in: graswurzelrevolution, Münster, Nr. 363, November 2011, S. 13-14.

Anarchismus ohne Adjektive
Das Wiederauftauchen der Arbeiten des Konzeptkünstlers Christopher D´Arcangelo könnte daran erinnern, dass die Institutionskritik mehr als eine Kunstströmung ist


„When I state that I am an anarchist, I must also state that I am not an anarchist, to be in keeping with the (....) idea of anarchism. Long live anarchism.“ Christopher D´Arcangelo

Es ist durchaus außergewöhnlich, wenn es über künstlerische Arbeiten im Folder einer Ausstellung heißt, „aus Respekt vor der Intention des Künstlers sind ausnahmslos keine Reproduktionen, Photos oder Kopien erlaubt.“ Erarbeitet hat sich diesen Respekt Christopher D´Arcangelo (1955–1979). Die Arbeiten des US-amerikanischen Aktionskünstlers, der sich als Anarchist begriff, wurden 2011 im New Yorker Artists Space mit einer Einzelausstellung gewürdigt („Anarchism without adjectives“, 11.09.–16.10.2011), im Wiener Künstlerhaus waren sie Teil der Sammelausstellung „Beziehungsarbeit – Kunst und Institution“ (17.06.–16.10.2011). Aus deren Begleitheft stammt der zitierte Satz. Im Wiener Katalog sind keine Bilder von D´Arcangelos Arbeiten, in New York wurde erst gar keine Publikation produziert.

Institutionskritik als künstlerische Strömung

Was hat es mit diesen Bilderverbot auf sich? D´Arcangelo war Teil jener künstlerischen Strömung, die heute als Institutionskritik rubriziert wird. In erster Linie wurden darin seit den 1960er Jahren die Institutionen des Kunstbetriebes, vor allem Galerien und Museen, analysiert und mit künstlerischen Mitteln angegriffen. Im Zentrum der Kritik standen die Kunstinstitutionen als das, was der Soziologe Pierre Bourdieu „Konsekrationsinstanzen“[1] genannt hat: als Instanzen, die die Macht haben, einen Gegenstand zum Kunstwerk zu weihen (konsekrieren) und eine Person zum anerkannten Künstler bzw. zur anerkannten Künstlerin. (Bourdieu entnahm das Fremdwort nicht zufällig der kirchlichen Liturgie, in der das profane Stück Esspapier zum heiligen Leib Christie geweiht/konsekriert wird.) Mit jeder „Weihe“ werden Gegenstände oder Personen aufgewertet und andere ausgeschlossen. Die Trennung von profanem Alltäglichen und heiligem Außergewöhnlichen, auf dem das Kunstfeld fußt, ist immer auch ein auf Machtbefugnissen basierendes Bewertungsgerangel.

Von den Kunstinstitutionen ausgehend, hat sich in der so genannten Institutionskritik schnell eine Erweiterung der Perspektive ergeben: In den Blick gerieten institutionelle Settings schlechthin, also auch die allgemeinen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die die Kunstproduktion und -rezeption prägen. Die künstlerischen Verfahrensweisen, mit denen solche Analysen betrieben und Interventionen veranstaltet wurden, waren recht unterschiedlich. Daniel Buren klebte 1968 die Galerie Appolinaire in Mailand mit Grün-Weißen Längsstreifen zu; der US-amerikanische Konzeptkünstler Robert Barry verschickte 1969 eine Einladungskarte zu einer Ausstellung, auf der nur stand „During the exhibition the gallery will be closed“ (und so war es dann auch); im argentinischen Rosario schloss die Gruppe Tucuman Arde 1968 die BesucherInnen einer Ausstellungseröffnung in der ansonsten leeren Galerie ein. Arbeiten wie diese zielten auf mehrere Aspekte zugleich: darauf, dass der Galerie-Raum „die endgültige Umwandlung der Alltagswahrnehmung zu einer Wahrnehmung rein formaler Werte“ vollzieht, wie Brian O´Doherty es in seinem zum Klassiker gewordenen Aufsatz „In der weißen Zelle“ beschreibt;[2] darauf, dass die Kunstinstitution manche Menschen ausschließt und anderen im Kunstgenuss Zusammengehörigkeit stiftet; aber auch darauf, dass künstlerische Arbeit nicht nur in der Produktion von „Werken“, also Produkten, besteht, sondern auch in Konzepten und Prozessen (wie etwa denjenigen, die Exklusionen theoretisieren).

