Das folgender Interview findet sich in leicht gekürzter Fassung in: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, Berlin, Nr. 267, 48.Jg., Heft 4/2006, S. 530-535.

Zygmunt Bauman
Staat, Markt und >life politics< im Zeitalter der Globalisierung

Gespräch mit Jens Kastner


J.K.: Sie wurden berühmt mit der Kritik am modernen Nationalstaat, seiner Fabrikation des >Fremden< und seinen Mechanismen der Ausschließung. In späteren Büchern schien es, dass Sie Ihre Kritik zurücknähmen, vor allem angesichts der Entwicklung der globalisierten Märkte und deren Tendenz, alles, was für menschliches Leben wichtig ist, zu zerstören, inklusive dessen, was Sie die drei Dimensionen der Sicherheit genannt haben – certainty, safety und security. [1]
Stimmen Sie der Einschätzung zu, dass Sie ihre Kritik verändert haben, und meinen Sie, dass diese Veränderung auch von anderen vollzogen werden sollte?


Z.B.: Es geht nicht so sehr darum, dass ich meine >Kritik verändert< habe, als vielmehr darum, dass der Nationalstaat unter veränderten Bedingungen seine Rolle verändert hat (sofern er nach wie vor so genannt werden kann, was eine strittige Frage ist. Seit die Vereinigung von >Staat< und >Nation< nicht länger eine Notwendigkeit ist, und weniger denn je ist sie eine Realität, ist der >Nationalstaat< eines jener Konzepte, die Ulrich Beck als >Zombie-Begriffe< klassifizieren würde, und das ich gegenwärtig mangels eines besseren Namens  >sous rature<, unter Durchstreichung benutze.) Der Nationalstaat, den ich in Dialektik der Ordnung (dt. 1992) oder Moderne und Ambivalenz (dt. 1992) zu fassen versuchte, ist nicht derselbe wie der, den ich in einer Reihe von Studien seit Flüchtige Moderne (dt. 2003) beschrieben habe. Der erste gehörte der Ära der Nationen- oder Ordnungserrichtung an, der Ära der Bemühungen um das Gewaltmonopol, der Beschäftigung mit Grenzziehung und der Sicherung von Grenzen, der Einrichtung von Gesetzen, Definition und Klassifikation, und des Rechts zum Ausschluss. Er setzte periodisch anthropophagische und anthropoemische Strategien ein; er setzte auf >spirituelle Mobilisierung< bei der Produktion von Gehorsam. Er war sozusagen nach dem Maßstab der unteilbaren territorialen Souveränität, industrieller Massenproduktion und massenhaftem Militärdienst gemacht. Und aus all diesen Gründen zeichnete er sich durch eine endemische >totalitäre Tendenz< (Hannah Arendt) aus. Keine dieser Eigenschaften ist noch gegeben – sie sind jedenfalls nicht die definierenden Eigenschaften des flüchtig-modernen Abkömmlings oder Nachfolgers des stabil-modernen States.

Der flüchtig-moderne Staat ist ein Produkt der allmählichen Erosion territorialer Souveränität und des allmählichen Wandels von einer Gesellschaft der Produzenten/Soldaten zu einer Gesellschaft der Konsumenten. Die erste Veränderung schwächte alle drei Standbeine, auf denen die politische Souveränität des Nationalstaats beruhte – das militärische, das ökonomische und das kulturelle. Sie führte zur Verdampfung eines substanziellen Teils der staatlichen Macht (power, pouvoir) in den planetarischen Niemands-Cyperspace und zu einer Aufteilung zwischen politisch unkontrollierter Macht und Politik mit Machtdefizit. Sie machte außerdem sowohl die anthropophagische als auch die anthropoemische [2] Strategie, mit Heterogenität umzugehen, unpraktikabel. Die zweite Veränderung ist hauptverantwortlich für die Verlagerung (die >Subsidiarisierung<) großer Teile der Staatsfunktionen hin zu individuellen >life politics< und dafür, einen anderen großen Teil nebenher den Marktkräften zu übertragen, die politischer Kontrolle enthoben sind. Der >verschlankte< oder >reduzierte< Staat hat in erster Linie die Aufgabe behalten, Gesetz und Ordnung zu schützen. Die ihn legitimierende Formel hat sich vom Versprechen des >Sozialstaates< (der kollektiven Versicherung gegen individuelles Unglück) hin zum >personellen Sicherheitsstaat< (dem Schutz individueller Körper und individuellen Besitzes) gewandelt, während der Begriff der Bürgerschaft (citizenship) insgesamt umdefiniert wurde – vom >Gesetzgeber< zum >zufriedenen Kunden< (vorrangig von Sicherheitsdiensten).

