in: graswurzelrevolution, Nr. 451, Münster, September 2020, S. 20.

„… vielleicht ein anarchistischer Zug“
Der Soziologe Pierre Bourdieus wäre am 1. August 90 Jahre alt geworden. Sein Verhältnis zum Staat war ambivalent


Als der Soziologe Pierre Bourdieu sich in den 1990er Jahren gegen die Deregulierung des Arbeitsmarktes und gegen die Privatisierungen staatlicher Betriebe engagierte, war ihm eines sehr bewusst: Im Kampf gegen den Neoliberalismus begab er sich als kritischer Intellektueller in eine paradoxe Situation. Das Paradox bestand laut Bourdieu darin, dazu gezwungen zu sein, „Dinge zu verteidigen, die man eigentlich verändern möchte, etwa den Nationalstaat“. Bourdieu nahm folglich eine notgedrungen ambivalente Haltung dem Staat gegenüber ein. Diese Ambivalenz steigerte sich noch zu einer regelrechten Spannung, blickt man zudem in die theoretischen Ausführungen, die Bourdieu dem Staat gewidmet hat. Versammelt sind sie in den Vorlesungen, die Bourdieu zwischen 1989 und 1992 am Collège de France in Paris gehalten hat und die seit 2014 auch auf Deutsch vorliegen. Es sind also genug Spuren für eine interessante Auseinandersetzung mit dem Staat gelegt, um ihnen in einer anarchistischen Zeitung nachzugehen.

Staat als Herberge sozialer Errungenschaften
Bourdieu war Theoretiker sozialer Ungleichheit und empirischer Sozialforscher, Ethnologe im kolonialen Algerien, Bildungs-, Lebensstil- und Kunstsoziologe. Nicht zuletzt war er auch ein an kollektiver Arbeit orientierter, kritischer Intellektueller. In all diesen Tätigkeitsbereichen hat er sich immer wieder auch dem Staat gewidmet. Eine Beschäftigung, die mit seinen Vorlesungen zum Thema ebenso wie mit seinem verstärktem politischen Engagement zu Beginn der 1990er Jahre aber mehr in den Vordergrund rückt. 
Bourdieus Reden und Aufsätze gegen die „neoliberale Offensive“ sind in zwei schmalen Bändchen mit den Titeln Gegenfeuer und Gegenfeuer 2 versammelt. Hier finden sich im Wesentlichen auch jene Verteidigungsappelle im Hinblick auf den Nationalstaat, die ihm zugleich so wichtig wie problematisch erschienen. In Gegenfeuer 2 etwa wird der Rückzug des Staates am Beispiel der USA ausgeführt und beklagt: „Der Staat hat sich aus allen wirtschaftlichen Bereichen zurückgezogen, ihm gehörende Unternehmen verkauft, öffentliche Güter wie Gesundheit, Wohnen, Sicherheit, Erziehung und Kultur – Bücher, Filme, Fernsehen und Radio – in Handelsgüter und deren Nutzer in Kunden verwandelt, die ‚öffentlichen Dienste‘ an den privaten Sektor verpfändet und auf seine Macht verzichtet, die Ungleichheit zurückzudrängen (die sich nun maßlos verschärft) (...)“. Bourdieu beklagt hier den Umbau des Wohlfahrtsstaates zu einem Instrument, das bloß noch die Marktfreiheit garantieren soll. Diese Umgestaltung des Staates geht demnach mit der schwindenden Möglichkeit einher, durch ihn und mit ihm die soziale Ungleichheit zu verringern. Bourdieu nahm es daher auch insbesondere den Sozialdemokratischen Parteien übel, diesen neoliberalen Um- bzw. Abbau des Staates betrieben zu haben.
Denn der Staat bei Bourdieu ist also nicht bloß Apparat der Unterdrückung und Garant der Ausbeutung. Er ist auch ein potenzieller Akteur emanzipatorischer Veränderungen, nämlich der Verminderung sozialer Ungleichheit. Bei einem Vortrag vor GewerkschafterInnen sagte er 1996, „der Staat ist durchaus zweigesichtig. Es wäre zu einfach, ihn allein als Werkzeug im Dienste der Herrschenden zu begreifen. Sicher ist der Staat nie ganz neutral, völlig unabhängig von den Herrschenden, aber er besitzt doch eine gewisse Autonomie, die um so größer wird, je älter, je mächtiger er ist, je mehr seine Institutionen gesellschaftliche Eroberungen beherbergen“. Ein Verständnis des Staates als Herberge für soziale Errungenschaften zielt auf all die Effekte von sozialen Kämpfen, die in Gesetze gegossen wurden: Rechte für Minderheiten, Verbot der Ungleichbezahlung von Frauen und Männern, Umweltschutzmaßnahmen usw. usf.
Die Zweigesichtigkeit des Staates hat Bourdieu auch mit einer anderen Körpermetapher beschrieben: Er spricht von der „linken Hand des Staates“, personifiziert in Lehrer*innen, Sozialarnbeiter*innen, u.v.a., die vor allem die Spuren sozialer Kämpfe bewahrt. Die „rechte Hand“ hingegen ist unternehmerfreundlich und sicherheitspolitisch ausgerichtet. Dementsprechend ist der Staat nach Bourdieu auch kein homogener Block, sondern eher ein Kräftefeld, in dem verschiedene Positionen miteinander in Konflikt stehen.