Sich dieser Logik der Bilder-als-Produkte zu entziehen, darum ging es auch D´Arcangelo. Schwarzweißfotos seiner Aktionen liegen in einer Mappe aus, sie sind aber ausdrücklich nicht die Kunstwerke, sondern dienen nur der Bezeugung seiner Performances und Museumsinterventionen. Am 8. März 1978 hängte er im Pariser Louvre ein Gemälde ab und stellte es auf den Fußboden. An die Stelle des Bildes pinnte er einen Zettel mit der Frage „Wann sehen sie sich ein Gemälde an, wo sehen sie sich dieses Gemälde an?/ Was ist der Unterschied zwischen einem Gemälde an der Wand und einem auf dem Boden?“[3] Das Museum stattet nicht nur Gegenstände mit Wert aus, es lenkt auch die Blicke der BetrachterInnen. Diese Einübung des Blicks hat schließlich auch Auswirkungen außerhalb des Kunstraums. Darauf machte D´Arcangelo auch in einer Ausstellungsbeteiligung im Los Angeles Institute of Contemporary Art (LAICA) im Januar 1977 aufmerksam. In seinem Statement „LAICA as an Alternative Museum“ richtet sich seine Aufmerksamkeit auf die KuratorInnen. Die AusstellungsmacherInnen würden auf der Basis ihrer eigenen Vorlieben von Kunst, Kunstgeschichte, Ästhetik, Politik, Ökonomie etc. Werke auswählen, sie platzieren und damit „die Art und Weise kontrollieren, wie wir Kunstwerke und im weiteren Sinne die Welt betrachten.“ Schon früh kritisiert er hier die Rolle des Kurators/der Kuratorin und spricht gar von einer „kuratorischen Kontrolle“. Die Position der KuratorInnen hatten sich im Kunstfeld erst Anfang der 1970er Jahre als entscheidungstragende und prestigeträchtige etabliert. Im LAICA-Heft zur Ausstellung hat D´Arcangelo die Seiten nach seinem Statement leer gelassen. Hier sollte das Publikum sozusagen selbst das Kuratieren übernehmen. Eine gleichberechtigte Beteiligung des Publikums strebte er auch in der Aktion „The Open Museum Proposal“ („Vorschlag für ein offenes Museum“) an, die er am 23. Juli 1975 im New Yorker Metropolitan Museum of Art durchführte. Das Museum als Institution, heißt es in dem Text, bestimme den „Wert von Objekten und Aktivitäten“. Es sei ein „Kriterien-Raum“ („criteria space“), der „ein unausgeglichenes Wertsystem in der Welt“ produziere. Die dann folgenden Vorschläge zielen darauf ab, dass die Leute ihre eigenen Dinge (oder auch Aufführungen) mit ins Museum bringen und von diesem sogar per Radio und Fernsehen dazu aufgefordert werden sollten. Sieben Tage lang sollte für deren Aufbewahrung und Wertschätzung gesorgt sein. Der Vorschlag wurde, wie unschwer vorstellbar, nicht angenommen. Im New Yorker Artists Space war er neben Louise Lawler, Adrian Piper und Cindy Sherman (die alle drei später mehr oder weniger weltberühmte Künstlerinnen wurden) zur Ausstellung geladen. Er beteiligte sich wieder mit kritischen Texten („Four Texts for Artists Space“) und ließ seinen Namen von der Einladungskarte entfernen, die folglich mit einer Lücke begann. Der Platzierung von Namen ist einer der wichtigsten Mechanismen des Kunstbetriebes, darin tradiert sich die Idee vom Schöpfer-Genie und geht nahtlos in die Celebrity-Kultur über. Auch gegen diese Art der Institutionalisierung richtete sich D´Arcangelo. Im Jahr darauf nahm er sich nach nur vierjährigem Schaffen das Leben.
Zum Kanon der Institutionskritik gehört er bislang nicht. Während der historischen Institutionskritik neben Daniel Buren Künstler wie Michael Asher, Hans Haacke, Marcel Broodthaers und John Knight zugerechnet werden, kam es in den 1990er Jahren zu einem neuen Aufschwung der Institutionskritik. Hier trat vor allem Andrea Fraser mit verschiedenen Untersuchungen des Kunstfelds in Erscheinung. Wie sinnvoll allerdings solche namentlichen Zuordnungen sind, die immer auch Kanonbildung betreiben und dabei die einen auf- und die anderen abwerten, hat die Institutionskritik selbst am besten in Frage gestellt. [4] Vielleicht ließe sich Institutionskritik daher besser an Haltungen – die eigene Arbeit auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit hin zu befragen – festmachen als an Namen.