Diese Veränderungen zeigen eine erhebliche Schwächung der >totalitären Neigung< an (die eher ihrer Marginalisierung als ihrer Neutralisierung geschuldet ist, wie die Guantanamos und Abu Ghraibs, die Flüchtlingslager, die Kriminalisierung sozialer Probleme, >Zero Tolerance< gegenüber den Unterklassen und die Verschärfung der Asyl- und Migrationspolitiken überdeutlich zeigen); aber sie signalisieren auch den Auszug des >Öffentlichen< aus der Agora (wo die Begegnung, die Verbindung und wechselseitige Übersetzung von >privaten Interessen< und >öffentlichen Pflichten< stattgefunden hat – siehe mein Buch Die Krise der Politik (dt. 2000)), und die Preisgabe der Agora gegenüber der Invasion und Kolonisierung durch das >Private<. Was auch immer von der Agora noch übrig bleibt und welche Gestalt sie gegenwärtig auch immer annimmt, dient in erster Linie der Stärkung der Tendenz zur >Privatisierung< und >Deregulierung< des Gemeinwesens.

Keine der beiden Formen des modernen Staates (>stabil<- oder >flüchtig<-modern) scheint immun gegenüber Kritik zu sein – aber mein Punkt ist, dass einige orthodoxe (und einstmals richtige) Angriffe einen großen Teil ihrer früheren Berechtigung verloren haben, während andere aufgetaucht sind und an Stärke gewonnen haben. Ein wichtiges Beispiel ist die Agora, die gegenwärtig genau von der Seite belagert und bedroht wird, von der aus die klassische Kritische Theorie, während sie auf die stabil-modernen Probleme und Bedrohungen reagierte, ihre Hauptoffensive anzusetzen versuchte. Oder, ein anders Beispiel, das sich durch die veränderte Balance (oder eigentlich das Ungleichgewicht) zwischen Freiheit und Sicherheit ergibt: Die Schwachstelle des >stabil-modernen< Regimes war die Tendenz, im Austausch mit einer erhöhten staatlich garantierten Sicherheit individuelle Freiheiten zu unterdrücken, während das Kennzeichen des >flüchtig-modernen<,, deregulierten bzw. privatisierten Regimes der Abbau von Sicherheitsleistungen im Austausch mit mehr individueller Wahlfreiheit ist. In beiden Fällen bewegt sich das Pendel zu weit zu einem der beiden Extreme, und das Gleichgewicht zwischen Freiheit und Sicherheit wird ernsthaft beschädigt. Aber die Gründe und die kritischen Aufgaben, die daraus folgen, sind in jedem der beiden Fälle sehr verschieden.


J.K.: Mitte der 1990er Jahre drehten sich einige Ihrer Bücher um Fragen der Postmoderne. Eine in meinen Augen wichtige Idee war ein Ergebnis ihrer Analyse des >Dritten Reiches< in Bezug auf die Ethik-Debatte (Postmoderne Ethik, dt. 1995): Sie sagten, es dürfe keine Ethik geben, weil jede Ethik mit einem Set von Regeln verknüpft ist, und diese könnten niemals effektiv bei der Verhinderung von Massenmord sein. Stattdessen plädierten Sie für eine im Subjekt verwurzelte Moral (im Gegensatz zur Ethik). Ist diese Moral als eine Form der >Politik in der ersten Person< zu verstehen, wie sie innerhalb der feministischen Bewegung entwickelt worden ist? Und kann diese möglicherweise als Konsequenz aus dem Scheitern traditioneller Politik betrachtet werden?