Staat als Zentralbank symbolischen Kapitals
Auch in den theoretischen Schriften Bourdieus taucht der Staat als Ort von Kräfteverhältnissen auf. Hier ist Bourdieu allerdings wesentlich weniger emphatisch gestimmt als in seinen globalisierungskritischen Texten. „Wenn es um den Staat geht“, schreibt er einmal geradezu proto-anarchistisch, „kann man gar nicht genug zweifeln.“ In den besagten Vorlesungen macht er den anarchistischen Esprit seiner Herangehensweise sogar explizit: „Ich möchte Sie in Erstaunen darüber versetzen“, heißt es da, „dass es so viel Ordnung gibt – vielleicht ist es ein anarchistischer Zug, der mich so denken läßt“. Das Hauptanliegen Bourdieus ist es, aufzuzeigen, wie sehr die allgemeinen Muster des Denkens und des Wahrnehmens staatlich geprägt sind. Das ist auch der Grund für den Aufruf zum radikalen Zweifel. 
Um über Politik im Sinne der Gestaltung und Formierung des Lebens aller nachdenken zu können, müssten also zunächst einmal diese Denk- und Wahrnehmungsweisen entstaatlicht werden. Dazu muss verstanden werden, worum es sich beim Staat überhaupt handelt. Die allgemeinen Arten und Weisen, zu denken und wahrzunehmen, beschreibt Bourdieu mit dem Begriff des Symbolischen. „Symbolisch“ ist hier nicht das Gegenteil von „real“, sondern beschreibt unhinterfragte Muster, die sogar besonders real wirken, indem sie unbewusst bleiben. In einer von verschiedenen Definitionen beschreibt Bourdieu den Staat nun als „Zentralbank des symbolischen Kapitals“. Der Kapitalbegriff beschreibt bei Bourdieu Ressourcen in jeglicher Hinsicht. In der Entstehung des modernen Staates konzentriert sich in der Sicht Bourdieus auch das symbolische Kapital und die symbolische Macht. Die symbolische Macht ist diejenige, die das Einheben von Steuern akzeptabel und anerkennenswert macht (und etwa dafür sorgt, dass es von der mafiösen Schutzgelderpressung unterschieden wird). Die Konzentration symbolischer Macht hat demnach erst die Anerkennung des Staates hergestellt und die Legitimität der Herrschaft gesichert, bevor Steuern erhoben und Kriege geführt werden konnten. Dafür hätten im Übrigen weder die marxistischen Staatstheoretiker*innen noch Soziologen wie Max Weber oder Norbert Elias ein Gespür bzw. Begriffe gehabt. 
Den Staat als „Zentralbank symbolischen Kapitals“ zu verstehen, bezieht sich aber nicht nur auf seine historische Entstehung. Auch in der Gegenwart fungiert der Staat als eine solche Zentralbank, als eine Art Letztinstanz der Anerkennung und Legitimität. Nicht nur in Bezug auf Steuern: Er verleiht Bildungstitel, erklärt Beziehungen für legitim, regelt Papiergrößen usw. usf. Er setzt also Entscheidungen in sehr unterschiedlichen Bereichen wie dem Eherecht, der Rechtschreibung, dem Arbeitsmarkt, der Asylgesetzgebung etc. durch. Kurz, die symbolische Macht wird im Staat – wohlgemerkt nicht widerstandslos, sondern als Ergebnis historischer und aktueller Kämpfe – monopolisiert und zentralisiert.