Kunstgeschichte ohne soziale Bewegungen

Wo der Begriff erstmals verwendet wurde, ist, wie so oft, umstritten.[5] Eine viel zitierte Quelle ist etwa der Aufsatz des Kunsthistoriker Benjamin H.D. Buchloh „Von der Ästhetik der Verwaltung zur institutionellen Kritik“ (1990). Darin beschreibt er die seines Erachtens wesentlichen Merkmale der konzeptuellen Kunst zwischen 1962 und 1969.[6] Er nennt als diese zentralen Charakteristika die „Erosion der Hegemonie des Visuellen und der ästhetischen Erfahrung als einer scheinbar autonomen und unabhängigen [Erfahrung] [...]“[7] und leitet sie aus den kunsthistorischen Entwicklungen seit Marcel Duchamps ready mades her. Duchamps unbearbeitete Alltagsgegenstände im Museum (Flaschenständer, Pissoir etc.) hatten bereits darauf hingewiesen, dass es für ein Kunstwerk weder eine/n begnadete/n SchöpferIn braucht noch eine schöne, visuell zu erfassende und zu genießende Schöpfung. Institutionelle und konventionelle Beglaubigungen (in Form des Ausstellungsortes bzw. der Künstlersignatur) waren wichtiger dafür, dass ein Gegenstands als Kunstwerk anerkannt wurde. Buchloh allerdings belässt es bei der Ausbuchstabierung dieser kunstinternen Genealogie. Auf die Idee, dass ästhetische Erfahrungen auch noch anders gerahmt sind als durch Kunstinstitutionen, kommt er nicht. Auch dass die „Hegemonie des Visuellen“ noch aus anderen als kunstinternen Gründen gebrochen werden könnte, darauf geht er ebenfalls nicht ein – obwohl er am Ende von der „Abschaffung von Objektstatus und Warenform“[8] spricht, die in der Kunst letztlich immer misslingen müsse. Die Verbindung zu außerkünstlerischen Kritiken an Institutionen wird nicht hergestellt. Buchlohs Position ist paradigmatisch für diese Art Selbstabschließung der Kunstgeschichte. Obwohl gleichzeitig mit dem Aufkommen der künstlerischen Institutionskritik Ende der 1960er Jahre die Kritik an gesellschaftlichen Institutionen, an deren autoritärer Struktur ebenso wie an ihrer kapitalistischer Ausrichtung, auf den Straßen tobte, bleibt die kunsthistorische Beschreibung ganz bei ihrem Gegenstand. Soziale Bewegungen kommen nicht vor. Nicht einmal dann, wenn Institutionskritik, wie bei der institutionskritischen Künstlerin Andrea Fraser, als eine definiert wird, die sich „vor allem auf Orte als gesellschaftliche Orte, strukturierte Formationen aus (in der Hauptsache gesellschaftlichen) Verhältnissen“ beziehe.[9]

Institutionskritik und Anarchie

Die Arbeit von Christopher D´Arcangelo könnte hier mal wieder etwas Bewegung in die Geschichte bzw. in die Geschichtsschreibung bringen. Denn seine Bezugnahme auf radikale, institutionskritische Bewegungsströmungen ist dermaßen explizit, dass es selbst KunstwissenschaftlerInnen schwer fallen dürfte, sie zu ignorieren.[10] D´Arcangelo stellte seinen Museumsinterventionen fast immer folgendes Statement anbei: „When I state that I am an anarchist, I must also state that I am not an anarchist, to be in keeping with the (....) idea of anarchism. Long live anarchism.“ In seiner ersten dokumentierten Aktion, benannt nach dem Ort ihres Stattfindens (Whitney Museum of American Art, New York, 31.01.1975) hatte er sich diese Sätze mit Schablonenbuchstaben auf den Rücken schreiben lassen. Mit einer Kette fesselte er sich an die Eingangstür und verschloss diese damit. Das Gesicht hatte er zur Tür gerichtet, sein Oberkörper war nackt, so dass die potenziellen MuseumsbesucherInnen gezwungen waren, statt den ausschließenden Kunsttempel zu betreten, von Anarchie zu lesen.

