in: Frankfurter Rundschau, 27. September 1999.

Schmutz und die Vision der Reinheit
In Zygmunt Baumans neuem Buch wird einiges schön gesagt, aber nicht konsequent

Von Jens Kastner

„Vielleicht leben wir in einem postmodernen Zeitalter, vielleicht auch nicht“, schreibt der Mann, der wie kein anderer in der Fachwelt dafür bekannt ist, seine Zeitdiagnose mit dem umstrittenen Label „Postmoderne“ versehen zu haben. Seine letzten vier Bücher tragen den Begriff im Titel, und auch sein neues handelt von nichts anderem. Zwar ist der Ironiegehalt bei Aussagen von PostmodernistInnen bekanntlich stets einzukalkulieren. Bei Zygmunt Bauman wird allerdings auch diese Berechnung zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis führen. Die Frage nach Baumans Standpunkt im akademischen Diskurs um die Postmoderne, kann weder für die Zeitdiagnose, noch für die soziologische Theorie eindeutig beantwortet werden.
So diagnostiziert er beispielsweise als Beobachter von Gesellschaft eine Zunahme gemeinschaftlicher Strukturierung, lehnt als Theoretiker den Kommunitarismus aber entschieden ab. Wo auf die Abgrenzung gegen naturalistische Konzepte nicht mit der liberalen Mär von der Wahlfreiheit und Chancengleichheit aller reagiert, sondern auch dieser noch ein libertäres „die Freiheit der Freien erfordert die Freiheit aller“ entgegengehalten wird, macht Bauman sich zum durchaus sympathischen Zeitkritiker. Allerdings ist auch dieser Individualismus schon der theoretische Reflex auf ein postmodernes Phänomen, das Bauman nur äußerst schwammig zu fassen bekommt. So werden die Gemeinschaften, auch Neo-Stämme genannt, gegen deren gleichmachende Wirkung Bauman Stellung bezieht, mal identifiziert mit „schwachen Staaten“, mal mit „der Bewegung der Schwarzen“ und im neuen Buch mit „religiösem Fundamentalismus“. Die fundamentalen Differenzen zwischen diesen Bewegungen werden einer allgemeinen Kritik an der „Gewalt“ untergeordnet. Ähnlich handhabt Bauman das mit anderen Fällen „typischer Modernität“. Wenn auch die fast ausschließliche Veröffentlichung von Aufsätzen eindeutige Aussagen über eine zeitliche Entwicklung in Baumans Werk nahezu unmöglich machen, scheint doch eine Verschiebung von der anregenden Staats- hin zu einer abtörnenden „Totalitarismuskritik“ stattgefunden zu haben. Mit der Schärfe der Kritik stumpft daran auch die Sympathie ab. In der „Dialektik der Ordnung“ (1994) zielte seine Moderne-Kritik insbesondere auf den Nationalsozialismus, den Bauman als in seiner Logik konsequenteste Form moderner Staatlichkeit beschrieben hatte. Auch in „Moderne und Ambivalenz“ (1995) steht der Kommunismus allein kapitelmäßig noch auf einem deutlich anderen Blatt. Inzwischen aber werden Nationalsozialismus und Kommunismus gleichgesetzt und mit dem reduzierenden Vorwurf versehen, jeweils die Komplexität des (kulturellen) modernen Reinheitsproblems auf  Probleme der „Rassen“- bzw. „Klassenreinheit“ reduziert zu haben. Dem zugrunde liegt ein verallgemeinertes, und nur mit äußerster Vorsicht zu benutzendes Kulturverständnis. Moderne Kultur ist Bauman zufolge beseelt von der Vision der Reinheit. Der Schmutz, das Unsaubere, das die kulturellen Leistungen des Abendlandes als Gegenmaßnahmen herausforderte, aber ist selbst erst Ergebnisse der Entdeckung menschlicher Ordnung. Reinlichkeitserziehung und KZs entspringen laut Bauman also nicht einer anthropologischen Sauberkeitskonstante, sondern der spezifischen, historischen Situation, genannt Moderne. Daß gesellschaftliche Ordnung menschengemacht und -machbar ist, habe den Ordnungseifer auf den Plan gerufen. Dreckig ist dann - soziologisch betrachtet - das, was falsch plaziert ist und sich am als falsch definierten Ort aufhält. Der oder die Fremde zum Beispiel. Die ganze Soziologie der Fremdheit basiert auf der Grundannahme des Ordnungsstrebens, und ihr Gegenstand sind die verschiedenen Perspektiven dieser „Reinhaltung“: Wie gehen Einheimische mit Fremden um, wer definiert Fremdheit und was haben oder sind Fremde heute noch, was sie von anderen unterscheidet?
Die moderne Abwehr des und der Fremden war, so Bauman, Aufgabe des Nationalstaates. Dessen Ordnungsmacht habe aber in postmodernen Zeiten an Effektivität eingebüßt. Federführend bei der Ordnung des Sozialen ist Bauman zufolge heute der Markt. Auch hier sind es die beschriebenen Ausgrenzungsmechanismen, die Baumans Zeitdiagnose plausibel erscheinen lassen. Die sozialen Zusammenhänge der westlichen Gesellschaften werden gegenwärtig statt über Produktion über den Konsum organisiert. Glück, Wohlstand, Beziehungen werden zu individuellen Aufgaben gemacht und deren Zustandekommen zu Indizien für persönliche Leistung. Immer wieder betont Bauman, daß es zur Teilhabe am Konsum einer materiellen Grundlage bedarf, über die immer weniger Menschen verfügen. Am Beispiel USA macht er deutlich, daß und wie einerseits aus den Arbeitslosen als ehemaliges „Reserveheer“ des Marktes menschlicher Überfluß geworden ist. Auf der anderen Seite ist die zumindest proklamierte Fürsorge des Wohlfahrtsstaates durch Strategien der Kriminalisierung ersetzt worden. Wer kein guter Konsument mehr sein kann, wird schnell zum Verbecher gemacht.  Widerstand gegen die kapitalistische Realität, so Bauman, müsse an den unterschiedlichen Ausgangspunkten der einzelnen in ihren individualisierten Lebenswelten ansetzen. Das ist schön gesagt, wird aber nicht konsequent durchgehalten. Zwar kann Bauman zwischen Slumbewohnern und Geschäftsleuten noch Machtgefälle entdecken, zwischen Männern und Frauen aber schon nicht mehr. Die privatisierte, ex-staatliche Gewalt scheint in diesem Fall nicht mehr vom Markt, sondern von feministischen Gruppen auszugehen. Nicht nur, das Bauman damit das zuvor kritisierte Paradigma der Soziologie wieder bedient, wonach die Schwächung des staatlichen Gewaltmonopols zu mehr Gewalt in der Gesellschaft führe. Darüber hinaus bezieht er politische Positionen, die sich in die Argumentationen des antifeministischen Backlashs einfügen. Am deutlichsten geschieht dies vielleicht in einer Besprechung von Foucaults „Sexualität und Wahrheit I“. Darin interpretiert Bauman die - von ihm mit Anführungszeichen versehenen - Kampagnen gegen „Vergewaltigung in der Ehe“ und gegen „sexuellen Mißbrauch von Kindern“ als (postmoderne) Form der Kontrolle und der Organisation des sozialen Raumes, die Foucaults (moderne) Ordnungsfabriken abgelöst hätten. Durch die feministischen Kampagnen würde ein soziales Klima geschaffen, das durch Mißtrauen und Verdächtigungen der Schwächung menschlicher Bindung diene. Damit übernimmt Bauman die Stellungnahmen konservativer FamilienpolitikerInnen, die „Bindung“ als mit family values positiv auffüllbare, neutrale Kategorie fassen, statt als soziale Machtbeziehung. „Bindung“ als solche positiv zu werten bedeutet gerade in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse ein Ausklammern sozialer Ungleichheiten. Bauman beteiligt sich an dieser Ausklammerung, indem er in bester Altherrenmanier gegen feministische Politik polemisiert: „Komplimente über Schönheit und Charme einer Arbeitskollegin zu machen wird heute in der Regel als sexuelle Provokation gebilligt, und das Angebot einer Tasse Kaffee gilt bereits als sexuelle Belästigung. (...) Die Folge von alledem ist die rasche Auszehrung  zwischenmenschlicher Beziehungen, die aller Intimität und Emotionalität entkleidet werden, und das Dahinwelken des Wunsches, überhaupt noch Beziehungen einzugehen und zu pflegen“. Zeitdiagnostisch ist also die außergewöhnliche Marktkritik gepaart mit dumpfen antifeministischen Ressentiments, so wie theoretisch die richtige Kritik am Kommunitarismus mit einer falschen Totalitarismusthese einhergeht. Bauman setzt in Zeitdiagnose und Theorie selbst am besten um oder ins Werk, was eigentlich mal sein Gegenstand war: „Das Ende der Endeutigkeit“.

