in: ak – analyse und kritik, Nr. 585, Hamburg, 14. August 2013, S. 35.

Eine Fabrik ohne Fluchtweg

Der postoperaistische Soziologe Maurizio Lazzarato analysiert die Schuldenökonomie

Sie sind zum „Archetyp der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (44) geworden, behauptet jetzt der postoperaistische Theoretiker Maurizio Lazzarato. Das zu konstatieren bedeutet, die Ursprünge und Grundlagen von Ökonomie und Sozialem nicht im Tauschhandel auszumachen, sondern in einer Machtasymmetrie. Ähnlich hatte auch der Anarchist David Graeber in seinem viel beachteten Buch „Schulden. Die ersten 5000 Jahre“ argumentiert.
Darüber hinaus heißt es aber auch, Schulden und Schuld zu verkoppeln. Genau das macht Lazzarato: Das Gewicht der Schulden ist enorm. Nicht nur für die einzelnen Verschuldeten, sondern überhaupt. Über die moralische Dimension der Schulden werden diese zu einem Moment der Herrschaft, zur „Kontrolle der Subjektivität“ (Lazzarato). Während der Anthropologe Graeber dem Verhältnis von Schulden und Schuld in der Geschichte und auf anderen Kontinenten nachspürt, legt Lazzarato es vor allem auf eine Zeitdiagnose an. Und die ist düster – und erhellend zugleich. Lazzarato, der im deutschen Sprachraum vor allem über seine Auseinandersetzungen mit der „immateriellen Arbeit“ bekannt geworden ist, hat in seinem hervorragenden Essay über „Die Fabrik des verschuldeten Menschen“ all die Leichtigkeit und anscheinend auch den Optimismus verloren, der postoperaistische Texte wie seine sonst häufig auszeichnet. Die Kämpfe, denen (und deren Offenheit) sonst immer das Primat eingeräumt wird, scheinen hier bereits verloren.

Schuld und Schulden
Mit dem Philosophen Nietzsche und dem Ökonomiekritiker Marx analysiert Lazzarato, wie die „Schuldenökonomie“ mit dem anhaltenden Siegeszug des Neoliberalismus alles überrollt. Einleitend skizziert Lazzarato kurz die drastischen Einschnitte in die europäischen Sozialsysteme und die Deregulierungen der Arbeitsmärkte der letzten Jahre, um dann eine dreifache Enteignung der größten Teile der Bevölkerung zu konstatieren: vom Zugang zur Partizipation, vom gesellschaftlichen Reichtum und von der Zeit. Ja, der neoliberale Kapitalismus justiert selbst die Zeit neu. Denn Schulden und Kredit funktionieren nur, wenn ein gemeinsamer Glaube an die Zeit erzwungen wird. Zukunft und der Imperativ, zurückzuzahlen, werden dabei gleichbedeutend. Und insofern es sich um einen ‚Glauben’ handelt, ist er den Subjekten nicht äußerlich, sondern quält sie von innen, eben als quasi in Leib und Seele übergegangene Schuld. Um einen ‚gemeinsamen’ Glauben handelt es sich nur formal, denn er dient allein den GläubigerInnen.