Dass die diesjährige D´Arcangelo-Retrospektive im New Yorker Artists Space „Anarchism without adjectives“ heißt, ist einer Interpretation der AusstellungsmacherInnen zu verdanken. Sie leiteten aus der Auslassung in D´Arcangelos Statement, den Punkten bzw. Strichen in Klammern, das Aussparen eines Adjektivs und damit den Bezug zu einem historischen Slogan ab: Im November 1889 hielt der kubanische Anarchist Fernando Tarrida del Mármol (1861–1915) in Barcelona eine Rede mit dem Titel „anarquismo sin adjetivos“ („Anarchismus ohne Adjektive“). Der Text erschien im Jahr darauf in der anarchistischen Zeitschrift La Révolté in Paris.[11] Er forderte zum Zusammenhalt der verschiedenen anarchistischen Kräfte auf. Tarrida de Mármols Plädoyer war vor allem darauf gerichtet, sich auf die gemeinsamen Ziele zu konzentrieren, anstatt die adjektivische Konkretisierung – kollektivistisch, kommunistisch etc. – des Anarchismus überzubetonen.[12] Nach Michail Bakunins Tod (1876) waren die Streitigkeiten zwischen den anarchistischen Strömungen neu entbrannt.

In den inner-anarchistischen Flügelkämpfen ging es u.a. immer auch um die Frage der angemessenen Organisierung. Diese Frage war auch deshalb so heiß umkämpft, weil im Anarchismus – anders als in anderen Teilen der sozialistischen Bewegung – die Organisationsform schon die Prinzipien der befreiten Gesellschaft vorwegnehmen soll(te). In dem Streit, ob die angestrebte enge Beziehung zwischen Mittel und Zweck des Kampfes besser in Räten, Geheimbünden oder in Kommunen zum Ausdruck komme, steckt selbst schon ein institutionskritischer Impuls: Die (lebendige, dynamische, relativ spontane) Organisation sollte keine (nach bloß formellen Regeln funktionierende, starre und relativ statische) Institution werden.

Anarchistische Institutionskritik war in diesem Sinne häufig rigoros. Sie richtete sich nicht nur gegen konkrete Institutionen (wie die Partei), sondern auch gegen gesellschaftliche Institutionalisierungen im Sinne bestimmter gesellschaftlicher Sondersphären mit eigenen Regeln wie etwa „Kunst“ oder auch „Politik“. Wenn etwa Anarchisten wie Herbert Read (1893–1968) sich als „unpolitisch“ beschreiben, meinen sie in der Regel gerade nicht die Abkehr von den sozialen und ökonomischen Belangen, die alle betreffen. Was abgelehnt wird, ist die vom Alltag abgetrennte, staatlich organisierte, bürokratisch verwaltete, von ExpertInnen betriebene Institutionalisierung von Politik. [13] Herbert Read ist in diesem Zusammenhang nur ein Beispiel, aber insofern ein gutes, als er diese Ablehnung auch hinsichtlich der Kunst beschrieben hat. Auch die Kunst ist seit ihrer Separierung vom Handwerk so eine Sondersphäre, vom Alltäglichen abgespalten und nach bestimmten eigenen Regeln funktionierend. „Zur Hölle mit dem Künstler“, schrieb Read deshalb – selbst Kunsthistoriker.[14] Denn als VertreterIn eines separaten Berufstandes könne der/die KünstlerIn nur privilegierte/r RepräsentantIn dieser separaten Einheit „Kunst“ oder „Kultur“ sein, anstatt ein/e ArbeiterIn von vielen. In der gerechten Gesellschaft gebe es nurmehr gleichwertige ArbeiterInnen. (Dass Read diese utopische Gesellschaft immer „natürliche Gesellschaft“ nennt, hat er ebenfalls mit anderen AnarchistInnen gemein. Diese Idee gründet auf der Vorstellung, man müsse die Gesellschaft nur von ihrer kapitalistischen und staatlichen Überformung befreien und zum Vorschein käme die eigentliche, eben natürliche Gesellschaft. Abgesehen davon, dass jede „gesellschaftliche Natur“ immer nur die politisch motivierte Erzählung über diese „Natur“ ist, hat diese Vorstellung viele anarchistische Kämpfe zu antimodernistischen und rückwärtsgewandten werden lassen.)

