in: ak – Analyse & Kritik, Nr. 530, Hamburg, 15.08.2008, S. 31.

Wider die Beharrungskräfte
Taugt die Theorie des Soziologen Pierre Bourdieu für linke Herrschaftskritik? Ein Sammelband lässt keinen Zweifel.

Die Soziologin Maria Andrea Loyola hatte Pierre Bourdieu einst damit konfrontiert, dass ihre Studierenden ihn nicht lesen wollten, und zwar mit der Begründung, sein Werk sei konservativ und antirevolutionär. Dieser Einwand gegen Bourdieus Schriften, den hier bloß ein paar angehende SozialwissenschaftlerInnen an der Universität von São Paolo vorgebracht hatten, wurde lange Zeit von vielen Linken geteilt. Diese Grundstimmung dem Werk des französischen Soziologen gegenüber ist allerdings längst nicht mehr hegemonial. Das zeigt zum Beispiel auch die Veröffentlichung des Sammelbandes „Bourdieu und die Linke“.

Zwar hatte Bourdieu sich zeitlebens für die Beharrungskräfte des Sozialen interessiert und sich vor allem die Frage gestellt, warum sich so wenig ändert. Dass dieses Interesse aber mit einer Befürwortung der untersuchten Stabilität und Zähigkeit sozialer Verhältnisse einhergehe, war von Anfang an ein Missverständnis. Spätestens wegen seines Engagements gegen die „neoliberale Offensive“ (Bourdieu) seit den 1990er Jahren, betrachtete auch die Linke Bourdieu als einen der ihren. Auch wenn das zeitliche Einsetzen und der inhaltliche Stellenwert des politischen Engagements Bourdieus umstritten sind, kann beispielsweise Franz Schultheis ziemlich plausible Linien nachzeichnen, die Bourdieu „von Algerien in die Banlieue“ als engagierten Soziologen porträtieren. Bourdieus Schaffen als Sozialforscher begann in den späten 1950er Jahren. Während in Algerien der Krieg um die Unabhängigkeit von der Kolonialmacht Frankreich tobte, untersuchte Bourdieu die kulturellen Folgen der kolonialen Herrschaft. In den Banlieue, den armen Vorstädten von Paris, entstand seine letzte große Studie, „Das Elend der Welt“. Schultheis sieht in Bourdieus Schaffen aber nicht nur die Entwicklung und Ausdifferenzierung einer engagierten Soziologie. Dass die Praxis, wie bei Bourdieu, selbst zum „Prüfstein der Theorie“ wird, nennt Schultheis die „kopernikanische Wende des Philosophierens“ überhaupt.

Wichtige Aspekte dieser praxisorientierten Theorie werden in dem Band diskutiert, in dem sowohl langjährige Bourdieu-ExpertInnen als auch AutorInnen aus dem Umfeld der Rosa-Luxemburg-Stiftung schreiben. Auf einer von dieser organisierten Tagung basiert das Buch. Alles in allem wird Bourdieu dabei als Herrschaftskritiker wieder entdeckt, als der er nicht immer gesehen wurde. Margareta Steinrücke leitet aus Bourdieus Theorie gar ein „Plädoyer für eine realistische Revolutionsstrategie“ ab. Und Irene Dölling findet in Bourdieu einen Verbündeten wenn es darum geht, Geschlechterverhältnisse als grundlegende Form der Herrschaft zu beschreiben. Eine Thematisierung, die trotz vierzig Jahre zweiter Frauenbewegung längst nicht selbstverständlich ist innerhalb der Linken – erst recht nicht, wenn mit diesem Wort die gleichnamige Partei gemeint ist, wie die Einleitungszitate in Döllings Text eindrücklich belegen. Aber auch die Sozialwissenschaften tun sich nach wie vor schwer, Geschlecht als grundlegenden Modus zu begreifen, „der soziale Ungleichheit legitimiert und (re-)produziert.“ (Dölling) Bourdieu hingegen hatte in „Die männliche Herrschaft“ (1998, dt. 2005) die gesellschaftliche Einteilung in Männer und Frauen, die Zuweisung von Tätigkeiten an diese Einteilung sowie alle auf dieser Klassifikation beruhenden Einteilungen (wie oben/unten, hell/dunkel, …) als Formen symbolischer Gewalt beschrieben. Eigene Konsequenzen allerdings, das sei nur nebenbei bemerkt, hat Bourdieu aus dieser Einsicht nicht sonderlich viele gezogen. Sei es in seinen Studien zu den Gebrauchsweisen kultureller Güter, zum Museumsbesuch oder zur Universität, eine genderkritische Perspektive sucht man darin vergebens.

