in: ak – analyse und kritik, Nr. 573, Hamburg, Juni 2012, S. 23.
Gramsci und Bourdieu
Gemeinsamkeiten und Unterschiede ihrer Herrschaftskritik
Unsere im April mit einer biografischen Skizze begonnene Gramsci-Serie wurde in ak 572 fortgesetzt mit einem Gespräch über die Frage, warum Linke heute noch Gramsci lesen sollten. In dem folgenden Text geht es um Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Denken Gramscis und eines anderen bedeutenden Herrschaftsanalytikers: des vor zehn Jahren, am 23. Januar 2002, verstorbenen französischen Soziologen Pierre Bourdieu.
Optimistischer Gramsci, pessimistischer Bourdieu
„Wenn Gramsci hinsichtlich der Infragestellung von Herrschaft zu optimistisch war,“ schreibt der US-amerikanische Soziologe Michael Burawoy, „dann war Bourdieu zu pessimistisch.“[1] Antonio Gramsci habe den kulturellen Mystifikationen nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt, mit denen der fortgeschrittene Kapitalismus sein Fortbestehen garantiere. Pierre Bourdieu hingegen habe die habituelle Anerkennung für zu grundsätzlich und universell gehalten, in der die kapitalistischen Verhältnisse reproduziert würden. Dieser Einschätzung, die Burawoy in einem aktuellen Aufsatz begründet, liegt eine andere zugrunde: Dass nämlich der italienische Parteikommunist und der französische Soziologe einiges gemeinsam haben. Burawoy ist zwar nicht der einzige, der diese Ansicht vertritt. Dass die Ansätze der beiden Theoretiker systematisch aufeinander bezogen wurden, geschah bislang allerdings erstaunlich selten.
Dass Bourdieu sich in seinem soziologischen Hauptwerk „Die feinen Unterschiede“ nur ein einziges Mal auf Gramsci bezieht, war schon dem mexikanischen Kulturwissenschaftler Néstor García Canclini aufgefallen.[2] Er hatte das auf die Vermutung zurückgeführt, dass Bourdieu sein sozialwissenschaftliches Werk – in der politisierten Atmosphäre der 1970er Jahre – durch zu große Nähe zum Marxismus nicht hatte kontaminieren wollen. Das scheint auch für die Rezeption eine plausible Mutmaßung: Dass Gramsci und Bourdieu bisher so wenig zusammengedacht wurden, liegt vor allem an den akademischen wie politischen Ressentiments der jeweiligen AnhängerInnen. Bourdieu wurde von marxistischer Seite häufig vorgeworfen, sich von der politischen Ökonomie verabschiedet zu haben und zu „funktionalistisch“ zu sein, d.h. nur zu erklären, wie die Dinge funktionieren, nicht aber, wie sie zu ändern sind. Die Bourdieu-Schule sieht in Gramsci hingegen nach wie vor häufig bloß einen Ideologie-Theoretiker. Und den Ideologie-Begriff hatte Bourdieu hinter sich gelassen und durch das seiner Konzeption nach weitergehende Habitus-Konzept ersetzt.
In beiden Begriffen allerdings, Ideologie und Habitus, ließe sich auch die Frage erkennen, die García Canclini bereits 1984 als gemeinsame beschrieben hatte und Buroway jetzt wieder als Gramsci und Bourdieu verbindende durchspielt: Warum ist Herrschaft so stabil? Auch bei der Beantwortung dieser Frage haben beide einige recht ähnliche Ideen. Sie ausformuliert zu haben, kann bis heute als richtungsweisend gelten: Nicht Gewalt und Repression allein, wie in anarchistischen und marxistischen Analysen weithin angenommen, garantieren die Aufrechterhaltung von Herrschaft. Hinzu kommen subtilere Formen der Machtausübung, die über unhinterfragte alltägliche Praktiken, über Partizipation und Privilegien funktionieren. Gramsci sprach daher von „kultureller Hegemonie“,der Vorherrschaft bestimmter Denk- und Verhaltensweisen, Bourdieu nannte diese nicht immer erkennbaren Reproduktionsweisen „symbolische Macht“.