Mit der zunehmenden Autonomisierung des künstlerischen Feldes, also der Ausbildung und Ausgestaltung von „Kunst“ als separatem sozialen Praxisfeld in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, spaltete sich auch die anarchistische Bezugnahme darauf: Zum einen ließen sich anarchistisch gesinnte, aber bürgerliche KünstlerInnen – wie etwa die bekannten Neo-Impressionisten Camille Pissarro und Paul Signac – auf diese Trennung ein und gewannen Anerkennung im Kunstfeld. Zum anderen existierte eine eher proletarische, autodidaktische Kunst, die mit dem Alltagsleben verknüpft blieb, dafür aber keine gesellschaftliche Legitimation erfuhr.[15]

Motive, Maßstab und Kritik

Beide Strömungen, bürgerliche „Anarcho-Ästheten“ und proletarische Milieus der „Selbstvergesellschaftung“ (Halfbrodt), blieben allerdings aufeinander bezogen. Damit ist nicht nur gemeint, dass etwa Pissarro anarchistische AktivistInnen nach der Niederschlagung der Pariser Commune finanziell unterstützte und La Révolté im Abo hatte. Sondern es geht um die strukturelle Bezogenheit einiger Kunstströmungen wie eben auch der Institutionskritik auf die Motive und Motivationen sozialer Bewegungen. Nicht nur die Ausformulierung und Radikalisierung künstlerischer Probleme (Duchamps Infragestellung), sondern auch die Problematisierungen sozialer Bewegungen (Bakunins Erbe) werden – ob bewusst oder nicht – in der Kunstproduktion verhandelt. Sie sind ihr ein möglicher Impuls: „Ich frage mich auch, warum zur Hölle ich überhaupt noch in diesem Feld arbeite“, schreibt ein angesichts der Ermordung Martin Luther Kings 1968 von der gesellschaftlich-emanzipatorischen Wirkungslosigkeit der Kunst empörter Hans Haacke (der zum Glück Antworten fand).[16] Würde es die immanente – und von der zeitgenössischen Kunstgeschichte so gründlich ausgeblendete – Verknüpfung der Kunstproduktion mit den Anliegen sozialer Bewegungen nicht geben, Haackes Frage wäre absolut sinnlos.

Ähnliches lässt sich für D´Arcangelo behaupten. Sich nicht als Anarchisten bezeichnen zu wollen, um doch dem Anarchismus gerecht zu werden, wie es in D´Arcangelo Statement heißt, ist vielleicht eine Konsequenz aus dem grundsätzlichen Zwiespalt: sich an einem System zu beteiligen, das man eigentlich als solches ablehnt. Institutionskritik muss – und kann – angesichts allgegenwärtiger gesellschaftlicher Institutionen (im konkreten wie allgemeinen Sinne) nicht heißen, nur „gegen Institutionen“ zu sein. Die „Kritik“ in Institutionskritik kann auch eine reflektierte Haltung zum Ausdruck bringen, die die eigene Involviertheit nicht leugnet und sich dennoch bzw. gerade deshalb um ein distanziertes Bewegen in den Institutionen bemüht.[17] Die Distanz besteht im Fall D´Arcangelo in der künstlerischen Analyse der Machtbefugnisse jener Institutionen, deren Teil der/die KünstlerIn als KünstlerIn selber ist. Der Produktion von warenförmigen Produkten verweigerte er sich weitest gehend. Mit dem ausdrücklichen Anarchismus-Bekenntnis stellt D´Arcangelo sich und den BetrachterInnen immer auch einen außerkünstlerischen Maßstab für sein Kunstschaffen zur Seite und Verfügung. Er nutzt als Künstler damit die Möglichkeit, die strukturelle Bezogenheit auf soziale Bewegung noch zu betonen. Daniel Buren hingegen, längst einer der erfolgreichsten GegenwartskünstlerInnen der Welt, ließ die vormals geniekult- und institutionskritischen Streifen zu seinem Markenzeichen werden. Bei den Skulptur Projekten in Münster 1997 etwa hingen sie als Wimpelketten wie zur Behübschung bei Stadtfesten über der Haupteinkaufsstraße. Das ist die andere Möglichkeit.

