in: Journal für Entwicklungspolitik, Vol. XXIV, Wien, 3/2008, S. 115-118.

Karin Fischer und Susan Zimmermann (Hg): Internationalismen. Transformationen weltweiter Ungleichheit im 19. und 20. Jahrhundert, Wien 2008 (Promedia Verlag).

In den 1990er Jahren hat sich ein neuer Internationalismus etabliert, der vielleicht schon keiner mehr ist: Ausgehend vom zapatistischen Aufstand in Chiapas/Mexiko, den Streiks in Frankreich 1995 und den Protesten gegen die Internationale Handelsorganisation WTO haben sich Politikverständnisse formiert, die nicht mehr zwischen den Nationen oder nationalistisch orientierten Bewegungen operieren, sondern konzeptionell über die Nation hinausgehen. Karin Fischer diskutiert diesen neuen, eigentlich transnationalistischen Internationalismus als zugleich Bruch mit und Kontinuität zu den Internationalismen von 1968. Kernfragen dieser aktuellen Internationalismen – „die Frage nach der Form der Selbstorganisation und der geeigneten politischen Strategie“ (194) – stammen allerdings, so Fischer, schon aus den Zeiten der gescheiterten Revolutionen von 1848. Über diese historische Einbettung wird Fischers Aufsatz zu einem Schlüsseltext des Aufsatzbandes, der sich den „Transformationen weltweiter Ungleichheit im 19. und 20. Jahrhundert“ widmet. Vor dem Hintergrund der Weltsystemtheorie lokalisiert sie die globalisierungskritischen Bewegungen zwischen den Politikmodellen der „alten“ und der „Neuen“ Linken und innerhalb der Diskurse der Bewegungsforschung.

Die dabei u. a. herausgearbeiteten Spaltungslinien der antikapitalistischen Bewegungen sind denen der internationalen Frauenbewegungen zum Teil sehr ähnlich. Brigitta Bader-Zaar verortet deren Geschichte in der „Spannung zwischen nationalen bzw. lokalen Interessen und Identitäten und dem befriedigenden Gefühl bzw. der Erfolgskraft des gemeinsamen transnationalen Aktivismus“ (107). Von den multilateralen Organisierungsversuchen im 19. Jahrhundert bis zur Formierung transnationaler Netzwerke der Gegenwart erscheint dabei die nationale Zugehörigkeit als eine zentrale Problemachse: Wurde das Verhältnis zu den Frauen in den kolonial beherrschten Ländern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Organisationen wie der Women´s International League for Peace and Freedom (WILPF) schon kontrovers diskutiert, spiegeln sich diese Differenzen bis heute: So wiesen feministisch orientierte Frauen aus dem „Süden“ den Gedanken einer universellen Kollektivität von Frauen in den 1990er Jahren erneut mit dem Hinweis auf die globale soziale Ungleichheit zurück. Auch eine andere Konfliktachse ist derjenigen in den globalisierungskritischen Bewegungen durchaus vergleichbar: Während auf der einen Seite auf die Neu- und Restrukturierung von Markt und Staat mittels gender-mainstreaming und der „Politik der kleinen Schritte“ von Nichtregierungsorganisationen vertraut wird, wird diese Strategie auf der andere Seite als Teil einer global gouvernance abgelehnt. Stattdessen wird auf Basisgruppen innerhalb einer „internationalen feministischen Aktionsbewegung“ (126) gesetzt.

Für andere internationalistische Bewegungen hingegen war die Frage der Macht weniger problematisch. David Mayer beschreibt beispielsweise die kommunistische Dritte Internationale (1919-1943) als „Organisation, die mit dem Ziel der revolutionären Machtergreifung gegründet worden war.“ (176) Deren Probleme begannen erst, als die Staatsmacht, zumal, wie bei Mayer thematisiert, in Lateinamerika, nicht errungen wurde. Anders im antikolonialen Kontext: Das Ergreifen der Staatsmacht gelang vielen Bewegungen, die daran geknüpften Hoffnungen wurden meist erst während des Aufbaus neuer Nationalstaaten enttäuscht. Dass diese Hoffnungen aber nicht ausschließlich befreiungsnationalistisch ausgerichtet waren, daran erinnert Anthony Bogues. Er zeichnet Ansätze eines traditionsreichen „radikalen antikolonialen Internationalismus“ nach. In dem von Bogues diskutierten, 1937 in London gegründeten International African Service Bureau (IASB) wurde dem Befreiungsnationalismus als „einziger ideologischer Kraft der Dekolonisierung“ (139) eher skeptisch begegnet.