Zum einen zielen also beide in ihren Herrschaftsanalysen auf Kultur im weiteren Sinne:[3] Nicht allein der Zwang zur Veräußerung der Arbeitskraft und die repressiven Apparate Militär und Polizei trügen zur Stabilität der Verhältnisse bei. Auch die Denkweisen und die alltäglichen Praktiken, ja selbst die Geschmäcker hätten ihren Anteil an der Reproduktion des Bestehenden. Kultur in diesem Sinne dürfe aber nicht, so Gramsci, als „enzyklopädisches Wissen“ verstanden werden, dass dem Menschen einem „Gefäß“ gleich eingetrichtert werde. Die besondere Bedeutung der Dominanz bestimmter Ideen und Verhaltensweisen entsteht nach Gramsci erst dadurch, dass die Kultur als eine Angelegenheit der selbsttätigen und praktischen Aneignung zu verstehen ist. Nicht umsonst nannte Gramsci den Marxismus, der helfen sollte, diese Praktiken zu begreifen, eine „Philosophie der Praxis“.
Klassenstruktur und Kulturkonsum
Auch Bourdieus Ansatz wird – aus dem gleichen Grund – als Praxistheorie bezeichnet. Ihm ging es darum aufzuzeigen, welcher Zusammenhang zwischen jedem vermeintlich persönlichen Geschmacksurteil und der jeweiligen Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse besteht. Der „Konsum kultureller Güter“ (Bourdieu), also der unterschiedliche Umgang mit allen möglichen Kunst- wie Alltagsgegenständen, rückte schließlich in den Fokus des analytischen wie politischen Interesses.
Zum anderen widmeten sich Gramsci wie Bourdieu der Kultur im engeren Sinne. Sie fragten also nach der Rolle, die Büchern und künstlerischen Produktionen vom Groschenroman bis zum Opernbesuch in dieser Aufrechterhaltung von Herrschaft zukommt. Dass Geschmack und Klassenzugehörigkeit etwas miteinander zu tun haben, davon gingen beide aus. Bourdieu zeigte in empirischen Studien auf, dass von allen Produkten, unter denen die KonsumentInnen wählen können, „die legitimen Kunstwerke die am stärksten klassifizierenden und Klasse verleihenden“[4] seien. Markenturnschuh und Klingelton, U-Bahn-Lektüre und Abendgestaltung: Man zeigt über den Umgang mit kulturellen Werken wird nicht nur an, welcher sozialen Klasse man angehört, sondern erneuert und festigt diese Zugehörigkeit auch. Bourdieu ging davon aus, dass im Kulturkonsum vornehmlich die herrschende Klassenstruktur reproduziert wird, auch und gerade von den unteren Klassen, die sich an den oberen orientieren. Das ist die von Burawoy erwähnte, pessimistische Folgerung, die Bourdieu aus seinen Studien zieht. Gramsci hingegen war da positiver gestimmt. Der Umgang mit Werken und Ideen kann demnach prinzipiell transformatorische Wirkung entfalten. So wie in der Geschichte „die Bajonette der napoleonischen Armee [...] bereits den Weg von einem unsichtbaren Heer von Büchern und Broschüren geebnet“[5] sahen, so sah Gramsci auch künftige Umwälzungen durch manifestierte Gedanken vorbereitet.
