in: ILA, Nr.280, Bonn, November 2004, S.49-50.

Vom Ruf nach Unabhängigkeit
Autonome Selbstorganisation und Repression in Oaxaca/Mexico

Von Jens Kastner

Der sechzehnte September ist in Mexiko Nationalfeiertag. In jeder noch so kleinen Stadt, die über ein Rathaus mit Fenster oder Balkon zum Zocalo, dem zentralen Platz hinaus verfügt, tritt am Abend zuvor der Bürgermeister ebendort auf und wiederholt den „Grito de Dolores“, den Ruf zur Unabhängigkeit. Das Original wurde 1810 vom liberalen Pfarrer Miguel Hidalgo ausgerufen und leitete die Loslösung Mexikos von der spanischen Kolonialmacht ein. Den gnzen Monat über sind Schaufenster, Marktstände und Regierungsgebäude mit Nationalfahnen geschmückt, die Feierlichkeiten sind ein Fest der nationalen Eintracht. Zweiflerische oder potenziell spaltende Tendenzen, wie sie beispielsweise protestierende Indígenas repräsentieren, werden da weder gebraucht noch geduldet. Nur so ist es zu erklären, dass am frühen Morgen des 14. Septembers in Oaxaca, der Hauptstadt des gleichnamigen mexikanischen Bundesstaates, über 200 Spezialeinsatzkräfte verschiedener Polizeieinheiten eine Mahnwache des Indigenen Populären Rates von Oaxaca (CIPO-RFM) stürmten. Das direkt vor dem Regierungspalast aufgebaute Camp wurde von den Indigenen und ihren UnterstützerInnen seit dem 20. April betrieben, um, wie es auf einem Flugblatt des CIPO heißt, „Gerechtigkeit“ einzuklagen. Ohne Vorwarnung waren die PolizeibeamtInnen gegen die im Schlaf überraschten Protestierenden mit Tränengas und Knüppeln vorgegangen und hatten 15 von ihnen verhaftet.

„Wo es Indígenas und Armut gibt“, sagt Oliver Ninero vom in San Cristobal de las Casas/Chiapas ansässigen „Zentrum für politische Analyse und soziale und ökonomische Forschungen“ (CAPISE), „gibt es Militär“. Das unabhängige Forschungsinstitut hatte kürzlich eine Studie zum Vorgehen des mexikanischen Militärs in Krisenregionen veröffentlicht. Im Bundesstaat Oaxaca mit seinen 3,4 Millionen EinwohnerInnen ist – wie in den benachbarten Staaten Chiapas im Südosten und Guerrero im Nordwesten – der Indígena-Anteil hoch und die Armut groß. Die meisten Indígenas sind Teil jener Hälfte aller MexikanerInnen, die unter der Armutgrenze leben. Vor allem indigene Frauen gehören zu den 21 Prozent der Bevölkerung Oaxacas, die nicht lesen und schreiben können. Aber ebenso wenig, wie Elend zwangsläufig zum Aufstand führt, muss oder kann dieser immer mit militärischen Mitteln eingedämmt werden. Die Konflikte allerdings, die die Situation im benachbarten Chiapas nicht erst seit den letzten zehn Jahren prägen, sind in Oaxaca durchaus ähnlich gelagert: Ungleiche Landverteilung, rassistische Diskriminierung, Arbeitslosigkeit und Armut.

Aus den über 570 Landkreisen in Oaxaca haben sich mittlerweile 32 Gemeinden im CIPO-RFM organisiert. Die 1997 aus verschiedenen Spaltungen und Neuzusammensetzungen indigener Gruppen hervorgegangene Organisation bezieht sich in ihrem Namen auf den ebenfalls aus Oaxaca stammenden Anarchisten Ricardo Flores Magón (1873-1922). Flores Magón ist der eigentliche Erfinder des Slogans, der durch den – alten wie neuen – Zapatismus zu Weltruhm gelangte: „Land und Freiheit“. Er hatte die Gemeinschaftsvorstellungen der indigenen Gemeinden für eine moderne Gesellschaft dienstbar machen wollen. Gemäß den Ideen seines Namenspatrons begreift sich der CIPO-RFM auch nicht allein als indianische Interessenvertretung. „Sicherlich ist es der Kampf der Indígenas“, sagt César Chávez, einer der Mitbegründer des CIPO, „aber es kann kein indigenistischer Kampf sein“. Dem Rat gehören so nicht nur indigene Gemeinden, sondern beispielsweise auch Taxi-Kooperativen an. Solche gibt es sowohl in der Provinzstadt Tlaxiaco im Norden wie auch an der Küste, im hauptsächlich von US-amerikanischen Surfern frequentierten Badeort Puerto Escondido. Auf dem vom CIPO-RFM organisierten „Nationalen Treffen der Autonomien“ Ende August diesen Jahres fanden sich denn auch einige Punks ein. Wie die wenigen Intellektuellen aus Mexiko-Stadt, die auf dem Treffen erschienen waren, hatten auch sie den Weg zum zweieinhalb Stunden von der nächsten befestigten Straße gelegenen Austragungsort namens Plan de Zaragoza nicht gescheut.

