in: ak - Analyse und Kritik, Nr. 543, Hamburg, 16.10.2009, S 32

Die Tücken der Gemeinschaft
Zygmunt Bauman gegen Multikulturalismus und „kulturelle Linke“


Gemeinschaft ist für den Soziologen Zygmunt Bauman ein vielfältiges Phänomen. Es erfährt aktuelle Relevanz, weil immer mehr Menschen in materieller Unsicherheit leben und die Orientierung stiftenden Gewissheiten sich verflüchtigt haben. Beides wird in der Gemeinschaft ersehnt. Denn Sicherheit, so Bauman, sei unverzichtbar für ein glückliches Leben und nicht zuletzt auch eine Voraussetzung für politische Partizipation. Und Prekarisierung – hier bezieht Bauman sich auf seinen Kollegen Pierre Bourdieu wie auch auf seine frühere Studie „Die Krise der Politik“  –, führe zu politischer Entmündigung, „zur Unfähigkeit, Pläne zu machen und in die Tat umzusetzen.“ (54)

Baumans neues Buch „Gemeinschaft. Auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt“ liest sich  als Warnung vor den Irrwegen, die in der Suche nach und der Konstruktion von Gemeinschaften zu sehen sei. Bauman, der als Kritiker der vereinheitlichenden und Ordnung stiftenden Politik der Moderne bekannt geworden war, spricht diese Warnung ausdrücklich angesichts der eigens hervorgehobenen historischen Tatsache aus, dass es einen modernen „Krieg gegen die Gemeinschaft“ gegeben habe. Dieser sei im Namen der Befreiung des Individuums „von der Trägheit der Masse“ (36) geführt worden. Da sie aber diesen Krieg nun mal unwiederbringlich verloren habe, so Baumans Argumentation, könne Gemeinschaft heute schlicht nicht mehr das sein, was sie früher war, oder besser, als was Soziologen wie Ferdinand Tönnies sie für vormoderne Gesellschaften beschrieben haben: organisch, dauerhaft, zwar die Eigenen einengend und die Anderen ausschließend, aber eben auch Sicherheit spendend. Bauman beklagt im neuen Buch folglich – wie schon in diversen früheren seiner Bücher – dass heutige Gemeinschaften nur „,gemachte’ oder bloß imaginierte“ (18) und eben nicht organisch gewachsene seien. Ein kurzer Gedanke an Benedict Anderson, der den Begriff „imaginierte Gemeinschaften“ für den Nationalstaat entwickelt hatte, kann bereits andeuten, dass das, was imaginiert und konstruiert ist, keinesfalls weniger wirksam sein muss als vermeintlich Ursprüngliches und dass Bauman deshalb hier nach wie vor einem recht simplen Verständnis von Sozialkonstruktivismus aufsitzt.
Das ist allerdings nicht das einzige Problem mit dem streckenweise durchaus erhellenden Buch. Ein weiteres tut sich in Bezug auf die eingangs genannte Vielfalt des Phänomens auf. Als Gemeinschaften hatte Bauman in früheren Arbeiten bereits so unterschiedliche soziale Zusammenhänge wie die feministische Bewegung und die aus den „neuen Kriegen“ hervorgehenden „schwachen Staaten“ bezeichnet. Nun konzentriert er sich vor allem auf zwei Formen gegenwärtiger gemeinschaftlicher Formierung: Erstens die so genannte „Sezession der Erfolgreichen“ (63), die sich als geografische Abspaltung in gated communities vollzieht. Diese aber seien im Grunde, anders als ihre Selbstbezeichnung nahe legt, durch den selbst gewählten Mangel an Kontakten eher eine „Flucht vor der Gemeinschaft“ (72). Bauman beschreibt sie auch als eine Art „freiwillige Gettoisierung“ (142). Der Traum von der sicheren Nachbarschaft – und das ist vor allem in Bezug auf Baumans eigenes Werk interessant – sei der „uralte Traum der Reinheit“ (142). Die gleichen Worte hatte er in früheren Büchern dazu benutzt, um die vernichtenden Charakteristika der Gesellschaftskonzeption der Moderne zu beschreiben. Was in der Ablehnung aller möglichen Gemeinschaften schon immer anklang, hat sich bei Bauman inzwischen aber positiv auf deren (soziologisches) Gegenüber, die Gesellschaft, ausgewirkt. Gesellschaft und moderner Staat, das ist ihm nun – seitdem er nicht mehr von „Postmoderne“, sondern von „flüchtiger Moderne“ spricht – synonym und ein vergangener Pool von Mitteln, „mit denen sich wenigstens die empörendsten sozialen Ungerechtigkeiten korrigieren ließen.“ (138)
