in: die bildende. Die Zeitung der Akademie der bildenden Künste Wien, Nr. 04, Dezember 2008, S. 33-34.

Ansichtssache Virtuosität

Von Jens Kastner

Von meinem Schreibtisch aus sehe ich Schiller in den Nacken. In „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ schrieb dieser, dass Gestalt und Leben zwei verschiedene Dinge seien, die nicht ineinander aufgehen. Die eine sei Gegenstand des Formtriebes, das andere der des sinnlichen Triebes. Neu am Institut, schien mir der Blick nach draußen die beste Möglichkeit, für die Rubrik „Aus den Instituten“ zu berichten. Und dabei soll es nicht um Jacques Rancière gehen, der die genannte Schiller-Stelle in letzter Zeit gerne zitiert. Sondern um die Frage, was möglicher Weise rauskommt bei der ästhetischen Erziehung des Menschen. Eine Frage, die das Lehren am Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften zumindest implizit begleitet, die aber auch draußen diskutiert wird, jenseits von Schillers Rückansicht.

Gegenwärtig lassen sich grob zwei Positionen ausmachen, zwei unterschiedliche Antworten auf diese Frage, die mit demselben Begriff operieren, die also in beiden Fällen gleich lauten, aber doch recht Verschiedenes bedeuten: Was rauskommt ist Virtuosität.
Paolo Virno bestimmt seinen Begriff von Virtuosität ausgehend von „den besonderen Fähigkeiten einer ausführenden KünstlerIn“, bei der das Ausführen (und nicht das Werk) das Entscheidende ist. Die Virtuosität bedarf nicht nur der Handlung ohne Produkt, sondern auch der Präsenz anderer, die sie bezeugen. Virtuos ist aber letztlich nicht nur das Tun des Künstlers/der Künstlerin, sondern jedes beliebige Sprechen: Jede Äußerung ist eine virtuose Leistung ohne Werk, weil sie kognitive und kommunikative Fähigkeiten vereint. Zwar geht es Virno hier um die Bestimmung einer anthropologischen Prinzips, dies aber stellt er in den Kontext einer Zeitdiagnose. Das besondere an diesen virtuosen, Kognition und Kommunikation verbindenden Fähigkeiten ist nämlich, dass sie gegenwärtige Arbeitsverhältnisse bestimmen. Als Theoretiker in der Tradition der italienischen Arbeiterautonomie (Operaismus) untersucht Virno die Veränderungen kapitalistischer Vergesellschaftung und stellt fest: Arbeit ist nicht mehr in erster Linie auf bestimmte Ziele ausgerichtet, sondern auf die „Variation und Intensivierung der Kooperation“. In den Gegenwartsgesellschaften erscheint das kommunikative und kognitive Vermögen „des menschlichen Wesens“ selbst – der General Intellect – laut Virno „als Fortführung der Lohnarbeit, System von Hierarchien und tragende Achse des Mehrwerts.“

Auch Pierre Bourdieu sieht in den KünstlerInnen virtuose Prototypen. Die Virtuosität ist aber auch bei Bourdieu weniger eine Eigenschaft von einzelnen KünstlerInnen, als vielmehr eine der Schnittstellen zwischen der künstlerischen Produktion und dem Konsum kultureller Güter. Wie bei Virno kommt es hier auf das Handeln wie auch auf das Bezeugen dieses Handelns gleichermaßen an: Künstlerisches Schaffen hat immer auch die KunstkennerInnen mit hervorgebracht, also Leute, die einen Teil ihrer Zeit mit der Betrachtung von Kunst verbringen, ohne ein anderes, außerkünstlerisches Ziel damit zu verbinden. Sie bilden dabei einen Geschmack aus, der sich und sie von anderen unterscheidet. Bei Bourdieu ist Virtuosität an die klassifizierende (und Klassen reproduzierende) Funktion des Geschmacks gebunden. Der virtuoso betreibt die notwendige und permanente Verfeinerung des Geschmacks, das heißt, er oder sie ist eine Person, die fähig ist, eine von Notwendigkeiten und den niederen „materiellen Zwecksetzungen des vulgus befreite Lebenskunst an den Tag zu legen.“ Zunächst nur auf die Bilder geworfen, weitet sich sein oder ihr unterscheidender Blick auf die gesamte soziale Welt aus. Geschmack wird zur „Grundlage alles dessen, was man hat“ (z. B. Besitz und Gruppenzugehörigkeit). Ausgebildet wird solch ein Geschmack selbstverständlich besonders in den Institutionen des Kunstfeldes.
Während vor dem Hintergrund postoperaistischer Theorie davon auszugehen ist, dass sich die Virtuosität des „Modell KünstlerIn“ verallgemeinert hat, bleibt sie bei Bourdieu das Privileg weniger. In beiden Formen aber, als Fähigkeit aller wie auch als Privileg weniger, hat die Virtuosität eine besondere gesellschaftliche Bedeutung: im postoperaistischen Argumentationsrahmen, weil gesellschaftliche Wertschöpfung vom Werksgelände des Fordismus auf die „gesellschaftlichen Fabrik“ ausgeweitet wird, im Rahmen der Sozialtheorie Bourdieus, weil sie die kulturelle Reproduktion der Klassengesellschaft leistet.

