in: Frankfurter Rundschau, 10.09.2001.

Feueralarm
Pierre Bourdieu über die Notwendigkeit einer neuen antirasistischen Bewegung

Wenn es um den Staat ginge, hatte der Soziologe Pierre Bourdieu einmal gesagt, könne man gar nicht genug zweifeln. Die theoretischen Zweifel aber finden sich heute, im Kampf des kritischen Intellektuellen gegen den Neoliberalismus, in einer paradoxen Situation wieder. So sieht sich Bourdieu mittlerweile „dazu gezwungen (...), Dinge zu verteidigen, die man eigentlich verändern möchte, etwa den Nationalstaat“. Die Rolle des Staates im neuen ökonomischen Regime bleibt auch in der zweiten Sammlung mit politischen Reden und Aufsätzen des neben Noam Chomsky wohl prominentesten Kritikers der neoliberalen Globalisierung widersprüchlich.
Bourdieu konstatiert erneut einen allgemeinen Rückzug des Staates von seinen ökonomischen und sozialen Steuerungsfunktionen. Seine alte oder vermeintlich eigentliche Rolle wird dabei beschworen, nämlich die gesellschaftlich erkämpften Errungenschaften zu beherbergen. Im direkten Angesicht der neoliberalen Bedrohung wird aus der gemütlichen Herberge auch schon mal eine universale Verteidigungswaffe und der Staat zu einer „Schutzmacht der Interessen kulturell und ökonomisch mittelloser, beherrschter Bevölkerungsgruppen (etwa Frauen und stigmatisierter Ethnien)“ zurechtgeschrieben. Dann fällt Bourdieu aber auch auf, dass gerade die Nationalstaaten es sind, die „all die ökonomischen (Deregulierungs-) Maßnahmen eingeleitet haben“, die wiederum insbesondere die genannten Bevölkerungsgruppen als erste und besonders hart treffen. Einen „Blickschutz“ würde der Staat diesbezüglich abgeben, der die von ihm selbst abgegebenen Kompetenzen auch noch verschleiere. Blickschutz? Schutzmacht? Schützenhilfe? In dem Bemühen, den Staat nicht bloß als Instrument der herrschenden Klasse zu begreifen, changiert Bourdieu zwischen dem Vorwurf der „Untätigkeit“ in wirtschaftlichen Belangen und der Anklage an die sozialdemokratischen Regierungen, jetzt Neoliberalismus statt Keynesianismus zu betreiben. Keine der politischen Polemiken Bourdieus reicht jedoch an die ausgefeilten Analysen seiner eigenen soziologischen Theorie heran. Bezüglich der Rolle und Funktion des Staates herrscht Uneinigkeit zwischen Bourdieu als politischem Aktivisten und dem Soziologen Bourdieu. In der Theorie als Monopolist physischer und symbolischer Macht beschrieben, käme der Staat jedenfalls darin als Schutzbunker gegen neoliberale Invasionen nicht in Frage.
Um sich mit den Zweifeln nicht weiter aufzuhalten, geht es in „Gegenfeuer 2“ auch mehr um soziale Bewegungen als um die Ungereimtheiten des Etatismus. Denn für eine grundlegende Veränderung bedarf es Bourdieu zufolge nicht in erster Linie des Staates. Die Durchsetzung bestimmter Politiken müsse betrieben werden von einer europäischen Sozialbewegung. Denn, das lehre die Sozialgeschichte, keine Sozialpolitik ohne soziale Bewegung. Diese allerdings müsse sich sowohl auf die Gewerkschaften, als auch „auf den Staat stützen“, allerdings während und indem sie beide dabei transformiert. Emphatisch spricht Bourdieu für einen „kämpferischen Syndikalismus“ einer internationalistischen, antiautoritären, europäischen Gewerkschaftsbewegung, zu deren Entfaltung es weniger organisatorischen Aufwandes als viel mehr eines „Sinneswandels“ bezüglich der Politikform bedürfe. Eine solche Bewegung, bemerkt  er treffend, „muss also erst noch erfunden werden“.
Diese Erfindung stellt Bourdieu sich antirassistisch vor. Der Internationalismus der neuen Bewegung müsse auf die Tatsache reagieren, dass die Situation von Immigranten in erster Linie als Problem der inneren Sicherheit thematisiert und betrachtet wird. Die „Wiedereingliederung der Immigranten“ gehört für Bourdieu zu den ersten Anliegen der erwünschten Bewegung, um gegen die herrschenden Wirtschaftskräfte vorzugehen. Nicht zuletzt diese hätten auch die Migration verschuldet. Sich an diesem Punkt der organisatorischen, logistischen und ideologischen Aufgaben des Staates zu erinnern, hätte dem Gegenfeuer sicher nicht geschadet. Denn indem sie diese staatlichen Regulierungen von Politik und Öffentlichkeit miteinbezöge, würde die politische Kritik sich wieder auf theoretisch gesicherten Füßen bewegen.

Bourdieu, Pierre: Gegenfeuer 2. Für eine europäische soziale Bewegung, Konstanz 2001 (UVK), 127 S., 15,90 DM.


Mehr zu Pierre Bourdieu:

Wer wie wohnt
Christine Resch hält Pierre Bourdieus Thesen über die 'feinen Unterschiede' für überholt
in: Jungle World, Berlin, Nr. 22, 31. Mai 2012, dschungel S. 10-11.
[Opens external link in new windowArtikel in Jungle World lesen]

Die koloniale Erfahrung
Wie der Soziologe wurde, was er war: Pierre Bourdieus 'Algerische Skizzen'

in: Jungle World, Nr. 33, Berlin, 19. August 2010, dschungel S. 10-11.
Artikel in [Opens external link in new windowJungle World lesen]

Bourdieu und die Bilder
Tagungsbericht zu Representation of the “Other”. The Visual Anthropology of Pierre Bourdieu. Teil 1, 6. Juli 2007, Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig und 7. Juli 2007, KW Institute for Contemporary Art Berlin, in: translate. transversal webjournal, 07/2007, Wien.
[Opens external link in new windowArtikel in translate lesen]

Das Kunstfeld macht die KünstlerInnen
in: artmagazine, Wien, 6.5.2007.
[Opens external link in new windowArtikel in artmagazine lesen]

Theorie und Kampf
Zwischen der politischen Arbeit und der Sozialtheorie Pierre Bourdieus besteht mehr als ein beispielhafter Widerspruch
in: ak – analyse & kritik, Nr. 514, Hamburg, 16. Februar 2007, S. 13.
[Opens internal link in current windowArtikel lesen]