Gemeinschaften hingegen vertieften diese sozialen Ungleichheiten bloß. Dies versucht er zweitens an der so genannten „kulturellen Linken“ aufzuzeigen. Diese habe die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit aufgegeben und durch Kämpfe um (kulturelle) Anerkennung und um „Menschenrechte“ (bei Bauman immer in Anführungszeichen) ersetzt. Zu dieser auch schon von Richard Rorty geschmähten „kulturellen Linken“ gehören „ethnische Minderheiten“ ebenso wie nicht näher bestimmte VertreterInnen des Multikulturalismus. Hier ergibt sich das dritte Problem mit Baumans Buch, es besteht im Aufbau von Pappkameraden (die sich leicht und effektvoll abschießen lassen): Bauman schließt nicht nur selbst den Gedanken aus, dass Identitätspolitiken, political correctness und Multikulturalismus emanzipatorische Effekte haben könnten – er ignoriert schlicht all die Studien, die dies theoretisch in Erwägung gezogen oder auch jene, die es praktisch nachgewiesen haben.
Es trifft beispielsweise nicht zu, dass jede Form des Beharrens auf Anerkennung das Problem der Umverteilung verdrängt habe, wie Bauman behauptet (108). Will man auf eine Tendenz dahingehend hinweisen, dass die Forderung nach kultureller Anerkennung zu derjenigen nach sozialer Gleichheit in einem Spannungsverhältnis steht, sollte man eben gerade nicht alle Bewegungen und Theorieansätze verschweigen, die sich dieser Spannung ausgesetzt haben. Von der Schwarzen Emanzipationsbewegung in den 1960er Jahren über die radikaleren Spielarten des Feminismus bis zum Zapatismus und darüber hinaus existieren unzählige Beispiele, in denen beide Forderungen verknüpft wurden. Auch hätte ein Blick in die Studien des französischen Soziologen Michel Wieviorka oder in die des britischen Cultural Studies-Klassikers Stuart Hall hier schnell ein paar theoretische Gegenmodelle an die Hand gegeben. Lässt man all das aus, ist es relativ billig zu behaupten, Identitätspolitik oder auch nur die Organisierung in Gruppen von MigrantInnen in der Diaspora führe zu „Ausschließung und Abspaltung“ (126), die wiederum nur den Reichen diene.
In seiner Sorge um soziale Gerechtigkeit durchaus ehrenwert, ist Baumans Studie zur Gemeinschaft für die soziologische Debatte kein wirklicher Gewinn. Denn ein „Pamphlet gegen die Kulturlinke, das nicht hinter deren Errungenschaften zurückfällt“, wie die Wiener Philosophin Isolde Charim in ihrer begeisterten Besprechung in der Stadtzeitung Falter meinte, ist das Buch gerade nicht. In der politischen Auseinandersetzung kämpft Bauman – vom Standpunkt emanzipatorischer sozialer Bewegungen und linker Gesellschaftskritik aus betrachtet – an der falschen Front. Gemeinschaften, welche auch immer, mögen individuelle Freiheiten beschneiden, kulturelle Exklusionen produzieren und Geborgenheit nur vorgaukeln, Ursachen oder auch nur gegenwärtige Hauptauslöserinnen für soziale Ungleichheit sind sie jedoch sicher nicht.

Jens Kastner

Bauman, Zygmnut: Gemeinschaft. Auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt, Frankfurt a. M. 2009 (Suhrkamp Verlag).


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