in: springerin. Hefte für Gegenwartskunst, Band XVIII, Heft 2, Frühjahr 2012, Wien, S. 75-76.

Raúl Zibechi: Territorien des Widerstands. Eine politische Kartografie der urbanen Peripherie Lateinamerikas. Aus dem Spanischen von Kirsten Achtelik und Huberta von Wangenheim. Berlin/ Hamburg 2011, Verlag Assoziation A, 173 S., 16 Euro.

Text: Jens Kastner

Über soziale Bewegungen zu reflektieren, bedeutet immer auch, die Bewegungsformen in der Analyse zu spiegeln. Zumindest sollte es das bedeuten, wenn es nach verschiedenen ForscherInnen und TheoretikerInnen geht, die in den letzten zwei Jahrzehnten die sozialen und politischen Basismobilisierungen in Lateinamerika beobachtet haben. Einer von ihnen ist Raúl Zibechi. Wie die VertreterInnen des Cultural Politics-Ansatzes in der Bewegungsforschung – Sonia Álvarez, Arturo Escobar u.a. – zielt Zibechi darauf, die Anliegen und Praktiken der Bewegungen auch theoretisch ernst zu nehmen: Nicht kurzfristige Kampagnen-Erfolge gilt es demnach zu bewerten, sondern die längerfristigen Veränderungen in der politischen Kultur (und der Kultur des Politischen) in den Fokus zu rücken. An Bewegungen etwa, die es nicht auf Repräsentanz im bestehenden politischen System abgesehen haben, sollte der Grad an Institutionalisierung auch nicht als Erfolgsmaßstab angelegt werden. Zibechi aber geht es nicht nur um solch epistemologische Anerkennung sozialbewegter Praktiken.
Anders als die meisten seiner GesinnungsgenossInnen der Cultural Politics-Fraktion ist der aus Uruguay stammende Zibechi kein akademischer Forscher. Er ist selbst Aktivist und hält sich mit libertären politischen Ansprüchen auch an seine und in seinen Studien nicht zurück. Als engagierter Journalist gehört er zu den seit einigen Jahren umtriebigsten und auch theoretisch interessantesten BewegungsforscherInnen der Amerikas. Er hat zum zapatistischen Aufstand in Mexiko und zu den Revolten in Argentinien nach der Krise 2001/2002 publiziert, sowie Aufsätze zur Theorie der Autonomie geschrieben, sein erstes auf Deutsch erschienenes Werk untersucht – und feiert – die indigen geprägten Mobilisierungen im Bolivien der 2000er Jahre („Bolivien – Die Zersplitterung der Macht“, Hamburg 2009). Sein aktuelles Buch handelt von städtischen Peripherien und beschreibt diese mit Beispielen aus unterschiedlichen Ländern Lateinamerikas als Orte, an denen sich über die letzten fünfzig Jahre hinweg immer wieder dissidente Praktiken und deviante Lebensentwürfe entwickelt haben. Der Titel „Territorien des Widerstands“ lässt, vor dem Hintergrund der Analyse einer neoliberalen Ökonomisierung des Sozialen, kaum einen Zweifel daran, was Zibechi von diesen urbanen Praktiken hält. Er beansprucht nicht weniger, als die subalternen Klassen als „Gegenmächte von unten“ zu schildern. Diese richten sich Zibechi zufolge aber nicht nur gegen die rechten Phalanxen aus Militär und weißer Oberschicht, sondern auch gegen die linken Regierungen und ihre sozialstaatlichen Projekte. Es sei nämlich eine Besonderheit Lateinamerikas, argumentiert Zibechi mit Michel Foucault, dass verstärkt „biopolitische Methoden“ der Führung und Kontrolle eingesetzt würden und zwar vornehmlich von „progressiven Regierungen mittels sozialer Programme.“

Zibechis Fokus auf selbstorganisierte Basisinitiativen ist insofern doppelt programmatisch: Einerseits schreibt er Phänomene, die häufig gar nicht als politisch wahrgenommen wurden, in eine politische Geschichte ein. Milchkomitees, Mütterclubs, Menschenrechtsgruppen und viele andere Praktiken, die aus den Rastern von Linksparteien und Bewegungsforschung heraus gefallen waren, werden damit wertgeschätzt. Andererseits beschreibt Zibechi diese Initiativen, in denen ihm nach auch „andere Beziehungen“ verkörpert und „nicht-hegemoniale Lebensweisen“ ausgebildet werden, zudem als politische Gegenmodelle gegen die Biopolitik der Sozialprogramme und den Ausnahmezustand der Militarisierung. In sie setzt er seine antistaatlichen Hoffnungen und spricht sich gegen Bündnispolitiken mit Gewerkschaften, Parteien und anderen Apparaten aus.

