in: ak – analyse & kritik, Nr. 514, Hamburg, 16. Februar 2007, S. 13.

Theorie und Kampf
Zwischen der politischen Arbeit und der Sozialtheorie Pierre Bourdieus besteht mehr als ein beispielhafter Widerspruch

„Nein, Bourdieus Tod“, ließ der Schriftsteller Michel Houellebecq kurz nach diesem Ereignis die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung wissen, „ist kein großer Verlust.“ Linke Intellektuelle in aller Welt und Teile der globalisierungskritischen Bewegungen sahen das allerdings anders. Denn als der 1930 geborene Pierre Bourdieu am 23. Januar 2002 an Krebs starb, gab es nicht bloß einen bekannten Soziologen weniger. Wie nur noch wenige seiner KollegInnen hatte sich Bourdieu in den letzten zehn Jahren seines Schaffens immer wieder auch ins politische Tagesgeschehen eingemischt. Sowohl als Sozialwissenschaftler wie auch als politischer Aktivist stand Bourdieu für eine fundamentale Kritik von Machtverhältnissen und Herrschaft. Im Kampf gegen das, was er den Neoliberalismus, die „neoliberale Offensive“ oder auch schon mal etwas pathetisch die neoliberale „Höllenmaschine“ nannte, scheute er auch nicht davor zurück, Widersprüche zu seiner eigenen Theorie der sozialen Welt aufkommen zu lassen. Und das passierte gleich in mehrerlei Hinsicht. Diese Widersprüche, die sich zwischen seiner als wertfrei verstandenen Theorie und seinen späten, aber vehementen Interventionen in aktuelle Kämpfe und Debatten ergaben, können als geradezu paradigmatisch betrachtet werden: In der postfordistischen Ära, oder eben im Neoliberalismus, sieht sich nicht nur emanzipatorisches politisches Handeln mit diesen Problemen konfrontiert, sondern ganz allgemein auch intellektuelle Tätigkeit. An drei Themen, die in Bourdieus Soziologie als auch in seiner politischen Arbeit eine zentrale Rolle spielen, kann das verdeutlicht werden: Kultur, Intellektuelle und Staat.

Kultur: Distinktionswerkzeug vs. antikommerzieller Behälter
In seinem Hauptwerk Die feinen Unterschiede untersucht Bourdieu den kulturellen Konsum als Sphäre der Ausübung von Herrschaft. Er beschreibtdie legitime Kultur einer typischen mitteleuropäischen Klassengesellschaft als ein Herrschaftsprodukt, „dazu bestimmt, Herrschaft auszudrücken und zu legitimieren“. Kulturelle Werke sind im Kontext der Feinen Unterschiede radikal gesellschaftlich bestimmt, d. h. die Produktion, die Rezeption, der Konsum und die Nutzung von kulturellen Gütern wird nicht als Ausdruck oder Erfüllung eines gesamtgesellschaftlichen Wirkens begriffen, sondern immer schon als Werkzeug klassenspezifischer Unterscheidungsarbeit gefasst. Das Angebot an kulturellen Gütern ist hier also nicht das Ergebnis der frei waltenden Kräfte einer Gesellschaft, sondern wird verstanden als Ausdruck eines symbolischen Zwangs: „in einem Kulturprodukt (...) hat Geschmack sich bereits objektiviert“. In seinem erst 1999 auf Deutsch erschienenen Buch Die Regeln der Kunst beschreibt er dann, wie gerade die Werke von KünstlerInnen und SchriftstellerInnen von gesellschaftlichen Positionen und Dispositionen abhängen – und gerade nicht, wie nach wie vor weithin angenommen, von Talent, Inspiration oder gar „Genie“.

Im Zusammenhang des anti-neoliberalen Kampfes stimmt Bourdieu hingegen das alte Lied vom sozial unabhängigen Kunstwerk an, welches als anti-kommerzieller Behälter für die universellen Werte einer ganzen Zivilisation fungiert: Während das neoliberale Kapital darauf drängt, alle Lebensbereiche den Prinzipien des Geschäfts unterzuordnen und auch an der Herabsetzung der Kultur zu einer Handelsware arbeitet, stellt diese Kultur ein wichtiges Bollwerk des antikapitalistischen Kampfes dar (und ein Bollwerk funktioniert als solches bekanntlich um so besser, je homogener es konstruiert ist). Heute gehe es um den „Kampf zwischen einer kommerziellen Macht, die darauf gerichtet ist, auf die ganze Welt jene partikularen Interessen des `Geschäfts´ und derer, die es beherrschen, auszudehnen, und einem Widerstand der Kultur, der auf der Verteidigung jener Allgemeingültigkeit der kulturellen Werke beruht, die von der staatenlosen Internationale ihrer Schöpfer hervorgebracht werden“.
Der in Die feinen Unterschiede herausgearbeitete Zusammenhang von Kultur und sozialer Ungleichheit droht damit in der Attacke gegen den Neoliberalismus hinter einen Kultur-Begriff zurückzutreten, der es kaum mehr zuläßt, grobe Unterschiede wahrzunehmen. Die sympathische Verteidigung von Bach, Mozart, dem unabhängigen französischen Film und historischer Innenstädten geht mit einer Rücknahme theoretischer Erkenntnisse einher. Gewinnbringend wäre es, im Anschluss an Bourdieus Theorie danach zu fragen, wie der neoliberale Kapitalismus die schon immer vorhandenen Herrschaftseffekte der Kultur verändert hat oder für sich nutzbar macht. Mit einem Kulturbegriff, der pauschal bestimmte, für positiv und universell gehaltene Werte einer Gesellschaft beherbergt, ist das kaum möglich.