Mit den antikolonialen Erfahrungen nur scheinbar vergleichbar ist das Ergebnis, zu dem Prem Kumar Rajaram in seiner Auseinandersetzung mit der Rolle der Vereinten Nationen im Dekolonisierungsprozess kommt: Der Internationalismus habe den Nationalstaat nicht nur mitbegründet, „sondern ein starkes Eigeninteresse an seinem Fortbestand“ (217) gehabt. Gleichzusetzen mit den Dilemmata antikolonialer Bewegungen ist das deshalb nicht, weil man sich fragen muss, ob eine Institution wie die Vereinten Nationen überhaupt sinnvoll als „internationalistisch“ bezeichnet werden kann.
Denn international ist nicht internationalistisch und dass diese Unterscheidung zwischen der Beschreibung von Phänomenen, Entwicklungen und Positionen und der inhaltlichen Ausrichtung nicht durchgängig gemacht wird, ist die große Schwäche des Bandes. Dass es Susan Zimmermann in ihrem an Fakten und theoretischen Bezügen überbordenden Einleitungstext nicht gelingt, die „Ausweitung internationaler Aktion und Organisation für die Zeit ab 1919 (…) systematisch vorzustellen“ (17), ist nur die Folge dieser begrifflichen Unschärfe. Auch der von Zimmermann ins Spiel gebrachte Begriff des „‚Reform’-Internationalismus“ wird kaum plausibel eingegrenzt. Die Schaffung des Völkerbundes und das Programm der pazifistischen Bewegung im 19. Jahrhundert fallen bei Zimmerman ebenso darunter wie ein internationaler Kongress zum Sanitätswesen 1851 und heutige NGOs – die „genuin dem ‚Reform’-Internationalismus zuzuordnen“ (18) seien.
Eine weitere Folge der ausgebliebenen Differenzierung zwischen der normativen und der deskriptiven Ebene ist aber auch die, dass der Band Texte enthält, in denen die Worte „Internationalismus“ oder „internationalistisch“ gar nicht vorkommen. So beschreibt beispielsweise Ingeborg Grau die Entstehung einer missionarischen „Weltkirche“ am Beispiel der protestantischen Mission in Westafrika. Damit leistet sie einen höchst interessanten Beitrag zur Missionsgeschichte und liefert wissenswerte Details zu den durchaus konkurrenzierenden Konjunkturen von rassistischen und humanistischen Einstellungsmustern innerhalb der Kirche(n). Den Versuch aber, die Mission als „internationalistisch“ zu beschreiben, unternimmt die Autorin zum Glück erst gar nicht.

Zum Buchtitel passend hingegen erscheint der Beitrag von Anne Orford zur neuen internationalen Interventionspolitik. Denn Orford bettet ihre These von der Verschiebung der Legitimationsdiskurse für militärische Interventionen hin zu einer „Politisierung des Rechts“ (240) in die „internationalistischen Debatten der 1990er Jahre“ (239) ein. Um die Indienstnahme linker, internationalistischer Ideen für wohlstandschauvinistische Militärinterventionen analysieren zu können, müssen sie eben zunächst von Genese und Struktur internationaler Organisationen abgegrenzt werden. Das geschieht im Band nicht immer. So versammelt er durchweg aufschlussreiche Aufsätze, die, wie Arno Sonderegger am Beispiel der abolitionistischen (Anti-Sklaverei-)Bewegung, „zahlreiche transnationale Dimensionen“ (92) aus antikolonialer Perspektive herausarbeiten. Andere wesentliche Träger wie die Arbeiterbewegung und Großereignisse des Internationalismus wie der Spanische Bürgerkrieg oder die „68er Jahre“ verschwinden dafür allerdings in Nebensätzen.

Jens Kastner


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