Kurzversion dieses Texte in ak – analyse & kritik, Nr. 586, 17. September 2013, S. 36

Sozialistischer Dokumentarismus
Mit dem Fotografen, Kunsttheoretiker und Konzeptkünstler Allan Sekula verstarb ein wichtiger Vertreter avancierter politischer Kunst


Das Porträt eines verschmitzt in die Kamera lächelnden Endfünfzigers in Dreiviertelansicht, der Herr im Anzug lehnt mit dem linken Arm lässig über einer Absperrkette. Im Hintergrund, kenntlich durch die großen roten Buchstaben, die Tate Gallery. Das Liverpooler Ausstellungshaus gehört zu den einflussreichsten Kunstmuseen Großbritanniens. Es ist in einem Hafengebäude aus rotem Backstein beherbergt. John Stanson, der Porträtierte, arbeitet hier als Museumsaufsicht. Er hat auch früher schon hier gearbeitet, als Matrose und als Schreiber in den Docks. Der Text unter seinem Bild gibt darüber Auskunft. Außerdem steht da noch, Stanson habe das Gesicht verzogen und auf die Frage, warum die besondere Geschichte der Docks und ihre Bedeutung für den Welthandel im Merseyside Maritime Museum gleich neben der Tate Gallery nicht dargestellt werde, nur geantwortet: „Haben sie noch nie etwas von Gramscis Konzept kultureller Hegemonie gehört?“

Das beschriebene Foto samt Text stammt von Allan Sekula und ist Teil einer Bild-und-Text-Serie namens „Freeway to China“ (1998/99). Im Bildnis des Ex-Seefahrers lassen sich einige der wichtigsten Merkmale aufzeigen, die die Arbeit des kürzlich verstorbenen Fotografen, Kunsttheoretikers und Konzeptkünstlers Sekula ausgemacht haben.

Der Witz zum Beispiel, der den abgebildeten Arbeiter hier zum Lehrmeister für den Intellektuellen werden lässt. Gramscis Konzept der kulturellen Hegemonie handelt nämlich unter anderem vom Verschweigen bestimmter Teile der Geschichte und von der Notwendigkeit für die Mächtigen, die Hoheit über die historische Narration zu erlangen. Und von der Frage, wer darüber bescheid wissen kann.
Dann das Exemplarische seiner Sujets bei gleichzeitiger Fähigkeit, das Besondere genau wahrzunehmen. So ist der theoretisch versierte Arbeiter vor dem Kunstmuseum nicht nur ein netter älterer Herr mit seiner spezifischen Karriere. Sondern sein Bildnis steht auch für die Deindustrialisierung, für die Gentrifizierung und die Rolle, die die im Hintergrund repräsentierte Kunst dabei spielte. Denn die Arbeit „Freeway to China“ ist im Kontext der Liverpool Biennale 1999 entstanden. Sekula hatte damals den Kontakt zu Dockarbeitern gesucht und deren Kämpfe gegen die Massenentlassungen der 1990er Jahre in sein Werk einfließen lassen. Der essayistische Text, der wie in den meisten Arbeiten Sekulas als integraler Bestandteil einer Fotoserie fungiert, handelt von der gegenwärtigen Bedeutung des Meeres und der Häfen für den globalen Handel.

Das Meer, die Schifffahrt und die Arbeitsbedingungen der Hafenarbeiter waren auch Thema von Sekulas wohl bekanntester Arbeit, der ebenfalls reichlich betexteten Bildstrecke „Fish Story“ (1989-95). Sie wurde auf der Documenta 11 (2002) in Kassel gezeigt und ist als eigenes Buch in verschiedenen Sprachen erschienen. Sekula plädiert darin nicht nur für eine materialistische Sicht auf die Globalisierung, indem er die Schwere der Container und den Dreck der Schiffsdecks als deren konstitutive Bedingungen ausweist und den virtuellen Kapitalströmen und der immateriellen Arbeit entgegenstellt. Er setzt zudem neue Maßstäbe für die dokumentaristische Kunst.

Das Dokumentieren und die künstlerische Arbeit standen von jeher in einem Spannungsverhältnis: Geht es beim zum einen darum, objektive Wirklichkeit abzubilden, ist Kunst zum anderen immer schon deren subjektive Bearbeitung. Dokumentaristische Kunst musste also von Anfang an diese Ebenen vermitteln. Es ging und geht darum, sich einerseits von der kriminalistischen Erfassung des Realen zu verabschieden und stattdessen über die Arten und Weisen Auskunft zu geben, wie die Wirklichkeit auch per Bild hergestellt wird. Andererseits kann aber nicht alle Realität nur auf subjektive Erfindung reduziert werden. Sekula hatte diese Spannung bereits 1978 in einem Aufsatz geschildert und dafür plädiert, „das Dokumentarische neu [zu] erfinden“.

