in: MALMOE, Nr. 59, Wien, Mai 2012, S. 29.
Im leidenschaftlichen Überschwang
Die kunst- und kulturtheoretischen Schriften von Antonio Gramsci wurden jetzt neu aufgelegt
Über Geschmack lässt sich nicht nur streiten. Er ist nämlich alles andere als eine ganz persönliche Angelegenheit und lässt sich dementsprechend milieuspezifisch analysieren. Dermaßen gruppenzugehörig, sind die Geschmäcker dann aber nicht nur mehr Gegenstand der Sozial- und Kulturwissenschaften. Sondern auch der Politik. Fragen drängen sich dann auf wie diese: „Wie den melodramatischen Geschmack des kleinen Mannes in Italien bekämpfen, wenn dieser sich der Literatur, besonders aber der Dichtung nähert?“ Gestellt hat sie Antonio Gramsci (1891–1937), Mitbegründer und Stratege der Kommunistischen Partei Italiens. In den Kulturwissenschaften, in denen es Gramsci mittlerweile auch zum Klassiker gebracht hat, klammert man Fragen dermaßen normativer Art gerne aus oder überliest sie. Dass das nicht der Intention des marxistischen Autors entspricht, ist jetzt wieder für alle überprüfbar: In der aktuellen, von Ingo Lauggas besorgten Ausgabe von Gramscis wesentlichen kunst- und kulturtheoretischen Schriften wird überdeutlich, dass dessen Ansprüche, zu erklären und zu verändern, immer Hand in Hand gehen. Alle Texte stammen aus den berühmten „Gefängnisheften“, die Gramsci zwischen 1926 und 1936 unter den schweren Bedingungen der Haft im faschistisch regierten Italien verfasste. Darin sammelte er Gedanken, skizzierte Thesen und setzte sich, so der überwältigende Leseeindruck, mit allem auseinander, was er in die Hände bekam: Die Kultur- und insbesondere die Literaturgeschichte Italiens sind dabei ebenso präsent wie die zentralen kulturpolitischen Debatten seiner Zeit und der Kulturkonsum der „kleinen Leute“. All seine Ideen entwickelt er nicht abstrakt, sondern direkt am Material. Und für Gramsci gehörten diese Materialien wie die Themen zusammen. Um das Denken seiner Zeit zu verstehen, waren ihm Lese- und Freizeitgewohnheiten der einfachen Menschen ebenso relevant wie die Thesen von Intellektuellen wie etwa jenen des einflussreichen humanistischen Philosophen Benedetto Croce (1866–1952), auf den er sich immer wieder bezieht.
Verstehen, um verändern zu können: Anders als bis heute viele seiner GenossInnen in der Linken, setzte Gramsci nicht voraus, dass die Stellung im Produktionsprozess bestimmte Einstellungsmuster quasi automatisch hervorbringe. Der „kleine Mann“ mit seinem „melodramatischen Geschmack“ denkt und fühlt nicht revolutionär oder widerständig, nur weil er arm oder Proletarier ist. Und das ist Gramsci zufolge ein politisches Problem. Schließlich ging es ihm um den „Kampf für eine neue Kultur“, um „neue Empfindungs- und Sichtweise der Wirklichkeit“. Immer wieder zu betonen, dass populäre Groschenromane und religiöse Vorstellungen dabei ebenso eine Rolle spielen wie die so genannte Hochkultur und daher politisch ernst zu nehmen seien, ist sicherlich Gramscis großes Verdienst. Der Cultural Studies-Theoretiker Stuart Hall hob deshalb 1986 in einem Aufsatz hervor, dass und wie Gramsci „neue Dimensionen von Macht und Politik in den Vordergrund rückt, neue Bereiche, in denen Kämpfe statt finden und Antagonismen herrschen: das Ethische, das Kulturelle, die Moral.“ Im Kampf für eine neue Kultur orientierte sich Gramsci aber nicht an Croce, sondern am Literaturhistoriker Francesco De Sanctis (1817–1883). Schon dieser habe gezeigt, dass „die Kritik der Gewohnheit, der Gefühle und der Auffassungen von der Welt mit der ästhetischen oder rein künstlerischen Kritik im leidenschaftlichen Überschwang [...] verschmelzen“ müsse. An diesem Anspruch auf Verschmelzung, dem Zusammenführen von „soziologische(n) mit ästhetischen Problemstellungen“ (Lauggas), könnten sich Kunst- und Literaturkritik einerseits und Gesellschaftskritik andererseits getrost bis heute messen lassen.
Die beiden Gefängnishefte, aus denen die jetzt neu versammelten Texte stammen, decken „ein Themenspektrum ab,“ schreibt der Herausgeber, „das von Mentalitätsgeschichte über epistemologische, philosophische und ökonomische Fragestellungen bis zur Staatstheorie reicht.“ (Lauggas) Mehr noch, würde ich sagen: Sie vermitteln einen Eindruck davon, was die einen mit den anderen Themen verbindet. In diesen Verknüpfungen entsteht dann ein Eindruck davon, was die viel zitierte „kulturelle Hegemonie“ (Gramsci) wirklich ausmacht.
Was aber tun gegen die Vorliebe manch Angehöriger der unteren Klassen für das Soaphaftige und Melodramatische? Ganz kommunistischer Kader, scheut Gramsci schließlich auch vor einfachen Antworten nicht zurück: „Man bekämpft diesen Geschmack hauptsächlich auf zweierlei Art: mit unerbittlicher Kritik daran sowie dadurch, daß Gedichtbände verbreitet werden, die nicht in ‚erhabener’ Sprache geschrieben oder in solche übersetzt sind und in denen die ausgedrückten Gefühle nicht rhetorisch oder melodramatisch sind.“
Jens Kastner
Antonio Gramsci: Literatur und Kultur. Gramsci-Reader. Herausgegeben im Auftrag des Instituts für kritische Theorie von Ingo Lauggas. Argument Verlag, Hamburg 2012.
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