Intellektuelle: Sozialstrukturelle Eingebundenheit vs. Freiheit gegenüber dem Staat
Bourdieu hat den Intellektuellen innerhalb seiner Theorie große Beachtung geschenkt. In erster Linie beschreibt er sie in ihrer sozialstrukturellen Positionierung im Feld sozialer Klassen. Dabei geht es ihm vor allem darum, das Sartresche Modell eines Intellektuellen, der jeder gesellschaftlichen Eingebundenheit enthoben und nicht zuletzt deshalb Widersacher jedweder Macht ist, als Illusion zu verwerfen. In Homo academicus beschreibt er die universitären Machtkämpfe auch als Ursache für die Revolte von 1968. Das greift zwar etwas zu kurz, da es politische Inhalte zu sehr ausklammert. Die gründliche Zerstörung des Bildes von der Universität als machtfreiem Raum hat an Plausibilität jedoch kaum eingebüßt.
Angesichts einer zeitgenössischen Form intellektuellen Wirkens, die im Dienste des Neoliberalismus agiert und deren VertreterInnen Bourdieu „negative Intellektuelle“ nennt, scheint er sich jedoch dem vormals verworfenen Modell wieder anzunähern. Gegen die „Meinungstechnologe(n)“, die sich hervortun mit einem „Kult risikoloser Tabuverletzungen“ und damit letztlich die reaktionäre Karikatur des ehemals zwar geschönten, aber dennoch moralisch integeren Konzeptes vom Intellektuellen sind, formuliert Bourdieu in Gegenfeuer einen alten Anspruch neu: Von den Intellektuellen hat gesellschaftlich und im Dienste demokratischer Ideale vor allem „kritische Gegenmacht“ auszugehen. In Abgrenzung zu dem von ihm kritisierten „negativen Intellektuellen“ charakterisiert Bourdieu in Gegenfeuer sein Gegenbild: Der „positive“ Intellektuelle zeichne sich aus durch „die Freiheit gegenüber der Staatsmacht, die Kritik der hervorgebrachten Ideen, die Verwerfung simplifizierender Scharz-weiß-Schemata und die Rekonstruktion der anvisierten Probleme in ihrer ganzen Komplexität“. Die gesellschaftliche Stellung des oder der Intellektuellen wird dabei nicht reflektiert. Die Bourdieusche Theorie hingegen zeichnet sich in diesem Punkt dadurch aus, die Intellektuellen als involviert in die Auseinandersetzungen der sozialen Klassen sowie in das Feld der kulturellen Produktion, also relational zu fassen. Es scheint, als würde die selbstreflexive Version aufgegeben, um politische Handlungsfähigkeit zu erlangen. Ob eine verleugnete „Leib gewordenen Geschichte“ (Habitus) die Schlagkraft gegen die „fleischgewordene Höllenmaschine“ (Neoliberalismus) erhöht, muss allerdings fraglich bleiben.
In der Rede von den „staatenlosen Schöpfern“ äußert sich also schon eine Einschätzung der Rolle des Staates, die zumindest fraglich ist, und die Bourdieu in seinen soziologischen Schriften zumindest in Ansätzen besser analysiert hat.

Staat als Monopol: Symbolische Gewalt vs. emanzipatorische Werte.
In Praktische Vernunft warnt Bourdieu davor, beim Nachdenken über den Staat staatliches Denken zu übernehmen. Es bestünde immer die Gefahr, Denktraditionen, welche der Staat produziert habe, zu übernehmen und auf diesen selbst anzuwenden. Eine grundlegende Wahrheit über den Staat würde damit verkannt, nämlich dessen Definitionsmacht. Weil der Staat laut Bourdieu nicht nur als Monopolisierung physischer Gewalt – hier erweitert er die bekannte Definition Max Webers –, sondern als Ergebnis einer Konzentration verschiedener Kapitalsorten begriffen werden muss, kommt ihm eine besondere Rolle zu bei „der sozialen Konstruktion der Konstruktionsprinzipien der sozialen Welt“. Während der Staat sich selbst mit „allem Anschein der Natürlichkeit“ präsentiert, befragt Bourdieu ihn nach seinem Beitrag zur Setzung jener Setzungsprinzipien.

