in: Lateinamerika Anders. Österreichs Zeitschrift für Lateinamerika und die Karibik, Nr. 2/2009, 34. Jg., Wien, Mai 2009, S. 32-33.

Im Alltag verankert
Raúl Zibechi über soziale Bewegungen in Bolivien und die Zersplitterung der Macht als politisches Prinzip
 

„Die Bolivianer“, schreibt John Holloway, „haben das alte Regime nicht mittels Wahlen gestürzt, nicht mittels Parteien, sondern einfach, indem sie die Stärke der Gemeinschaft gegen die des Staates gestellt haben.“ Diese Analyse, die der libertäre Politikwissenschaftler hier im Vorwort zu Raul Zibechis neuem Buch vorlegt, muss irritieren: Schließlich geht es um das Land, in dem die „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS) sich als Partei formiert und dann mittels Präsidentschaftswahlen am 18. Dezember 2005 die Staatsmacht übernommen hat.

Dass Holloway dennoch nicht komplett daneben liegt, ergibt sich dann aus der Lektüre Zibechis. Die Zersplitterung der Macht ist das Prinzip, das der Journalist und Sozialwissenschaftler Raúl Zibechi in den basisdemokratisch organisierten Kämpfen in der Stadt El Alto bei La Paz ausmacht. Die meist der ethnischen Gruppe der Aymara zugehörigen Mitglieder der Bewegung hätten über Jahre Formen des sozialen und politischen Kampfes entwickelt, die in Nachbarschaftsversammlungen organisiert und damit im Alltag der Menschen verankert seien. Gerade diese Verankerung war es, so Zibechi, die die Bewegungen in den Kämpfen gegen die Privatisierung des Wassers (2000) und Gas (2003) so erfolgreich gemacht habe. Ziel sei dabei „die gesellschaftliche Macht, nicht der Staat“ (66) gewesen. Auch weil die Erfolge dieser Bewegung zum Wahlerfolg von Evo Morales beigetragen haben, kritisiert Zibechi die Rolle, die der Partei statt den Bewegungen seit der Regierungsübernahme eingeräumt wurde. Eine „hervorragende Chance zur Erprobung und Entwicklung einer neuen politischen Kultur“ (158) sei damit verspielt worden.

Zibechi zeigt überzeugend auf, dass das, was von außen als städtebauliches wie auch soziales „Chaos“ wirkt, viel besser als Ergebnis der „zerstreuenden  Aktivität der Aymara“ (57) begriffen werden könne. Durch diese Aktivität seien repräsentative Machtformen verhindert worden, in denen Wenige über Viele bestimmen. Zibechi jedenfalls zeichnet ein faszinierendes Bild von sozialen Gemeinschaften, in denen Eigentum und Verwaltung nicht getrennt auftreten und über gemeinsame Belange auch zusammen entschieden würde. Die Zersplitterung, beispielsweise in Form kleinerer Nachbarschaftsversammlungen bei größer werdender Einwohnerzahl, erscheint dabei gerade als Stärke und nicht als Schwäche der Bewegung. Und dass diese Gemeinschaften keine archaischen Gruppen auf ethnischer Grundlage sind, macht Zibechi überdeutlich. Die Gemeinschaften hätten sich als im Alltag verankerte soziale Bewegungen neu erfunden. Anders ist das auch kaum denkbar, denn 90 Prozent der heutigen BewohnerInnen der Stadt El Alto leben dort noch nicht viel länger als 30 Jahre.

Als Modell für hiesige Kämpfe eignen sich diese Gemeinschaften aber dennoch kaum. Zibechi betont deren gemeinsame Geschichte, jeweils Fabrik-, Minen- oder Landarbeiterfamilien aus derselben Region seien ins gleiche Viertel gezogen. Die Vorstellung, mit den Leuten aus der jeweiligen Herkunftsregion eine Bewegung zu bilden, dürfte den meisten metropolitanen Linken Westeuropas wohl eher als Albtraum denn als die aufziehende Morgenröte des Kommunismus erscheinen.