Während sich im benachbarten Chiapas mit Beginn des zapatistischen Aufstandes 1994 38 Landkreise für autonom erklärten und diese Autonomie seit der Einrichtung neuer Verwaltungseinheiten im August 2003 verstärkt umsetzen, stehen die Bemühungen zur Autonomie in Oaxaca allerdings noch ganz am Anfang. „Mit dem Zapatismus“, sagt Chávez, „haben wir die Ziele gemein, aber die Wege unterscheiden sich – wir sind nicht bewaffnet“. Der Ruf nach Unabhängigkeit nimmt je nach Region verschiedene Töne an. Trotzdem verbindet den Rat von Oaxaca aber noch etwas mit der zapatistischen Befreiungsarmee (EZLN): Die gegen beide ausgeübte Repression. Im Angesicht von über 500 Verhafteten und 27 Ermordeten aus den eigenen Reihen und bis zu den Ereignissen im September schon über Hundert Übergriffen von Polizei und Paramilitärs gegen Versammlungen, Orte und einzelne Mitglieder Organisation, verwundert die zu simplifizierenden Feindbildern neigende Rhetorik des CIPO-RFM nicht. Als „Paramilitärs“ werden José Murat, der gegenwärtige Gouverneur von Oaxaca, und Ulises Ruiz, sein mutmaßlicher Nachfolger, in einer Mitteilung zu den Verhaftungen und den auch in den folgenden Tagen um und nach dem Nationalfeiertag nicht abreißenden Übergriffen bezeichnet. Murat, der als Hardliner jener Regierungspartei gilt, die ganz Mexiko bis zum Jahr 2000 71 Jahre lang regierte, der Institutionell Revolutionären Partei (PRI), nimmt zu den Vorwürfen nicht Stellung. Die Abräumaktion vor dem Nationalfeiertag wurde offiziell begleitet von Rubén Casanova Medellín, einem Mitarbeiter der Bundesbehörde für öffentliche Angelegenheiten. Gemeinsam mit dem Vertreter der staatlichen Menschenrechtsorganisation CEDH, Cuauhtemoc Cortés Ramírez, hatte er den Polizeieinsatz überwacht. Ausgelöst worden war dieser offiziell durch eine Beschwerde des Nationalen Institutes für Anthropologie und Geschichte, das nach fünf Monaten Mahnwache plötzlich das Gesetz zu „Gebäuden und archäologischen, künstlerischen und historischen Zonen“ verletzt sah.

Erscheint die Etikettierung führender Politiker durch den CIPO-RFM auch etwas grob und weder mit gegenwärtigen Herrschaftstheorien, noch mit dem Bild des „demokratischen Wandels“ im Schwellenland Mexiko vereinbar, hat sie doch ihren sozusagen materiellen Kern. Die staatliche und parastaatliche Gewalt, der sowohl der Neozapatismus als auch der neue Magonismus zum Opfer fallen, ist Teil einer Strategie, die in Lateinamerika spätestens seit den 1970er Jahren unter dem Namen „schmutziger Krieg“ bekannt ist. Unbequeme soziale Bewegungen, gegen die aus Legitimitätsgründen nicht militärisch vorgegangen werden kann, werden dabei durch Drohungen, paramililtärische Angriffe, Verleumdungen und polizeiliche Übergriffe mürbe gemacht. Selbst während einer Parade am Nationalfeiertag wurde im Beisein der feiernden Menge gegen CIPO-Mitglieder vorgegangen, ein fünfjähriges Mädchen und ihre Mutter dabei verletzt. Zwei Tage später, am 18. September griffen kurz nach zwei Uhr nachts etwa 100 mit Skimasken be- und ganz in schwarz gekleidete Polizisten die übrigen TeilnehmerInnen der ständigen Mahnwache an. Acht der 15 Verhafteten sind mittlerweile wieder auf freiem Fuß, gegen die verbleibenden sieben werden Vorwürfe wegen „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ und „Gefahr für die Gesellschaft“ erhoben. Die Kautionen für die einzelnen Inhaftierten wurden auf Beträge zwischen 45.000 und 61.000 Pesos (ca.3.500 und 5.000 Euro) festgelegt.

Während die auf verschiedene Justizvollzugsanstalten im ganzen Bundesstaat verteilten Gefangenen der Septembertage von dafür eingeteilten GenossInnen besucht werden, laufen in einem kleinen Haus an der Straße Emiliano Carranza die Drähte bzw. der eine Telefondraht heiß. Hier, im Viertel Santa Lucia del Camino, mit dem Auto eine Viertelstunde vom historischen Zentrum entfernt, befindet sich das Büro des CIPO-RFM. Während in der unter einem Blechdach befindlichen Küche die obligatorischen Bohnen und Tortillas warm gemacht werden, empfangen einige CIPO-Deligierte nebenan im einzigen Raum des Hauses ein paar MenschenrechtlerInnen. Auch wenn sich die politische Elite Mexikos von solchen Leuten in der Regel wenig beeindrucken lässt, kann ihre Anwesenheit doch lebenserhaltend sein. Und dass sich ohne politischen Druck von außen an der nicht nur für CIPO-Mitglieder bedrohlichen Situation etwas ändern wird, davon ist nicht auszugehen. Am 28. September veröffentlichen sowohl die Interamerikanische Komission für Menschenrechte (CIDH) als auch der Präsident des mexikanischen Zentrums für Menschenrechte und Beratung der indigenen Bevölkerung (Cdhapi), Mauricio Santiago Reyes, ihre Protestnoten.

Nachdem der Gouverneur von Oaxaca also relativ ungestört sein Bekenntnis zur nationalen Unabhängigkeit hat rufen können, protestieren nun wieder die Indigenas im historischen Zentrum. Eine Reaktion von bundesstaatlicher Ebene blieb bislang aus. In den Kontext der Selbstherrlichkeit der politischen Klasse passen auch die kalendarischen Surroundings: Der durch die Revolution 1910 gestürzte, langjährige Diktator Porfirio Díaz hatte die nationalen Festlichkeiten nämlich vom 16. auf den 15. September vorverlegt, seinen Geburtstag.


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Olaf Kaltmeier, Jens Kastner und Elisabeth Tuider (Hg.):
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Münster 2004 (Verlag Westfälisches Dampfboot) 
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