Jens Kastner


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[1] Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 2001, S. 362.

[2] Brian O´Doherty: In der weißen Zelle. Berlin: Merve Verlag 1996, S. 10.

[3] Das Statement wurde auf Französisch aufgehängt und in der Künstler-Mappe zusätzlich auf Englisch dokumentiert. Diese und die folgenden Übersetzung aus dem Englischen: JK. Neben den beiden, auf der Seite oben platzierten Fragen stand ganz unten auf dem Blatt hier weiter unten erläuterte Satz, den D´Arcangelo nahezu allen seinen Arbeiten hinzufügte: „When I state that I am an anrchist...“

[4] Vgl. Stefan Nowotny: „Anti-Kanonisierung. Das differenzielle Wissen der Institutionskritik.“ In: Stefan Nowotny/Gerald Raunig: Instituierende Praxen. Bruchlinien der Institutionskritik. Wien: Verlag Turia + Kant 2008, S. 11-20.

[5] Vgl. etwa Isabelle Graw: „Jenseits der Institutionskritik. Ein Vortrag im Los Angeles County Museum of Art.“ In: Texte zur Kunst, Berlin, Heft Nr. 59/ September 2005, S. 40-53.

[6] Benjamin H. D. Buchloh: „Von der Ästhetik der Verwaltung zur institutionellen Kritik. Einige Aspekte der Konzeptkunst von 1962-1969“. In: Städtische Kunsthalle Düsseldorf/ Syring, Marie Luise (Hg.): Um 1968. Konkrete Utopien in Kunst und Gesellschaft. Köln: Dumont 1990, S. 86-99.

[7] Ebd., S. 89.

[8] Ebd., S. 97.

[9] Andrea Fraser: „Was ist Institutionskritik?“ In: Texte zur Kunst, Berlin, Heft Nr. 59/ September 2005, S. 86-89, hier S. 87.

[10] In der Kunstgeschichtsschreibung zum Konzeptualismus in Lateinamerika ist das durchaus anders, hier werden Strukturähnlichkeiten zu zeitgleichen sozialen Bewegungen durchaus mitgedacht, vgl. etwa Luis Camnitzer: Conceptualism in Latin American Art: Didactics of Liberation. Austin, TX: Texas University Press 2007.

[11] Der Text ist als „Brief an La Révolté“ auf Spanisch im Netz zu finden: es.wikisource.org/wiki/Carta_de_Fernando_Tarrida_del_M%C3%A1rmol_a_La_R%C3%A9volte [21.09.2011]

[12] Tarrida de Mármol spielte auch eine nicht unbedeutende Rolle für die Verbreitung anarchistischer Ideen in den antikolonialen Befreiungskämpfen gegen die spanische Kolonialmacht am Ende des 19. Jahrhunderts, vgl. Benedict Anderson: Under Three Flags. Anarchism and the Anti-Colonial Imagination. London/New York: Verso 2005.

[13] Herbert Read: „Die Politik der Unpolitischen.“ In: Herbert Read: Kunst, Kultur und Anarchie. Politische Essays wider den Zeitgeist. Hrsg. von Ulrich Klemm. Grafenau: Trotzdem Verlag 1991, S. 45-59.

[14] Herbert Read: „To Hell with Culture.“ In: Herbert Read: To Hell with Culture and other Essays on Art and Society. London/ New York: Verso 2002, S. 10-36, hier S. 23.

[15] Vgl. Michael Halfbrodt: „Kritik der Trennungen. Eine historisch-soziologische Skizze zum Verhältnis von Anarchismus und Kunst.“ In: Graswurzelrevolution (Hg.): Gewaltfreier Anarchismus. Herausforderungen und Perspektiven zur Jahrhundertwende. Heidelberg: Verlag Graswurzelrevolution 1999, S. 125-152.

[16] Hans Haacke: „Letter, April 1968.“ In: Will Bradley und Charles Esche (Hg.): Art and Social Change. A Critical Reader. London: Tate Publishing 2007, S. 174.

[17] Vgl. hierzu auch Nowotny/Raunig 2008, a.a.O.