheit des Holocaust „subjektiv `edle Absichten´“. Exemplarisch wird hier allerdings vor allem eins deutlich, nämlich das grundsätzliche Missverständnis, das ihr gesamtes Kapitel über Bauman durchzieht: Ebermann und Trampert vermögen zwischen deskriptiven und normativen Aussagen bei Bauman nicht zu unterscheiden. Wenn Bauman den Holocaust unter anderem mit der Übermacht und Totalität gesellschaftlicher Ordnung erklärt, lesen sie die Beschreibung der perfekten Planung, als halte Bauman diese auch irgendwie für eine gute Planung. Bauman schildert moderne Kultur als Lieferantin und Legitimatorin von Wissen als Macht. Wissenschaft sei in der Moderne, so Bauman in „Moderne und Ambivalenz“, immer auch dazu da gewesen, Ordnung in die als chaotisch imaginierte Natur zu bringen. Damit habe sie die Dichotomie von Natur und Kultur erst hergestellt. Ebermann und Trampert tun so, als würde Bauman diesen permanenten Entwurf einer ordentlichen Kultur gutheißen. Er betreibe damit eine „systematische Einebnung und Verkleinerung der Schuld intellektueller und wissenschaftlicher Eliten des Nationalsozialismus“, die wiederum „jede juristische Absolution“ übertreffe (Ebermann/Trampert). Durch ihr durchgängiges Missverstehen der Argumentationsebenen bei Bauman stempeln sie ihn zum nachträglichen Kollaborateur. Der Unterschied von postmoderner Philosophie bzw. postmoderner Soziologie und Postmoderne als Gesellschaftsdiagnose entgeht ihnen völlig. Deshalb schreiben sie von „dem Postmodernen“ nicht als dem Menschen, den Bauman zeitdiagnostisch beschreibt, sondern tun so, als handle es sich dabei um den, den der Sozialwissenschaftler sich für diese Zeit wünscht. Dieser Irrtum bringt Bauman nach Ansicht der Autoren sodann vom Standpunkt des kritischen Theoretikers des Holocaust in die Nähe von dessen UnterstützerInnen. Weil Bauman in seiner als Postmoderne bezeichneten Zeitdiagnose an der positiven Bewertung von Toleranz festhält, nachdem er deren Tendenz zur Gleichgültigkeit kritisiert hat, resümieren Ebermann und Trampert: „Wenn außerdem die `Selbstsucht ... in der Tat´ die `unmittelbarste und tägliche Manifestation´ der postmodernen Toleranz ist, dann läßt sich erahnen, an welcher Seite die Postmodernen gestanden hätten und stehen werden. Selbstsucht ist des Mitläufers Hauptmotiv. In ihm finden der moderne Wissenschaftler und der desinteressierte postmoderne Mitmacher zusammen“.
Baumans Plädoyer für Toleranz aber ist keineswegs so eindeutig, wie Ebermann und Trampert es sehen (wollen). Baumans gesamtes Werk ist durchzogen von einer nicht aufgegebenen Hoffnung: Der Hoffnung nämlich, dass sich zwischen sozialtechnologischem Ehrgeiz moderner Philosophie und Politik und einer Gleichgültigkeit und Beliebigkeit forcierenden postmodernen Haltung eine andere Möglichkeit für zielgerichtetes Handeln in Richtung Emanzipation befindet oder auftun lässt. Dieses Handeln ist nach Bauman eines, das moralischen Maßstäben den Vorrang einräumt vor dem bloßen Willen zum Überleben. Eine der Lehren, die Bauman damit aus dem Holocaust zieht, ist die, das Überleben nicht zum einzigen Sinn und Wert des Lebens werden zu lassen. Denn gerade die Lehre vom Überleben suggeriere einen Konflikt verschiedener Interessen, in dem die einen nur erfolgreich sein können durch das Nichtüberleben der anderen. Der „Preis des Überlebens“, hatten Horkheimer und Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“ geschrieben, sei „das praktische Mitmachen, die Verwandlung der Idee in Herrschaft“. Baumans Eintreten für Toleranz knüpft insofern an Adornos Mahnung an, daß Denken, „um wahr zu sein, (...) auch gegen sich selbst denken müsse“(Negative Dialektik). Am 12.September 1998 wurde Zygmunt Bauman mit dem Theodor W. Adorno-Preis der Stadt Frankfurt am Main ausgezeichnet.

Jens Kastner

Literatur:
Bauman, Zygmunt 1994: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg (Europäische Verlagsanstalt), 2.Aufl..
Bauman, Zygmunt 1995: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt a. M.(Fischer Verlag).
Ebermann, Thomas und Rainer Trampert 1996: Die Offenbarung der Propheten. Über die Sanierung des Kapitalismus, die Verwandlung linker Theorie in Esoterik, Bocksgesänge und Zivilgesellschaft, Hamburg, 2.Aufl. (Konkret Literatur Verlag).
Wippermann, Wolfgang 1997: Wessen Schuld? Vom Historikerstreit zur Goldhagen-Debatte, Berlin (Elefanten Press).


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in: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, Berlin, Nr. 267, 48.Jg., Heft 4/2006, S. 530-535. 
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in: Graswurzelrevolution, Nr. 235, Münster, Januar 1999, S. 13.
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Jens Kastner: Politik und Postmoderne. Libertäre Aspekte in der Soziologie Zygmunt Baumans, Münster 2000 (Unrast Verlag) 
[mehr dazu beim Unrast Verlag]