Dabei ist er redlich bemüht, diese „eigene Welt“, die im mehrfachen Abseits der Randbereiche von Städten und politischen wie wissenschaftlichen Aufmerksamkeitsökonomien entstanden sei, an Beispielen zu erläutern und sie dabei nicht zu essenzialisieren. Letzteres allerdings gelingt nur in Maßen. Denn so gewinnbringend es ist, soziale Bewegungen als „Möglichkeit zu fließen, Verschiebung, Zirkulation“ von Räumen und Identitäten zu denken, und nicht mehr bloß an den Mobilisierungsstrukturen, der Konstruktion kollektiver Identitäten und den Methoden des Kampfes zu messen, so notwendig wäre es, die Gelingensbedingungen solcher Verschiebungen zu diskutieren. Dies nicht zu tun, verbindet ihn mit anderen Theoretikern, die den Erfolg von Bewegungspraktiken als „Aufbrechen“ des Kapitalismus (John Holloway) oder als „Dissens“ (Jacques Rancière) einfach setzen, als verstünde sich die Gültigkeit performativer Akte von selbst. Bei Zibechi fußt diese Setzung zudem auf einer problematischen Grundannahme. Schon im Bolivien-Buch hatte er fast apodiktisch erklärt, die „Mobilisierung der Armen“ habe „einen aufständischen Charakter“. Jetzt spricht er von der „generellen Widerständigkeit“ jener „von unten“, der Marginalisierten. Man wünschte, es wäre so. Aber selbst wenn das in Lateinamerika in der ein oder anderen Vorstadt irgendwann in den letzten fünfzig Jahren zugetroffen haben mag, von der Geschichte der Arbeiterbewegung bis zu den aktuellen Wahlerfolgen der ultrarechten Parteien in ganz Europa – auch wenn diese keinesfalls ausschließlich von den Armen getragen wurden – sind die Gegenbeweise leider erdrückend. Da Zibechi aus der zweifelhaften Diagnose, „Territorien der Emanzipation“ könnten überall in ärmeren Gegenden und auf der Grundlage geteilter Alltagssolidaritäten entstehen, auch seine politischen Folgerungen zieht (soziale Bindungen statt Bündnispolitiken), müssen auch diese an strategischer Attraktivität einbüßen.


Mehr zum Thema Soziale Bewegungen in Lateinamerika:

Magón, Ricardo Flores (1874–1922) and the Magonistas
International Encyclopedia of Revolution and Protest, ed. Immanuel Ness, Blackwell Publishing, 2009, pp. 2161–2163. [Initiates file downloadDownload Lexikoneintrag als pdf]

Im Alltag verankert

Raúl Zibechi über soziale Bewegungen in Bolivien und die Zersplitterung der Macht als politisches Prinzip
in: Lateinamerika Anders. Österreichs Zeitschrift für Lateinamerika und die Karibik, Nr. 2/2009, 34. Jg., Wien, Mai 2009, S. 32-33. [Opens internal link in current windowArtikel lesen]

"Sie sind alle gleich"
Der Sprecher der Zapatistischen Befreiungsarmee EZLN äußert sich zur politischen Klasse in Mexiko, zur Lage in Chiapas – und zu seinen Rauchgewohnheiten.
in: graswurzelrevolution, Nr. 339, Münster, Mai 2009, S. 17. [Opens internal link in current windowArtikel lesen]

„Wir haben keine Linie, wir sind reine Kurven“
Das FrauenLesbenkollektiv Mujeres Creando in Bolivien
in: Lateinamerikanachrichten, Nr. 391, Berlin, Januar 2007, S. 62-64.
Opens internal link in current window[Artikel lesen]

Modifizierte Stärke
Soziale Bewegungen in Lateinamerika im Überblick
in: Grundrisse, Nr. 20, Wien, Winter 2006, S. 12-18.
[Artikel in Grundrisse lesen]

Wille zur Freiheit
Autonomie in der entwicklungspolitischen Diskussion
in: iz3w, Nr. 294, Freiburg, Juli/August 2006, S. 16-19.
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Supermarkt und Sonnenpyramide
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„Kulturpolitik“ in San Juán Teotihuacan, Mexiko
in: Kulturrisse, Nr. 80, Wien, 01/2005, S. 13-15.
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Vom Ruf nach Unabhängigkeit
Autonome Selbstorganisation und Repression in Oaxaca/Mexico
in: ILA, Nr.280, Bonn, November 2004, S.49-50.
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