in: ak – analyse & kritik, Nr. 562, Hamburg, 17.Juni 2011, S.26.
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Prekäre Ereignisse, euphorische Erfindungen
Ein Sammelband zu aktuellen Positionen poststrukturalistischer Theorie


Poststrukturalistische Theorie sei gegenwärtig verschiedenen Formen der Entpolitisierung ausgesetzt: Ignoranz, Vereinnahmung, Akademisierung. All das, so die HerausgeberInnen des Bandes Inventionen, seien „Komponenten einer allgemeinen diskursiven 'Aufstandsbekämpfung'“ (18). Damit wird an diejenigen Stränge poststrukturalistischer Theorieentwicklungen angeknüpft, die ohne Zweifel mit den Revolten des französischen Mai 1968 verknüpft sind. Sicherlich ist der Poststrukturalismus keine homogene Denkschule, auch darauf wird hingewiesen, noch sei das Präfix „Post-“ im eigentlichen Sinne gerechtfertigt, da lineare Denkweisen – wie ein Denken „nach“ dem Strukturalismus – ja gerade zurückgewiesen worden waren. Das besagten Anknüpfen ist demnach auch keine Rückwärtsbewegung hin zu alter, aber vom Neoliberalismus und der akademischen Philosophie abgestumpften politischen Schärfe. Es geht um Inventionen: Nicht Abwehr- und Eroberungskämpfe, sondern Neuerfindungen werden angestrebt. Mit mehr oder weniger Erfolg, sieht man sich nun die Beiträge des empfehlenswerten Sammelbandes an.

Erstaunlich für die Fans des wurzelwerkhaften und feste Einheiten durchquerenden Denkens ist zunächst die kategoriale Ordnung des Buches: Jedem der nach wichtigen Begrifflichkeiten sortierten Unterkapitel ist ein zwei- bis dreiseitiger Einführungstext der HerausgeberInnen vorangestellt, was dem Band eine höchst lobenswerte – und zur Nachahmung dringend empfohlene – Stringenz verleiht.

Unter dem Begriff „prekär“ etwa entwickelt Isabell Lorey überzeugend eine Analytik des Herrschaftsmodells „gouvernementale(r) Prekarisierung“ (81). Die Prozesse „sozialer und ökonomischer Verunsicherung“ (80), längst keine gesellschaftlichen Randphänomene mehr, führten zu einer „Subjektivierungsweise der Angst“ (82). Sich aufführen und geführt werden – Foucaults Gouvermentalität in eine Formel gefasst – spielt einerseits mit der drohenden sozialen und ist andererseits folge einer angeblich ontologischen Prekarität. Einer grundlegenden Verletzlichkeit aller. Ob aus dieser ontologischen Prekarität, die Lorey bei Judith Butler entlehnt, aber eine politische Perspektive des gemeinsamen Werdens erwachsen kann, muss angesichts bestehender sozioökonomischer und politischer Differenzen doch fraglich bleiben. Denn dass Prekarisierung als „Gruppen und Schichten übergreifende Existenzweise verstanden werden muss“ (Lorey) (85), ist schließlich mehr normativer Anspruch als empirische soziale Realität.
Im Gegensatz zu Loreys konsistentem Aufsatz oszilliert Angela Mitropoulos' Text zum selben Thema allerdings zwischen historischen Schilderungen („Flucht aus den Fabriken“), sporadischen Anleihen theoretisch-historischer Art (bei Cicero, Lukrez, Livius) und Begriffen hin und her, deren Status unklar bleibt: Ist etwa „Ansteckung“ (64) eine zeitdiagnostische Signatur oder bloß eine Metapher? Der Versuch jedenfalls, mit der zugleich als „affektiv, finanziell und biologisch“ ausgewiesenen „Ansteckung“ die staatspolitischen Reaktionen auf Finanzkrise, Migrationsbewegungen und Terrorismus zu fassen, bleibt eindeutig zu kursorisch.

Andere Begriffserfindungen sind da plausibler. Wenn Antke Engel beispielsweise von „queeren agencements“ schreibt, benennt sie einerseits, wie die Herausgeber betonen, eine „(mikro)politische Aktivität, die neue Subjektivierungs- und Existenzweisen erfindet“ (Nigro/Raunig). Sie begreift sie aber auch als Form, in der „Machtbewegungen und Herrschaftsverhältnisse auftreten.“ (240) Die Frage, der sich Engel folgerichtigt widmet, ist die, wie in solch widersprüchlichen Gefilden Handlungsfähigkeit zu gewinnen ist. Sie betont dabei die – zu überwindende – Zugehörigkeit zu bestehenden sozialen Kategorien als Positionen, „von denen aus sich Bewegungen entfalten können“ (244). Engel gehört damit zu den wenigen AutorInnen des Bandes, die sich auch der Frage widmen, wann und unter welchen Bedingungen die Durchsetung neuer „Subjektivierungs- und Existenzweisen“ gelingt – und wann nicht. Denn die poststrukturalistische Neuerfindungseuphorie führt nicht selten zur Ausblendung von sozio-ökonomischen Stabilitäten und der gewaltsamen Beständigkeit sozialer Formen. Insbesondere das Denken um den Begriff des Ereignisses herum behauptet „ein offenes Feld von Mannigfaltigkeiten und Kontingenzen“ (Stefan Nowotny) (184), das im sprichwörtlichen Sinne die unwahrscheinlichsten Transformationen denkbar werden lässt: „Mit dem Ereignis geht man blitzartig von einer Welt in eine andere, von einer Lebensweise in eine andere über [...]“ (Maurizio Lazzarato) (173)

Bis es dazu kommen kann, sind wohl noch einige Kämpfe „gegen die kapitalistische Inwertsetzung“ (Nigro/Raunig) (91) zu führen. Einerseits ist dabei die „Veränderung der Produktionsstruktur“ (ebd.) in den Blick zu nehmen. Dass die gegenwärtige Wertschöpfung das Soziale durchdringt, muss auch zu erweiterten Kämpfen führen, zu solchen nämlich, die nicht nur die Arbeit oder die Klassifizierung, sondern das „Leben zum Gegenstand“ (Nigro/Raunig) (92) haben. Andererseits stellt sich die Frage, ob man es auf diverse „enthierarchisierende und denormalisierende Effekte“ (Engel) (251) in Ordnungsregimen anlegt, oder doch wieder Ontologie und Soziales kurzschließt und wie Thomas Seibert darauf hofft, dass KommunistInnen in solchen Kämpfen ihre Auszeichnung darin finden, „in allen besonderen Kämpfen das Gemeinsame aller Kämpfe [...] zu artikulieren“ (124).

Jens Kastner

Isabell Lorey, Roberto Nigro, Gerald Raunig (Hg.): Inventionen
. Berlin/Zürich 2011: Diaphanes Verlag.


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