Bourdieu aber sei es immerhin zu verdanken, dass die Sozialwissenschaften sich wieder – nach einer langen, von Ulrich Beck geprägten Phase, in der der soziale Raum „jenseits von Stand und Klasse“ imaginiert wurde – mit Klassenverhältnissen auseinandersetzten. Diese These vertritt jedenfalls Beate Krais. Sie problematisiert den Bourdieu´schen Klassenbegriff mit dem von Marx. Dabei beschreibt sie die Einführung des Habitus-Konzeptes als Ausweg aus einem zentralen Marx´schen Dilemma: Warum verhalten sich die Leute, die auf dem Papier eindeutig als Klasse auszumachen sind, in Wirklichkeit nicht als Klasse? Bourdieu hat den Habitus einmal als „Leib gewordene Geschichte“ beschrieben. Mit dem Habitus lassen auch die Lebensführungen, alltägliche Praktiken untersuchen, die eben nicht in der Klassenlage von Individuen aufgehen oder sich davon ableiten lassen. Das ist auch der Grund für Bourdieus ausführliche Beschäftigung mit kulturellen Praktiken. Krais hebt zu Recht hervor, dass diese Auseinandersetzung mit Kultur nicht „den kulturellen Phänomenen oder den symbolischen Ordnungen an sich“ gilt. Was Bourdieu daran interessiere, seien „die Herrschaftsverhältnisse, die in unseren ‚Erkenntnisinstrumenten’ und praktischen Klassifikationssystemen immer mit transportiert und so auch immer in unserem Handeln wirksam werden.“

Als Konsequenz daraus beschreibt Joseph Jurt es als zugleich ethische und ästhetische Herausforderung für und nach Bourdieu, diejenigen zu Wort kommen zu lassen, „auf die man nicht hört.“ Wobei sich Bourdieu hier nicht in der ambivalente Tradition bevormundender Intellektueller zum Sprachrohr der Unterdrückten machen will. In „Homo acamdemicus“ (1984, dt. 1988) hatte er schon die im und am Mai 1968 gefeierte „Wortergreifung“ kritisiert: Gegangen sei es dabei schließlich doch eher um das Ergreifen der Worte der anderen, „oder vielmehr: ihres Schweigens.“ Mit Bourdieus Kritik an den Intellektuellen und seiner eigenen Verortung als „kollektiver“ Intellektueller – statt als „totaler“ wie Sartre oder „spezifischer“ wie Foucault – beschäftigen sich die Beiträge von Rainer Rilling, Lothar Peter und Louis Pinto.

Zwei Texte von Bourdieu selbst runden den durch und durch guten Band ab. Erstaunlich konfliktfrei wird somit auch die ausführlich von Manfred Lauermann behandelte Frage beantwortet: „Was kann die Linke mit Bourdieus Ablehnung des Marxismus anfangen?“ Die Antwort ist offensichtlich: Viel. Denn Bourdieus Theorie, das wird nicht nur im genannten Beitrag von Beate Krais deutlich, erweist sich in vielen Punkten auch als Weiterentwicklung marxistischer oder sonstwie linker Problemstellungen. Das lässt darauf schließen – und sicherlich auch hoffen –, dass nicht nur die politisierten Studierenden an der Universität von São Paolo sich künftig die theoretischen Einsichten Bourdieus aneignen werden.

Jens Kastner

Effi Böhlke und Rainer Rilling (Hg.): Bourdieu und die Linke. Politik – Ökonomie – Kultur, Berlin 2007 (Dietz Verlag), 319 Seiten, 24,90 €.




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