Zygmunt Bauman: Unbehagen in der Postmoderne. Aus dem Englischen von Wiebke Schmaltz, Hamburger Edition, Hamburg 1999, 375 S., 58,-DM.
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in: ak – Analyse & Kritik, Nr. 543, Hamburg, 16.10.2009, S. 32.
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* „Praktische Negation“ und „Kontingenz mit Wurzeln“. Gemeinschaft bei John Holloway und Zygmunt Bauman: Die globalisierungskritische Bewegung als Wir und Neotribe
in: Böckelmann, Janine, Frank Meier und Claas Morgenroth (Hg.): Politik der Gemeinschaft. Zur Konstitution des Subjekts in der politischen Philosophie der Gegenwart, Bielefeld 2008 (transcript Verlag), S. 157-176.
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in: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, Berlin, Nr. 267, 48.Jg., Heft 4/2006, S. 530-535.
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in: Jungle World, Nr. 43, Berlin, 26. Oktober 2005, S. 23.
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in: Graswurzelrevolution, Nr. 235, Münster, Januar 1999, S. 13.
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Jens Kastner: Politik und Postmoderne. Libertäre Aspekte in der Soziologie Zygmunt Baumans, Münster 2000 (Unrast Verlag)
[mehr dazu beim Opens external link in new windowUnrast Verlag]