An der Frage des Widerstands treten die sowohl theoretisch als auch politisch wesentlichen Unterschiede zu Tage. Theoretisch hat Bourdieu – anders übrigens als die meisten marxistischen Kulturtheorien – in die Vorstellung, Bücher und Kunstwerke veränderten politische Wirklichkeiten, noch eine Vermittlungsebene eingeschoben. Die Effekte solcher künstlerischer Produktionen sind immer nur gebrochen wirksam, d.h. Gramscis „Bücher und Broschüren“ mussten erst in bestimmten Kreisen und Kontexten zur Durchsetzung gelangt sein – in Bourdieus Worten im „intellektuellen Feld“ –, bevor sie breitere Effekte zeitigen konnten (und können). Paradigmatisch hat etwa Oliver Marchart in seinem Buch „Hegemonie im Kunstfeld“ am Beispiel der weltweit wichtigsten Ausstellung für zeitgenössische Kunst, der alle fünf Jahre in Kassel stattfindenden Documenta sehr schön gezeigt, wie der Zusammenhang von Kunst und Politik erst innerhalb des Kunstfeldes begriffen werden muss – hier gab es verschiedene Verschiebungen zwischen den Documentas dX (1997), D11 (2002) und d12 (2007) hin zu einer zunehmenden Depolitisierung. Dann erst kann verstanden werden, wie und wodurch das Kunstfeld als „wichtiges Terrain [...] auf dem ideologische Allianzen hergestellt und ständig umgebaut werden“[6], gesamtgesellschaftlich Effekte zeitigt. Mit dem Wort „Biennalisierung“ im Untertitel weist Marchart auf den zunehmenden Event-Charakter und die Ökonomisierung der Kunst hin. So nutzt er Bourdieu und Gramsci zugleich, um zu zeigen, dass Kunstanalyse zu betreiben auch heißen muss, Machtanalyse zu betreiben.[7]
Dass der Blick dabei auf ständig im Umbau begriffene Allianzen gerichtet sein muss, bedeutet dreierlei: Zum einen sind ganz spezifische Konstellationen eines Feldes zu beobachten (welcher Hype gerade im Sport stattfindet, ist für die Kunst relativ irrelevant), zum anderen gehen diese Allianzen deutlich übers Kunstfeld hinaus (und werden etwa von Sponsoring durch Banken in deren Imagepflege integriert). Dass Bündnisse – gegen diese und für jene Kunst, für oder gegen Sponsoring etc. – hergestellt und umgebaut werden muss, heißt außerdem, dass sie sich nicht von selbst verstehen. Sie sind also nicht, vom Standpunkt im Produktionsprozess vorgegeben. „Der Kampf der und um Klassifikationen“, also wie die Dinge ein- und Menschen (auch einer Klasse) zugeteilt werden, „ist eine grundlegende Dimension des Klassenkampfes.“[8] Diese Ein- und Zuteilungen sind nicht festgelegt und verstehen sich auch nicht von selbst, sondern sie sind stets umkämpft. Dies ist auch der Übergang zur politischen Differenz zwischen Gramsci und Bourdieu.
Politisch ist für Gramsci als Marxist-Leninist klar, es ist das Proletariat, das die Geschichte macht. Anders als viele seiner GenossInnen ergänzte Gramsci diese Überzeugung aber durch die Analyse der Notwendigkeit von Bündnissen: Da die Machtergreifung der Arbeiterklasse eben weder von Natur noch Geschichte notwendig hervorgebracht werde, müssten dafür verschiedene Strategien in Betracht gezogen werden, u.a. eben die Bildung breiter Allianzen, in Gramscis Worten eines „historischen Blocks“. Bücher und Broschüren, aber auch der Arbeitskampf und selbstverständlich die Parteiarbeit, stellten dazu die nötigen Mittel dar. „Kulturelle Hegemonie“ sollte errungen werden und galt fortan als wichtige Voraussetzung auch für soziale und ökonomische Umwälzungen. Es muss Gramsci zufolge also selbst um die Geschmäcker gekämpft werden. Er zeigte sich jedenfalls zuversichtlich etwa hinsichtlich der Möglichkeit, „den melodramatischen Geschmack des kleinen Mannes in Italien [zu] bekämpfen.“[9] Gramsci maß der Kultur also nicht nur großen theoretischen Stellenwert zu, sondern legte auch seine politische Hoffnung in sie.
Geschmacksfragen und kulturelle Hegemonie
Bourdieu hingegen leitete aus dem Kulturkonsum der unteren Klassen keine emanzipatorischen Hoffnungen ab. Im Gegenteil sah er die Vorlieben und Begehren immer an den oberen Klassen orientiert und damit vornehmlich „Herrschaftseffekte“ walten. Eigensinnige, gar widerständige kulturelle Praktiken der unteren, bei Gramsci subalternen Klassen, konnte und wollte er lange Zeit nicht erkennen. Das Argument war in seinen Studien zur algerischen Landbevölkerung in der Endphase des Kolonialismus dem sehr ähnlich, das er in den 1990er Jahren auf diejenigen anwandte, die sich zunehmende Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen im Neoliberalismus ausgesetzt sahen: wer nicht einmal die Spur von Macht über die eigene Gegenwart innehat, wie soll die oder der auch noch eigene Zukunftsvisionen entwickeln?