So gewinnt auch die Ausgangsfrage nach dem output der ästhetischen Erziehung des Menschen sozialtheoretische Relevanz. Die wird selbstverständlich vor und hinter dem Standbild Schillers gleichermaßen diskutiert.
Außerhalb des Instituts haben beispielsweise die SozialwissenschaftlerInnen Luc Boltanski und Éve Chiapello gegen die um 1968 hegemonial gewordene „Künstlerkritik“ Stellung bezogen, die dem grauen Fabrikalltag die bunte Autonomie und individuelle Freiheit entgegengesetzt und so den „neuen Geist des Kapitalismus“ erst möglich gemacht hätte. Das „konsumtorische Kreativsubjekt“, entstanden aus den künstlerischen Angriffen gegen die Angestelltenkultur und gegenwärtig die hegemoniale Subjektform, wird beim Soziologen Andreas Reckwitz hingegen ziemlich positiv gewertet: als ein dreigliedriger Befreiungsschlag auf den Ebenen von Arbeit, Intimität und Selbsttechnologien.
Aus dem Institut heraus fragt zum Beispiel Sabeth Buchmann in ihrem Buch „Denken gegen das Denken“ (2007), ob der Konzeptualismus an der Herausbildung der „gesellschaftlichen Fabrik“ erfolgreich mitgearbeitet hat, indem sein Terrain vom Produktions- auf den Reproduktionsbereich ausgeweitet wurde. Sie warnt aber zugleich davor, die Bedeutung des Konzeptualismus innerhalb der kulturellen Öffentlichkeit zu überschätzen. Ein anderes Beispiel wäre der Einwurf Diedrich Diederichsens, der in „Eigenblutdoping“ (2008) meint, dass „die ungehetzte Verfügung über Perspektiven und ästhetische Distanzierungsmöglichkeiten“, die Bourdieu der herrschenden Klasse zuschreibt, „auch eine Utopie der Moderne war“.

In den Wertungen der angestellten Diagnose unterscheiden sich auch Virno und Bourdieu. Bei Virno ist mit der Virtuosität als Grundlage des General Intellect, die vom Spezialfall künstlerischen Schaffens zum „Prototyp der Erwerbsarbeit im Allgemeinen avanciert“ ist, auch die Hoffnung auf emanzipatorisches politisches Handeln verknüpft. Nach Bourdieu hingegen ist es weniger wünschenswert, dass die Virtuosität sich verallgemeinert. Denn anders als andere Privilegien, von denen es im Sinne einer emanzipatorischen Utopie durchaus zu befürworten wäre, dass sie allen zugänglich werden, ist die Virtuosität nach Bourdieu von ihren verletzenden und ausgrenzenden Funktionen nicht zu trennen.

Der Blick auf Schillers Rücken bleibt also viel versprechend. Denn die Frage nach Form und Lebensform und dem Zusammenhang ihrer jeweiligen Gestaltung erfordert alles andere als Rückblicke.


Mehr zu Pierre Bourdieu:

Die koloniale Erfahrung
Wie der Soziologe wurde, was er war: Pierre Bourdieus 'Algerische Skizzen'

in: Jungle World, Nr. 33, Berlin, 19. August 2010, dschungel S. 10-11.
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in: die bildende. Die Zeitung der Akademie der bildenden Künste Wien, Nr. 04, Dezember 2008, S. 33-34.
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Bourdieu und die Bilder
Tagungsbericht zu Representation of the “Other”. The Visual Anthropology of Pierre Bourdieu. Teil 1, 6. Juli 2007, Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig und 7. Juli 2007, KW Institute for Contemporary Art Berlin, in: translate. transversal webjournal, 07/2007, Wien.
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Das Kunstfeld macht die KünstlerInnen
in: artmagazine, Wien, 6.5.2007.
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Der Künstler als Geschäftsmann
Wie die Pop Art das Kunstfeld revolutionierte. Eine neue Studie betreibt empirische Forschung und Kunsttheorie zugleich.
in: Testcard. Beiträge zur Popgeschichte, Nr. 16, Mainz, März 2007, S. 267-277.
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Feueralarm
Pierre Bourdieu über die Notwendigkeit einer neuen antirasistischen Bewegung
in: Frankfurter Rundschau, 10.09.2001.
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Mehr zum Thema Kunst und Kritik:

* Zur Kritik der Kritik der Kunstkritik
Feld- und hegemonietheoretische Einwände
in: Mennel, Birgit, Stefan Nowotny und Gerald Raunig (Hg.): Kunst der Kritik, Wien 2010 (Verlag Turia + Kant), S 125-147.
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* Irritationen des Bildregimes. Kapitalismus und Scheitern in den Arbeiten Sven Johnes
in: Frankfurter Kunstverein (Hg.): Sven Johne. Berichte zwischen Morgen und Grauen, Berlin 2010 (Revolver Verlag), S. 118-128.
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Uncertainties of the Visual Regime. Capitalism and Failure in the Works of Sven Johne
in: Frankfurter Kunstverein (ed.): Sven Johne. Reports from the Crack of Dawn, Berlin 2010 (Revolver Publishing), pp. 119-129.

Ist die Linke schuld am Neoliberalismus?
War die Revolte von ’68 eine Wellnesskur für einen müde gewordenen Kapitalismus? Über das Erbe der einstigen Avantgarde-­Bewegung und die Modellfunktion des Künstlers für die moderne Arbeitsgesellschaft streiten sich die Kulturtheoretiker noch.
in: Jungle World, Berlin, Nr. 35, 27.August 2009, dschungel S. 6-8.
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