Herrschaft als Integration
Mit vielen neueren marxistischen Ansätzen – mehr noch als mit anarchistischen – teilt Bourdieu hingegen die Abgrenzung von gängigen, politikwissenschaftlichen Auffassungen über den Staat. Auch wenn selbst in den Vorlesungen der Staat manchmal als Akteur erscheint: Im Prinzip weist Bourdieu ein Verständnis des Staates als handelndes Subjekt (etwa in Formen eines Verwaltungsapparates) ebenso zurück wie eines vom Staat als Gemeinschaft (verstanden als einander irgendwie ähnliche Personen auf einem Territorium). Nicht die Leute, die zufällig ein willkürlich begrenztes Gebiet bewohnen, erschaffen sich einen Apparat. Stattdessen schaffen die Apparate sie als Menschen, die gegenseitig von sich annehmen, sie hätten etwas gemeinsam. Aber Apparat ist schon das falsche Wort, denn Bourdieu wird nicht müde zu betonen, dass es ihm nicht um mechanische Reproduktionen – wie er sie in Louis Althussers Begriff der „Staatsapparate“ konzipiert sah –, sondern um widersprüchliche Praktiken konkreter Menschen geht. Er habe sich also gefragt habe, „wer die handelnden Akteure waren“, die zur Entstehung komplexer Regelsysteme auf ihre je spezifische Weise beigetragen haben.
Die relativ autonom funktionierenden Regelsysteme innerhalb eines sozialen Raumes hat Bourdieu Felder genannt. Zeitgleich mit der modernen Ausdifferenzierung von juridischen, religiösen, kulturellen u.a. Feldern, entsteht also der Staat, der als eine Art übergeordneter Garant für die Gültigkeit der Regeln und die Legitimität der Ordnung in den jeweiligen Feldern fungiert. Im Staat konzentriert in sich die Benennungsmacht, in der alle partikularen Perspektiven sich gewissermaßen auf eine als universell anerkannte einigen – und damit auf den Wert der eigenen verzichten. Dazu notiert Bourdieu: „Wer ein paar anarchistische Neigungen hat, mag erstaunt sein, dass die Leute auf dieses Recht, zu beurteilen und sich zu beurteilen, verzichtet haben.“ Das Recht zur legitimen Beurteilung wird abgetreten, es wird delegiert. Aber warum wird diese Delegation so breit akzeptiert? Dem Erstaunen darüber ist allerdings nicht mit den herkömmlichen, im Anarchismus sehr präsenten Repressionsthesen beizukommen. Denn gerade das kann Bourdieu überzeugend zeigen: Es ist keine direkte physische Gewalt notwendig, nicht einmal deren Androhung, um solchen Verzicht hervorzurufen und zu gewährleisten. 
Der Staat ist also demnach kein Unterdrückungs- und Repressionsmonster, sondern ein Kräfteverhältnis, in dem um immer auch um Übereinstimmung und Einbeziehung gerungen wird. Für Bourdieu sind die Kräfteverhältnisse „untrennbar von Sinn- und Kommunikationsverhältnissen; der Beherrschte ist auch jemand, der erkennt und anerkennt.“ Ein Mittel der Erzeugung von Anerkennung und Konsens ist die Integration: Bourdieu beschreibt sie an verschiedenen Beispielen in all ihren Facetten, als Einbeziehen, Eingliedern, Vereinnahmen. Es sei seine „Zentralthese“, dass Integration „die Bedingung von Herrschaft ist.“ Für ein Verständnis dafür, wie Herrschaft wirkt, ist dieser Gedanke in der Tat sehr wichtig. Das bedeutet nicht, dass Gewalt bei ihrer Durchsetzung und Ausübung keine Rolle spielen würde, aber, so Bourdieu: „Unterwerfung und Enteignung stehen der Integration nicht antagonistisch gegenüber, sondern setzen Integration voraus.“