Der Bedeutungszuwachs der Schulden stellt nicht nur eine von Brüchen und Diskontinuitäten geprägte, „pointillistische Zeit“ her, wie es der Konsum laut Soziologe Zygmunt Bauman tut. War in der Ära, die von der Produktion geprägt war, kohärente und zielgerichtete Lebensgestaltung zumindest als Projekt möglich, zerfällt die Zeit unter Bedingungen des Konsumismus in unzusammenhängende und flüchtige Einheiten. Dass der Kapitalismus individuelles Empfinden ebenso wie kollektive Organisierungspotenziale gleichermaßen prägt, zeigt auch Lazzarato. Die „Schulden neutralisieren die Zeit“ (56), schreibt er, indem sie aus ihr jede Möglichkeit der freien Entfaltung, des Ungewissen und damit auch der emanzipatorischen Veränderung tilgen. Der Kredit erfüllt die Entfremdung, denn er beutet nicht nur die produktive, sondern die „ethische Arbeit der Konstitution des Selbst und der Gemeinschaft“ (61) aus. Warenökonomie und Machtdifferenezen Lazzaratos Text ist stark, wo er die gegenwärtige Krise in ihren ökonomischen und moralischen Dimensionen analysiert und wo er nebenbei die Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari als Kapitalismuskritiker wiederentdeckt. Deren Ansatz bestand u.a. darin, die Analyse der Warenökonomie  durch eine der Machtdifferenziale zu ergänzen. „Maß, Evaluation und Wertschätzung sind immer eine Frage der Macht und erst danach eine Frage der Ökonomie“ (77), fasst Lazzarato zusammen. Schwach ist bloß das Ende. Da spricht er von der „maschinischen Indienstnahme“, die mehr Beachtung finden sollte. Diese Sätze stehen dem adornoschen Kulturindustriepessimismus in nichts nach: Wo dem einen Freiheit bloß noch die „Freiheit von Achselschweiß und Emotionen“ ist, sind bei Lazzarato die Individuen zu „Dividuen“ geworden, die nicht mehr handeln, sondern nur noch auf die Imperative der (Geld-)Automaten reagieren. Erstens ist es in der Regel nie ganz so schlimm – wie und von wem wären allein solche Analysen sonst denkbar? Zweitens wird das auch der Polyvalenz des Maschinischen bei Deleuze sicher nicht gerecht. Als politisches Gegenmittel empfiehlt Lazzarato, den Kampf gegen die Schuldenökonomie vor allem „gegen ihre ‚Moral’ des Schuld-Habens“ (136) zu richten. Das klingt einerseits gut, weil Lazzarato eben zeigen kann, wie sehr das Kapital auf diese moralische Dimension angewiesen ist. Andererseits ist es aber doch zu einfach: Die Schuld von Folterknechten, Hacienda-Besitzern oder Eigentümern ‚arisierter’ Häuser aufzuzeigen, kann durchaus Teil emanzipatorischer Strategien gegen die Kontinuen kolonialistischer bzw. nationalsozialistischer Gewalt sein. Einen eindeutig gekennzeichneten Fluchtweg hat die Fabrik des verschuldeten Menschen also nicht.

Jens Kastner

Maurizio Lazzarato: Die Fabrik des verschuldeten Menschen. Ein Essay über das neoliberale Leben. Aus dem Französischen übersetzt von Stephan Geene. Berlin 2012 (b_books).


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Bondage, Zynismus und Konstruktionen
Der Anarchist David Graeber und der Poststrukturalismus
(gemeinsam mit Torsten Bewernitz) in: graswurzelrevolution, Münster, Nr. 373, November 2012, S. 14-15 [Initiates file downloaddownload als pdf]

John Holloway/Edward P. Thompson: Blauer Montag. Über Zeit und Arbeitsdisziplin, Hamburg 2007 (Edition Nautilus)
in: Springerin. Hefte für Gegenwartskunst, Wien, Band XIII, Heft 3/07, S. 75.Opens internal link in current window[Artikel lesen]

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in: ak – analyse und kritik, Nr. 585, Hamburg, 14. August 2013, S. 35.

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Der postoperaistische Soziologe Maurizio Lazzarato analysiert die Schuldenökonomie

Sie sind zum „Archetyp der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (44) geworden, behauptet jetzt der postoperaistische Theoretiker Maurizio Lazzarato. Das zu konstatieren bedeutet, die Ursprünge und Grundlagen von Ökonomie und Sozialem nicht im Tauschhandel auszumachen, sondern in einer Machtasymmetrie. Ähnlich hatte auch der Anarchist David Graeber in seinem viel beachteten Buch „Schulden. Die ersten 5000 Jahre“ argumentiert.
Darüber hinaus heißt es aber auch, Schulden und Schuld zu verkoppeln. Genau das macht Lazzarato: Das Gewicht der Schulden ist enorm. Nicht nur für die einzelnen Verschuldeten, sondern überhaupt. Über die moralische Dimension der Schulden werden diese zu einem Moment der Herrschaft, zur „Kontrolle der Subjektivität“ (Lazzarato). Während der Anthropologe Graeber dem Verhältnis von Schulden und Schuld in der Geschichte und auf anderen Kontinenten nachspürt, legt Lazzarato es vor allem auf eine Zeitdiagnose an. Und die ist düster – und erhellend zugleich. Lazzarato, der im deutschen Sprachraum vor allem über seine Auseinandersetzungen mit der „immateriellen Arbeit“ bekannt geworden ist, hat in seinem hervorragenden Essay über „Die Fabrik des verschuldeten Menschen“ all die Leichtigkeit und anscheinend auch den Optimismus verloren, der postoperaistische Texte wie seine sonst häufig auszeichnet. Die Kämpfe, denen (und deren Offenheit) sonst immer das Primat eingeräumt wird, scheinen hier bereits verloren.