Z.B.: Mein Gedankengang war ein etwas anderer. Wie Sie wahrscheinlich wissen, war die entsetzlichste Schlussfolgerung, die ich aus meinen Studien zum Holocaust zog, nicht die, dass uns (die kontinuierliche Präsenz des modernen Staates in seiner >stabilen<, bürokratischen Form ebenso vorausgesetzt wie seine grenzbildende Obsession) ein anderer Holocaust zustoßen könnte, sondern dass wir (wenn die >Umstände< die >richtigen< wären) ihn verüben könnten … Eine der entscheidenden Bedingungen dieser Möglichkeit machte ich in der Substitution der Verantwortung für den Anderen durch die Konformität gegenüber der Regel (im ethischen Code) aus – ein Ersatz, der es moralischen Wesen möglich machte, an unmoralischen Taten teilzuhaben oder zumindest nichts zu tun, um sie aufzuhalten. Diese Substitution war jedoch weniger die alleinige Eigenschaft des Nazi-Staates als vielmehr eine recht allgemeine Charakteristik moderner Staaten, auch wenn sie in den nicht-totalitären Staaten kompensiert oder anderweitig abgeschwächt wurde. Dies war der Grund, weshalb ich die Lockerung des staatlichen Zugriffs auf die individuelle Entscheidung und den Verlust des staatlichen Interesses, diese Entscheidungen nach einem Code zu ordnen, als ein hoffnungsvolles Zeichen interpretierte: Eine Chance (nur eine Chance!) für moralische Verantwortung, eine Chance für Individuen, sozusagen >Verantwortung für ihre moralische Verantwortung< zu übernehmen …

Einige Studien später bin ich allerdings nicht sehr zuversichtlich, dass diese Chance tatsächlich ergriffen wird. Der totalitäre Staat war ein machtvoller Mechanismus, um Menschen von ihrer moralischen Verantwortlichkeit zu entlasten (und sie zudem gegenüber ihren eigenen moralischen Impulsen zu immunisieren). Aber der Markt ist in dieser Hinsicht nicht weniger mächtig. Die >Adiaphorisierung< (die Verneinung der moralischen Bedeutung von Handlungen) wurde in der >stabil-modernen< Phase meist durch Bürokratien bewerkstelligt, heute wird sie, nicht weniger erfolgreich, durch den Markt hergestellt.

>Politik der ersten PersonAbhängigkeit< hört sich das hinsichtlich der Zukunft moralischer Verantwortlichkeit nicht gut an. >Scheitern traditioneller Politik

J.K.: In Ihrem neusten Buch (Verworfenes Leben, dt. 2005) sprechen Sie von >menschlichem Abfall< als Produkt der Kräfte der Globalisierung. Wäre es nicht möglich, eine Verbindung herzustellen zwischen dieser Diagnose und ihrer früheren Staatskritik? Ich frage das, weil ich nicht der Meinung bin, dass der Nationalstaat kollabiert und zusammenbricht. Er verändert sich, schafft aber nach wie vor selbst die Rahmenbedingungen der ökonomischen Globalisierung. Betrachtet man beispielsweise die Migrationspolitiken, so wird deutlich, dass der Staat seine wesentlichen Funktionen nicht eingebüßt hat.


Z.B.: Wie Sie wissen dürften, unterscheide ich drei moderne Mechanismen der Herstellung menschlichen Abfalls: Erstens die Ordnungserrichtung, zweitens den ökonomischen Fortschritt und drittens heute die Globalisierung. Sie sind alle in vollem Gange – auch weil es durch die neue Bevölkerungsdichte des Planeten nicht mehr genug >Müllhalden< gibt und die orthodoxen Müllbeseitigungsanlagen nicht richtig funktionieren, was zu der oben erwähnten >Kriminalisierung< sozialer Probleme führt (die Gefängnis-Bevölkerung wächst auf Grund des Zusammenbruch des Kolonialismus …); hinzu kommt, dass die bis vor kurzem als >vor-modern< geltenden Länder (oft gezwungenermaßen) auf der >Modernisierungs-Schiene< fahren und ihre eigenen >überflüssigen Menschen< produzieren – die für die erhebliche Ausdehnung tribaler Kriegsführung und die steigenden Migrationzahlen verantwortlichen Umstände.