In seinen politischen Schriften, die sich gegen den Neoliberalismus und für den Erhalt des Sozialstaates stark machen, ist es weniger der Staat, als vielmehr der Neoliberalismus, der mit Hilfe der Ideologie der Globalisierung sich im „Schein der Unausweichlichkeit“ als quasi natürliche Entwicklung darstellt. Selbstverständlich ist es grundsätzlich möglich, dass beide – Staat und Neoliberalismus – sich mit der Naturalisierungsideologie wappnen. In der konkreten Gegenüberstellung aber scheint der Staat die Täuschung über sein Wesen abzulegen und stattdessen als Hüter zivilisatorischer Errungenschaften „vor allem im Hinblick auf den Schutz gesellschaftlicher Rechte“ interessant zu sein – und betrachtet zu werden. Indem er den Staat nunmehr für den Treuhänder „aller mit der Idee einer Öffentlichkeit verbundenen Werte“ hält, der im Kampf gegen den Neoliberalismus „die Verteidigung des Allgemeinwohls in die Hand“ nimmt, scheint Bourdieu die soziologisch angemahnte Distanz zum Gegenstand verloren zu haben. Aus dem Monopol an symbolischer Gewalt ist – im Dienste des Kampfes gegen den Neoliberalismus – das Monopol emanzipatorischer Werte geworden.
Die eigene Warnung missachtend, unterliegt Bourdieu dem feuilletonistischen Missverständnis (bzw. der sozialdemokratischen Ideologie), dass der Staat, weil er sich gegenwärtig in bestimmten Sektoren als Manifestation sozialer Errungenschaften präsentiert, diese auch hervorgebracht habe: „In jedem Land ist der Staat ein Teil des Weges gesellschaftlicher Eroberungen in die Wirklichkeit“. Mit seinem Eintreten für den Staat beteiligt sich Bourdieu plötzlich an etwas, das er in Praktische Vernunft noch deutlich distanziert beschreibt, und zwar an der „langen Arbeit der symbolischen Konstruktionen (...), an deren Ende die Erfindung und Durchsetzung der offiziellen Darstellung des Staates als Ort der Allgemeinheit und des Dienstes am allgemeinen Interesse steht“.

Sozialtheorie und Sozialdemokratie
Am häufigsten wurde Bourdieus Sozialtheorie wohl wegen ihres angeblichen Determinismus und wegen ihrer fehlenden ökonomischen Grundlage kritisiert. Die erste Kritik erscheint allerdings angesichts eines erstarkenden Einflusses der „Soziobiologie“ auf die Sozialwissenschaften besonders absurd. Denn Bourdieu ging es gerade darum, „Struktur“ und „Praxis“ nicht gegeneinander auszuspielen, sondern zwischen ihnen zu vermitteln. Warum sozialer Wandel stattfindet und warum nicht, ist demnach aber immer gesellschaftlich und nicht aus Genen oder Hirnrinden zu erklären. Die zweite Hauptkritik trifft da schon eher und spiegelt sich unzweifelhaft in seiner positiven Staatsauffassung. Zumindest politisch kann ihm aber auch hier die Ausrichtung von Engagement und Forschung zu Gute gehalten werden: Während in der Soziologie hinsichtlich sozialer Ungleichheit mittlerweile nicht selten gefragt wird, wie viel eine Gesellschaft davon „braucht“ (Christian Fleck), stand Bourdieus Schaffen eindeutig im Zeichen ihrer Abschaffung. So widmete er nicht umsonst sein letztes großes soziologisches Werk, die kollektiv mit anderen WissenschaftlerInnen erarbeitete Studie Das Elend der Welt, jenem Milieu, aus dem er selber kam: Den kürzlich erst von führenden Sozialdemokraten negierten „Unterschichten“. Gerade denen, die niemals an die Möglichkeiten seiner eigenen Karriere bis zum Professor am Collège de France heranreichen werden, galten seine Sympathien und Bemühungen. Und bei aller Hoffnung auf Sozialdemokratie und Sozialstaat plädierte er für eine – zwar merkwürdig eurozentrisch gedachte, aber unabhängige – neue Gewerkschaftsbewegung. Auch in anderer Hinsicht war er gegenüber sozialdemokratischer Politik durchaus skeptisch: So riet er in einem Interview mit der Jungle World auch den MigrantInnen-Initiativen, unabhängig zu bleiben und „sich nicht an sozialdemokratische Gruppen (zu) halten, die sie zunächst benutzen und dann fallen lassen“. Bei aller Zwiespältigkeit sollte eins also feststehen: Houellebecq hat, und zwar definitiv, Unrecht.

Jens Kastner



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