Staat als Stütze und kämpferischer Syndikalismus
Weil der Staat laut Bourdieu die Wahrnehmungsweisen durchsetzt, die ihm selbst entsprechen, ist er auch nicht leicht zu bekämpfen. Die staatliche Prägung des Denkens und Wahrnehmens sah Bourdieu als dermaßen grundlegend an, dass sie sogar die Gegner*innen des Staates kaum hinterfragen würden. Er kenne „keinen Anarchisten“, schreibt er zum Beispiel, „der nicht die Uhr umstellt, wenn wir zur Sommerzeit übergehen, der nicht ein ganzes Bündel von Dingen als selbstverständlich akzeptiert, die letztlich auf die Staatsmacht verweisen.“ Auch Bourdieu selbst war schließlich mit seinen Appellen zur Stärkung der „linken Hand des Staates“ nicht frei von solcher Akzeptanz. 
Er war aber auch nicht fatalistisch. Er hielt Zeit seines Lebens an der Möglichkeit fundamentalen sozialen Wandels fest. Für grundlegende Veränderung bedarf es, wie es in Gegenfeuer 2 heißt, auch nicht in erster Linie eines Staates zur Durchsetzung bestimmter Politiken. Die Sozialgeschichte lehre uns, so Bourdieu, „dass es keine Sozialpolitik ohne eine soziale Bewegung zu deren Durchsetzung gibt“. Dennoch müssten sich die sozialen Bewegungen sowohl auf die Gewerkschaften, als auch „auf den Staat stützen“, allerdings während sie beide dabei auch verändern. Bourdieu sprach sich für einen „kämpferischen Syndikalismus“ einer internationalistischen, antiautoritären, europäischen Gewerkschaftsbewegung aus. Zu deren Entfaltung brauche es nicht nur organisatorischen Aufwand, sondern auch einen „Sinneswandels“ bezüglich der Politik schlechthin. So gilt wohl für jede emanzipatorische Bewegung, was Bourdieu für diese europäische Gewerkschaftsbewegung konstatiert hatte: Sie muss gewissermaßen immer wieder „noch erfunden werden“. 
Bourdieu hat mit seinen Überlegungen nicht nur die sozialwissenschaftliche Staatstheorie bereichert, sondern auch die globalisierungskritischen Bewegungen der 1990er und 2000er Jahre inspiriert. Er selbst hat seine staatstheoretischen Überlegungen angesichts seines plötzlichen Todes 2002 ebenso wenig fortsetzen können wie sein politisches Engagement. Am 1. August wäre er 90 Jahre alt geworden.

Jens Kastner


Literatur:

Pierre Bourdieu: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion. Konstanz: UVK 1998.

Pierre Bourdieu: „Staatsgeist. Genese und Struktur des bürokratischen Felds“. In: Ders.: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1998, S. 93-157.

Pierre Bourdieu: Gegenfeuer 2. Für eine europäische soziale Bewegung. Konstanz 2001 (UVK).

Pierre Bourdieu: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik & Kultur 1. Hamburg: VSA 2005, 2. Aufl.

Pierre Bourdieu: Über den Staat. Vorlesungen am Collège des France 1989–1992. Herausgegeben von Patrick Champagne, Remi Lenoir, Franck Poupau und Marie-Christine Rivière. Berlin: Suhrkamp Verlag 2014.



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