Kurz bevor all das begann, unternahm der Staat den tapferen Versuch, das Versprechen existenzieller Sicherheit zu unterstreichen. Er hält dieses Versprechen jedoch nicht länger und verweist die Aufgabe stattdessen an individuelle Ressourcen und individuellen Innovationsgeist. Wenn das nicht die Preisgabe seiner vordem entscheidenden Funktion ist – was dann? Die Migrationspolitiken, die sie als angeblichen Beweis dafür erwähnen, dass der Staat seine >wesentlichen Funktionen nicht eingebüßt< hat, ist eher als Nebenprodukt der Notwendigkeit zu verstehen, die >fehlerhaften Konsumenten< aus dem Spiel zu eliminieren: Diese >de jure-Individuen<, die zu arm oder andererseits zu schwach sind, um >de facto-Individuen< zu werden.


J.K.: In den frühen 1990er Jahren haben Sie ein wichtiges Buch über den Holocaust (Dialektik der Ordnung, dt. 1992) und über die Strukturen geschrieben, die zu dieser Form des Massenmordes führen können. Darin stellten Sie u. a. die Verbindung heraus, die zwischen der typisch modernen Art und Weise, >den Anderen< zu konstituieren, seiner Dehumanisierung und dem Aufkommen des Antisemitismus besteht. Irritierend an Ihrem aktuellen Buch erschien mir daher, dass, obwohl es von (post-)modernen Ausschlüssen handelt, darin die Jüdinnen und Juden mit keinem Wort vorkommen. Wie ist das möglich? Ist es der Veränderung der Situation oder bloß einer Veränderung Ihrer Perspektive geschuldet?


Z.B.: Ich glaube, die Situation hat sich verändert. Es gibt, wenn überhaupt, nur noch wenige Staaten, die antisemitische Diskriminierung >von oben< praktizieren. Jüdische Bürgerschaft im Nationalstaat wird (wieder >von oben<) kaum in Frage gestellt. Das ist weniger der Tatsache geschuldet, dass die Juden sich von der Herausforderung der >Assimilation<, die wegen ihrer inhärenten Ambivalenz der primäre Mechanismus der Reproduktion der Marginalisierung von Fremden war, befreit haben, sondern es verdankt sich vor allem dem Umstand, dass der Druck zur Assimilierung sich aus den zuvor genannten Gründen drastisch abgeschwächt hat.

Die Ära der Nationenbildung, die das >Assimilationsproblem< hervorgebracht hat, ist in fast ganz Europa im Großen und Ganzen vorbei. Überall in der westlichen Welt zerstreut sich der Kreuzzugsgeist des Nationalismus in vage historische Erinnerungen, die nur für Unabhängigkeits- oder Siegesfeiern, die Wochen der Fußball-Weltmeisterschaft oder Cricket-Testspiele wieder abgestaubt werden; ein Do-it-yourself-Baukasten eingekaufter oder persönlich gesammelter Identitäten ersetzt Ursprungsmythen gemeinsamen Schicksals, Blutes, Bodens und kollektiver Missionen. Der Alltag der Assimilierung neigt dazu, dumpf und uninspirierend zu sein. Er fungiert kaum als Quelle großen Schmerzes und ganz sicher nicht als Anreiz für Bildersturm und intellektuelles Abenteurertum. Aber auch in Form der Tragödie und der Grausamkeit politischer Homogenisierung ist die kulturelle Explosivität der assimilatorischen Episode so gut wie vorbei.

Für die große Mehrheit der Diaspora-Juden, komfortabel eingerichtet in den Mittelklassen ihrer jeweiligen Länder, bedeutet >Assimilation< nichts weiter als mit den Nachbarn gleichzuziehen. >Du sollst nicht aus der Reihe deiner Nachbarn tanzen< ist das einzige Gebot der Assimilation, leicht dabei zu beobachten, wie Cynthia Ozick bissig kommentierte, wie die Leute >für den Fahnenkauf hinausstürzen, um das Straßenbild zu komplettieren<. Assimilation hat sich mittlerweile in eine generalisierte Konformität öffentlichen Auftretens aufgelöst, das mit einer verblüffenden Vielfalt privatisierter Inhalte friedlich koexistiert. Inmitten der Fülle von klassen-, generationen-, gender- und berufsbezogenen oder auch sozial frei fließenden und territorial ungebundenen, virtuell reisenden und ungehindert grenzüberschreitenden Lebensstilen ist es schwierig, bestimmte Problemlagen als besondere zu bestimmen und beispielsweise an Ethnizität gebundene Besonderheiten als spezielle Herausforderung zu betrachten. Insgesamt scheint es – ziemlich undramatisch – so, dass sich wohlhabende jüdische Einwohner wohlhabender Straßen darum bemühen, so wie der Rest der wohlhabenden Einwohner zu sein, oder die jüdische Jugend darum, die aktuellsten Lebensstile anderer junger Modeabhängiger aufzunehmen und zu kopieren, oder jüdische Freiberufler, so zu leben und sich so zu kleiden und ihre Büros so auszustatten, wie sie es gerade als richtig und angemessen für Freiberufler ihres Standes erachten, oder jüdische Akademiker, in Übereinstimmung mit den am meisten angesagten der schnell wechselnden Campus-Marotten zu handeln.