Die mangelnde Übertragbarkeit müsste dem genauen Beobachter Zibechi nicht vorgeworfen werden, wenn er aus dem Beschriebenen nicht selbst ein Modell machen wollte. Der Kommunismus, so Zibechi in Anlehnung an Marx, sei immer schon „potenziell in der kapitalistischen Gesellschaft vorhanden.“ Diese Potenzialität müsse entfaltet werden. Die Gemeinschaft eigne sich dazu sehr gut, denn sie sei als „Form der Beziehung zwischen Menschen“ (29) zu verstehen und diese sei zugleich – statt der Partei – als Organisationsform zu denken. Deshalb gelte es, die sozialen Beziehungen überall neu zu gestalten. Aber wie? Beispielsweise müsse die Bewegung einen Zeitbegriff entwickeln, der „internen Rhythmen“ folgt und nicht den „Rhythmen des Systems“ (19). Aber was sollte das für AkteurInnen in einer differenzierten modernen Gesellschaft bedeuten? Abläufe, Routinen, „Rhythmen“ einer nach Verwertungskriterien organisierten Zeit ziehen sich schließlich durch alle Lebens- und Arbeitsbereiche. Schwer vorstellbar, davon etwas originär „Eigenes“ abzugrenzen – gerade weil man die bestehenden Zeitabläufe längst zu seinen eigenen gemacht hat.
Ist der Notwendigkeit der Neugestaltung sozialer Beziehung im Allgemeinen noch zuzustimmen, sind aber die Konsequenzen, die Zibechi daraus zieht und als Vorschläge unterbreitet, durchaus in Frage zu stellen: Zum einen erschließt sich keineswegs von selbst, warum diese Neugestaltung außerhalb von El Alto unbedingt in der von Zibechi vorgesehenen Form der Gemeinschaft vonstatten gehen sollte. Zweifel sind hier nicht nur deshalb angebracht, weil dies angesichts der beschriebenen Spezifika anderswo höchst unwahrscheinlich wäre, sondern auch, weil die Form der Gemeinschaft selbst Ausschlussmechanismen und Homogenisierungen produziert, die nicht immer mit emanzipatorischen Ansprüchen zu vereinbaren sind. Und zum anderen ist anzuzweifeln, ob sich die Zuschreibung einer gewissermaßen immanenten Rebellion an bestimmte gesellschaftliche Sektoren noch halten lässt.
Denn neben der Frage nach dem Wie stellt sich schließlich eine weitere entscheidende Frage: Wer? Die Behauptung, die „Mobilisierung der Armen“ habe „einen aufständischen Charakter“ (25) lässt sich als Tendenz vielleicht für das ein oder andere lateinamerikanische Land aufstellen. Auf West- und Mitteleuropa aber, wo die unteren Klassen nicht erst in der jetzigen Krise, ob in Österreich, Ungarn oder Großbritannien, die ultranationalistischen rechten Parteien tragen, ist diese Analyse wohl kaum übertragbar. Dass die „Handlungskapazität von unten“ (25) das Instituierte zersetzt, wie Zibechi meint, ist keinesfalls selbstverständlich. All die Bemühungen von Gramsci bis Bourdieu, die die Formen des Einverständnisses mit den herrschenden Zuständen – von der passiven Gewöhnung bis zum aktiven Konsens – versucht haben begreiflich zu machen, werden hier letztlich ausgeblendet. Das Vertrauen in die schlummernde Revolte der „Volksmassen“ (161) ist bei Zibechi hingegen ungebrochen – wie im Übrigen auch bei John Holloway.

Jens Kastner

Raúl Zibechi: Bolivien – Die Zersplitterung der Macht. Mit einem Vorwort von John Holloway, Edition Nautilus, Hamburg 2009, Aus dem Spanischen übersetzt von Horst Rosenberger, 192 Seiten, € (D) 15,90 / sFr 27,90 / € (A) 15,40, ISBN 978-3-89401-591-6.