Das ist allerdings keineswegs eine rein kunstimmanente Frage. Es geht auch um politische Strategien. Denn vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung um das Dokumentarische wird schnell klar, wie vereinfachend und läppisch letztlich die viel zitierte Behauptung von Rosa Luxemburg daherkommt, die revolutionärste Tat sei immer noch, „laut zu sagen, was ist“. Sekula, der in den späten 1960er Jahren in Berkeley bei Herbert Marcuse studiert und wie der Vertreter der Kritischen Theorie gegen den Vietnam-Krieg der USA protestiert hatte, suchte Zeit seines Lebens nach ausgefeilteren Methoden für „revolutionäre Taten“. Zwar will er in dem erwähnten, frühen Aufsatz die künstlerische Arbeit noch in den Dienst eines „authentischen Sozialismus“ stellen. Dennoch sind seine eigenen Performances und Text-Bild-Installationen alles andere als plumpe Propaganda.

In „Two, three, many... (terrorism)“ (1972) etwa robbt ein Mann mit Vietnamesischem Strohhut durch reiche Vorortviertel von Los Angeles. Als künstlerische Umsetzung von Ernesto Che Guevaras so genannter Fokustheorie, „ein, zwei, viele ... Vietnam“ zu schaffen und den „Imperialismus“ von vielen Orten aus anzugreifen, ist die Performance Kommentar zu und Persiflage auf Stadtguerilla-Konzepte(n) seiner Zeit zugleich. Wie andere Konzeptkünstler auch, vertraut Sekula hier wie in seinen anderen Arbeiten nie auf die Aussagekraft eines einzelnen Bildes, sondern schafft stets Serien mit oder ohne Text.

Einen subjektiven Zugang, ohne seine „Arbeit in erster Linie als künstlerischen Selbstausdruck“ zu verabsolutieren – wie Sekula es an Walker Evans und anderen berühmten Dokumentarfotografen der 1930er Jahren kritisiert –, bietet schon die frühe Serie „Aerospace Falktales“ („Geschichten von der Luftfahrt“) (1973). Am Beispiel seiner Eltern liefert Sekula hier mit Interieuraufnahmen, Interviews und einem Essay eine komplexe Milieustudie der aufstiegsorientierten, US-amerikanischen unteren Mittelschicht der 1970er Jahre. Die willkürlich ins Regal gestellten Bücher aus dem Buchklub sollen Belesenheit signalisieren, zeigen aber dem belesenen Betrachter gerade das Gegenteil. Die gestärkten Hemden des „Ingenieurs“, die Kochplatten seiner Frau, die mit Plastikfolie überzogenen Wohnzimmermöbel, all die Details in Schwarzweiß erzeugen eine Atmosphäre, die auch erklärt, wieso der Vater sich an Werten orientiert, die eigentlich diejenigen seiner Chefs sind. Handeln die späteren Studien Sekulas eher von den Makrostrukturen des Kapitalismus, wird in den frühen Arbeiten die Lupe auf die Mikroverhältnisse gelegt: Wie sie sich zu Hause einrichten, könnte eine Formel lauten, verrät viel darüber, wie und wieso sich die Leute auch in den Verhältnissen einrichten. Ideologie ließe sich zwar nicht fotografieren, heißt es in dem Essay zu dieser Fotostrecke, aber, heißt es dann ganz richtig, „zwischen diesen […] fotos steckt ideologie“.

Die Fotografie war in den Augen Sekulas aber nie neutrales Mittel der Aufklärung, sondern immer selbst involviert. Auch in die Prozesse, in denen kulturelle Hegemonie hergestellt wird. Es ging ihm, schrieb er 1982 in einem Kommentar zu einer eigenen Bildstrecke, folglich „um eine Art politische Geografie, eine Weise, mit Worten und Bildern sowohl über das System als auch über unser Leben innerhalb des Systems zu sprechen.“

Allan Sekula, 1951 geboren, lebte in Los Angeles und unterrichtete am California Institut of the Arts. Seine Arbeiten sind in den Sammlungen vieler europäischer und US-amerikanischer Museen vertreten. Mit seinem Tod am 10. August 2013 verliert die Kunstwelt eine wichtige linke Position und die Linke einen großartigen Künstler.


Jens Kastner


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