Dieser strukturelle Pessimismus hat ihm schließlich auch viel Kritik eingebracht, von marxistischer Seite ebenso wie von Seiten der Cultral Studies. Der schon genannte Néstor García Canclini etwa schloss sich zwar Bourdieus Konstruktivismus an, d.h. auch er nahm gesellschaftliche Klassifizierungen nicht als gegeben (sondern eben als sozial konstruiert). Er behauptete aber – am Beispiel lateinamerikanischer Gesellschaften –, dass das Populare, also Geschmäcker und Verhaltensweisen in den unteren Klassen, sich zwar aus Ungleichheiten entwickelt. Es entstünden aber durchaus eigenständige und auch widerständige Praxisformen. García Canclini unterscheidet dafür zwischen „Praktiken“, die die herrschende Muster und Strukturen reproduzieren, und „Praxis“, die sie verändert.[10] Ganz ähnlich hat der Gramsci-Experte und Herausgeber der sozialphilosophischen Zeitschrift Das Argument, Wolfgang Fritz Haug, versucht, Formen des Denkens und Handelns gegenüber der Annahme bloß permanenter Wiederherstellung des Bestehenden zu retten. Haug unterscheidet in Abgrenzung von Bourdieu zwischen „kultureller Distinktion“ und „kultureller Unterscheidung“: erstere trägt demnach, wie Bourdieu geschildert hat, mittels Prestige und subtiler Protzerei dazu bei, das alles bleibt, wie es ist, die zweite Form gibt schlicht „einem konkretem Etwas den Vorzug vor etwas anderem.“[11] Mit Bourdieu – und letztlich auch mit Gramsci – allerdings wäre zu bezweifeln, ob es solch unschuldige Auswahlpraktiken in einer sozial und kulturell höchst ungleichen Welt geben kann.
Jens Kastner
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Tagungsbericht zu Representation of the “Other”. The Visual Anthropology of Pierre Bourdieu. Teil 1, 6. Juli 2007, Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig und 7. Juli 2007, KW Institute for Contemporary Art Berlin, in: translate. transversal webjournal, 07/2007, Wien.
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in: artmagazine, Wien, 6.5.2007.
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in: ak – analyse & kritik, Nr. 514, Hamburg, 16. Februar 2007, S. 13.
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[1] Michael Burawoy: „The Roots of Domination: Beyond Bourdieu and Gramsci.“ In: Sociology 46(2),S. 187–206, hier S. 189. (http://soc.sagepub.com/content/46/2/187)
[2] Néstor García Canclini: „Gramsci con Bourdieu. Hegemonía, consumo y nuevas formas de organización popular.“ In: Nueva Sociedad, Nr.71, März–April 1984, S. 69–78.
[3] Gramscis wichtigste kunst- und kulturtheoretische Schriften sind seit Kurzem wieder auf Deutsch in gesammelter Form zugänglich: Antonio Gramsci: Literatur und Kultur. Gramsci-Reader. Hgg. im Auftrag des Instituts für kritische Theorie von Ingo Lauggas. Hamburg: Argument 2012.
[4] Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Zur Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987, S. 36.
[5] Antonio Gramsci: „Sozialismus und Kultur.“ In: ders.: Philosophie der Praxis. Eine Auswahl. Hgg. von Christian Riechers. Frankfurt a. M.: Fischer 1967, S. 20–23, hier S. 22.
[6] Oliver Marchart: Hegemonie im Kunstfeld. Die documenta-Ausstellungen dX, D11, d12 und die Politik der Biennalisierung. Köln: Buchhandlung Walther König 2008, S. 13.
[7] Vgl. ebd., S. 94.
[8] Pierre Bourdieu: „Sozialer Raum und symbolische Macht.“ In: ders.: Rede und Antwort. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 135–154, hier S. 153.
[9] Antonio Gramsci: Literatur und Kultur. Gramsci-Reader. Hgg. im Auftrag des Instituts für kritische Theorie von Ingo Lauggas. Hamburg: Argument 2012, S. 48.
[10] Néstor García Canclini, S. 176.
[11] W.F.Haug: Die kulturelle Unterscheidung. Hamburg: Argument 2011, S. 56.