Der Stachel der Assimilation ist gezogen, und das nicht, weil die Juden perfekt dem homogenisierenden Druck der Assimilation entsprochen hätten, sondern weil es diesen Druck nicht mehr gibt. In der >flüchtig-modernen< Welt universaler, flüssiger und kurzlebiger Partikularismen existiert er nicht mehr. Eine durch die allgemeine Teilhabe am Spiel der Vielfalt integrierte Welt hat vor der Mehrdeutigkeit kapituliert, sie kämpft nicht länger für die Eindeutigkeit (i. Orig. dt.) und glaubt nicht mehr an ihre Machbarkeit.

Auf dieser nord-westlichen Halbinsel des asiatischen Kontinents, die wir Europa nennen, ist Identität nicht länger die Frontlinie, entlang derer Zwang und Freiheit, Pflicht und Wahlfreiheit, Inklusion und Exklusion in einem Zermürbungskrieg aufeinanderprallen. In unserem Teil der Welt ist Identität in jeder Hinsicht zu >Identainment< geworden: Sie hat sich von einer Angelegenheit physischen und geistigen Überlebens in Unterhaltung verwandelt, in ein Freizeitspiel und in einen zentralen Zeitvertreib des homo ludens mehr denn des homo politicus. Sie hat sich zudem größtenteils privatisiert und ist vom Bereich der Politik in den wenig strukturierten Raum der >life politics< versetzt worden. Wie die meisten Funktionen, die in diesen Raum versetzt wurden oder versetzt werden können, durchlebte sie auch einen schnellen und gründlichen Prozess der Kommerzialisierung. Das Spiel namens >Identitätssuche< oder >Identitätsherstellung< ist heutzutage verschiedenartig gestaffelt und umspannt das ganze Spektrum theatralischer Genres von der Tragödie zur Farce oder Groteske, obwohl tragödienhafte Produktionen äußerst dünn gesät sind.


J.K.: Kommen wir noch einmal zur Staatstheorie. Auf der einen Seite betrachtet man den Staat weder als Instrument noch als Subjekt, sondern im Anschluss an Nicos Poulantzas als klassenbasierten Kristallisationspunkt von Machtbeziehungen. Auf der anderen Seite scheint es ein wachsendes Vertrauen in den Staat als helfende Hand gegen neoliberale (Anti-)Politiken zu geben. Was denken Sie, wo liegen die Perspektiven der Staatskritik oder Kritischer Theorie im Allgemeinen, in deren Tradition ja auch Sie selbst stehen? Nehmen Sie in dieser Hinsicht einen wachsenden Einfluss sozialer Bewegungen wahr, wie er sich beispielsweise im gegenwärtigen Lateinamerika abzeichnet? Sind diese möglicherweise auch als Bewegungen für die Rückeroberung >des Politischen< zu interpretieren?


Z.B.: Sie fragen, wo die Perspektiven für Staatskritik und Kritische Theorie liegen. Ich denke, ich habe diese Frage bereits so vollständig beantwortet, wie ich kann. Ich kann jedoch noch hinzufügen, dass Klassen und Klassenkonflikte heute global existieren, so wie die gegenseitigen Abhängigkeiten menschlicher Schicksale, und dass es keine lokalen Lösungen für global produzierte Probleme gibt und geben kann. Was auch immer es für Lösungen geben mag, sie können nur global sein. Hoffnungen auf einzelne Nationalstaaten und ihre Verbindungen zu setzen, bedeutet, lokale Lösungen zu suchen – aber lokale Lösungen verschärfen unweigerlich globale Polarisierungen und erhöhen die Gesamtsumme von Antagonismen und Interessenkonflikten. Vor allem stehen sie der Suche nach und der Anwendung eines globalen – des einzig effektiven – Maßstabes im Weg.