Schuld und Schulden
Mit dem Philosophen Nietzsche und dem Ökonomiekritiker Marx analysiert Lazzarato, wie die „Schuldenökonomie“ mit dem anhaltenden Siegeszug des Neoliberalismus alles überrollt. Einleitend skizziert Lazzarato kurz die drastischen Einschnitte in die europäischen Sozialsysteme und die Deregulierungen der Arbeitsmärkte der letzten Jahre, um dann eine dreifache Enteignung der größten Teile der Bevölkerung zu konstatieren: vom Zugang zur Partizipation, vom gesellschaftlichen Reichtum und von der Zeit. Ja, der neoliberale Kapitalismus justiert selbst die Zeit neu. Denn Schulden und Kredit funktionieren nur, wenn ein gemeinsamer Glaube an die Zeit erzwungen wird. Zukunft und der Imperativ, zurückzuzahlen, werden dabei gleichbedeutend. Und insofern es sich um einen ‚Glauben’ handelt, ist er den Subjekten nicht äußerlich, sondern quält sie von innen, eben als quasi in Leib und Seele übergegangene Schuld. Um einen ‚gemeinsamen’ Glauben handelt es sich nur formal, denn er dient allein den GläubigerInnen.

Der Bedeutungszuwachs der Schulden stellt nicht nur eine von Brüchen und Diskontinuitäten geprägte, „pointillistische Zeit“ her, wie es der Konsum laut Soziologe Zygmunt Bauman tut. War in der Ära, die von der Produktion geprägt war, kohärente und zielgerichtete Lebensgestaltung zumindest als Projekt möglich, zerfällt die Zeit unter Bedingungen des Konsumismus in unzusammenhängende und flüchtige Einheiten. Dass der Kapitalismus individuelles Empfinden ebenso wie kollektive Organisierungspotenziale gleichermaßen prägt, zeigt auch Lazzarato. Die „Schulden neutralisieren die Zeit“ (56), schreibt er, indem sie aus ihr jede Möglichkeit der freien Entfaltung, des Ungewissen und damit auch der emanzipatorischen Veränderung tilgen. Der Kredit erfüllt die Entfremdung, denn er beutet nicht nur die produktive, sondern die „ethische Arbeit der Konstitution des Selbst und der Gemeinschaft“ (61) aus. Warenökonomie und Machtdifferenezen Lazzaratos Text ist stark, wo er die gegenwärtige Krise in ihren ökonomischen und moralischen Dimensionen analysiert und wo er nebenbei die Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari als Kapitalismuskritiker wiederentdeckt. Deren Ansatz bestand u.a. darin, die Analyse der Warenökonomie  durch eine der Machtdifferenziale zu ergänzen. „Maß, Evaluation und Wertschätzung sind immer eine Frage der Macht und erst danach eine Frage der Ökonomie“ (77), fasst Lazzarato zusammen. Schwach ist bloß das Ende. Da spricht er von der „maschinischen Indienstnahme“, die mehr Beachtung finden sollte. Diese Sätze stehen dem adornoschen Kulturindustriepessimismus in nichts nach: Wo dem einen Freiheit bloß noch die „Freiheit von Achselschweiß und Emotionen“ ist, sind bei Lazzarato die Individuen zu „Dividuen“ geworden, die nicht mehr handeln, sondern nur noch auf die Imperative der (Geld-)Automaten reagieren. Erstens ist es in der Regel nie ganz so schlimm – wie und von wem wären allein solche Analysen sonst denkbar? Zweitens wird das auch der Polyvalenz des Maschinischen bei Deleuze sicher nicht gerecht. Als politisches Gegenmittel empfiehlt Lazzarato, den Kampf gegen die Schuldenökonomie vor allem „gegen ihre ‚Moral’ des Schuld-Habens“ (136) zu richten. Das klingt einerseits gut, weil Lazzarato eben zeigen kann, wie sehr das Kapital auf diese moralische Dimension angewiesen ist. Andererseits ist es aber doch zu einfach: Die Schuld von Folterknechten, Hacienda-Besitzern oder Eigentümern ‚arisierter’ Häuser aufzuzeigen, kann durchaus Teil emanzipatorischer Strategien gegen die Kontinuen kolonialistischer bzw. nationalsozialistischer Gewalt sein. Einen eindeutig gekennzeichneten Fluchtweg hat die Fabrik des verschuldeten Menschen also nicht.

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