Ich denke, der Fokus sollte stattdessen darauf gerichtet sein, die bis jetzt grundlegenden Prozesse der rein negativen Globalisierung (Globalisierung der Finanzen, des Kapitals, des Handels, der Gewalt, des Verbrechens, des Terrorismus – alle darin verstrickt, Grenzen zu beseitigen und institutionalisiertes Handeln zu untergraben) zu zähmen und durch eine positive Globalisierung zu ergänzen: die Globalisierung politischer Institutionen und Verantwortlichkeiten, des Gesetzes und der Gerichtsbarkeit sowie der demokratischen Kontrolle. Nur durch eine solche positive Globalisierung können Macht und Politik, die heutzutage getrennt existieren, wieder zusammengebracht werden, nur diesmal in globalem Maßstab. Und nur auf diese Art können die Kräfte, die sich von politischer Kontrolle emanzipiert haben und gegenwärtig Amok laufen, wieder gezähmt und davon abgehalten werden, weitere Verwüstungen anzurichten und straflos enormes Leiden zu verursachen.



Das Interview wurde Anfang März 2006 per e-mail geführt. Übersetzung aus dem Englischen: Jens Kastner.


[1] Die erste Sicherheit, security, bezieht sich auf Besitz und betrifft das Gefühl, alles, was gewonnen und erworben wurde, behalten zu wollen. Zweitens geht es mit certainty um Gewissheit, um verlässliche Kenntnis von Unterscheidungskategorien für alltägliche Entscheidungen. Und das dritte fragliche Gut ist Schutz, safety, das garantierte Wohlbefinden des Körpers und seines Lebensraumes.

[2] Wörtlich: die Menschen fressende und die Menschen auswürgende Strategie. Lévi-Strauss stellt mit diesem Bild moderne Formen des Ausschlusses der archaischen Haltung zu Feinden gegenüber (Anm. d. Red.).


Mehr zu Zygmunt Bauman:

Trügerisches Glücksversprechen
Zygmunt Bauman über die Verallgemeinerung künstlerischer Lebensentwürfe
in: ak – Analyse & Kritik, Nr. 535, Hamburg, 16. Januar 2009, S. 32.
[Opens internal link in current windowArtikel lesen]

* „Praktische Negation“ und „Kontingenz mit Wurzeln“. Gemeinschaft bei John Holloway und Zygmunt Bauman: Die globalisierungskritische Bewegung als Wir und Neotribe 
in: Böckelmann, Janine, Frank Meier und Claas Morgenroth (Hg.): Politik der Gemeinschaft. Zur Konstitution des Subjekts in der politischen Philosophie der Gegenwart, Bielefeld 2008 (transcript Verlag), S. 157-176.
[Initiates file downloadDownload Aufsatz als pdf]

Im Kampf gegen Linke
Zum Umgang mit der Vergangenheit des Soziologen Zygmunt Bauman
in: graswurzelrevolution, Münster, Nr. 319, Mai 2007, S. 17.
[Opens internal link in current windowArtikel lesen]


Der Staat und der Abfall
Der Soziologe Zygmunt Bauman widmet sein neues Buch dem `verworfenen Leben´
in: Jungle World, Nr. 43, Berlin, 26. Oktober 2005, S. 23.
[Artikel in der Jungle World lesen]

Schmutz und die Vision der Reinheit
In Zygmunt Baumans neuem Buch wird einiges schön gesagt, aber nicht konsequent
in: Frankfurter Rundschau, 27. September 1999. [Opens internal link in current windowArtikel lesen]

Die Ordnung der Weltbilder
Der Holocaust, der Soziologe Zygmunt Bauman und die deutsche Linke
in: Graswurzelrevolution, Nr. 235, Münster, Januar 1999, S. 13.
[Opens internal link in current windowArtikel lesen]

Jens Kastner: Politik und Postmoderne. Libertäre Aspekte in der Soziologie Zygmunt Baumans, Münster 2000 (Unrast Verlag) 
[mehr dazu beim Unrast Verlag]