in: ak – analyse & kritik, Nr. 513, Hamburg, 19.1.2007, S. 9.

Klassiker der Staatstheorie
Dass „Poulantzas lesen“ sich lohnt, macht ein neuer Sammelband plausibel

Nicos Poulantzas ist ein Klassiker. Zwar hat es der griechisch-französische Marxist weder auf die Plakate kommunistischer Parteien oder Kleingruppen geschafft, noch gehörte er bislang zu den bevorzugten AutorInnen linker Lesezirkel. 1936 geboren, war Poulantzas etwas zu jung, um zu den „großen Namen“ des Nachkriegsmarxismus gezählt zu werden. Und er beendete sein Leben zu früh (1979), um die linken Post-89er-Debatten maßgeblich zu prägen. Außerdem sind Thema und Sprache seiner Schriften auch alles andere als leicht zugänglich. Was also ist „klassisch“ an einem Autoren, der über eingeweihte Kreise hinaus kaum bekannt und dessen Thema – materialistische Staatstheorie – nicht gerade ein Renner im linksdiskursiven Feld ist? Schon in ihrer Einleitung legen die Herausgeber überzeugend dar, wie und wo Poulantzas seine Spuren hinterlassen hat: Da tauchen der Cultural Studies-Theoretiker Stuart Hall ebenso auf wie die globalisierungskritischen Bewegungen. Die einzelnen Beiträge vertiefen dann, was sich zu Beginn schon andeutet: Motive und Theoreme Poulantzas´ finden sich im Dialog mit vielen wichtigen linken Ansätzen, allen voran jenen von Antonio Gramsci, Louis Althusser und Michel Foucault, aber auch mit Strömungen wie der feministischen Staatstheorie. Der Titel des Bandes „Poulantzas lesen“ ist insofern Beschreibung und Aufforderung zugleich: Er zeigt einerseits verschiedene Lesweisen von Poulantzas Werk auf und fordert andererseits dazu heraus, diese zu erweitern.
Was aber ist nun das Besondere am Werk des Staatstheoretikers? Da Marx selbst bekanntlich nie eine Staatstheorie entwickelte, eierte die marxistische Linke in dieser Frage lange Zeit herum. Poulantzas wendet sich in seinem Hauptwerk „Staatstheorie“ (1977) vor allem gegen zwei, seiner Meinung nach reduktionistische Vorstellungen des Staates: Er lehnt das Verständnis des Staates als überhistorisches Subjekt (Hegel) ebenso ab wie jenes, das den Staat in leninistischer Tradition als Mittel oder Instrument auffasst, das nur ergriffen und benutzt werden müsse. Stattdessen spricht Poulantzas vom Staat als „materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen“. Er ermöglicht dadurch einen gesellschaftstheoretischen Blick auf den Staat, ohne ihn von der Ökonomie loszukoppeln noch ihn darin aufgehen zu lassen. Deshalb spricht er von der „relativen Autonomie des Staates“.

Das Buch lässt die bekannteren Autoren des Genres wie Bob Jessop, Joachim Hirsch oder Alex Demirovic mit dem zu Wort kommen, was sie in den letzten fünfzehn Jahren auch schon geschrieben haben. Neben diesen soliden aber wenig überraschenden Texten finden sich durchaus einige Themen – neben Ökonomie, Macht, Herrschaft und Bewegung –, die man nicht auf Anhieb mit Staatstheorie assoziieren würde: Raum und Wissen zum Beispiel. Das Panorama ist also äußerst breit und als solches vielleicht wirklich nur durch einen Klassiker zu gewährleisten. Wollte man hier Leerstellen konstruieren, so lägen sie höchstens beim relationalen Strukturalismus Pierre Bourdieus und bei der anarchistischen Staatstheorie. Dass das Diktum des Räte-Anarchisten Gustav Landauer, dass der Staat „ein soziales Verhältnis“ sei, so selten erwähnt wird, ist schade, aber verzeihlich.
Mehr als der Anarchismus waren es schließlich strukturalistische Ansätze, an denen Poulantzas sich orientierte. Während Poulantzas einer der ersten MarxistInnen war, die sich explizit auf Foucault bezogen, blieb jedoch dessen Reaktion auf den Staatstheoretiker aus. In seinen Vorlesungen Ende der 1970er Jahre allerdings – als Studien zur „Gouvernementalität“ mittlerweile breit diskutiert – scheint es implizite Bezugnahmen auf die „Staatstheorie“ zu geben: Urs T. Lindner betont, dass Foucault hier, wie Poulantzas, den Staat auch „als Einsatzort von Sozialtechnologie“ betrachtet. Ein „böses Wesen“ ist oder hat der Staat deshalb aber noch lange nicht. Er ist das Produkt und das Terrain von Kämpfen. Diese Kämpfe können ihm also auch nicht als ausnahmslos „positiv“ gegenüber gestellt werden. Böser Staat, gute Klassenkämpfe, solch einfache Dichotomien lassen sich mit Poulantzas also nicht machen. Denn schließlich sind es auch die Klassenkämpfe, die sich in Institutionen und Apparaten verstetigen. Dass sie diesen vorausgehen, nennt Poulantzas den „Primat der Kämpfe“. Ein Beispiel dafür sind die Kämpfe der Frauenbewegung in Deutschland, die sich, wie Jörg Nowak aufzeigt, aktuell „in staatliche Strategien einschreiben“. Nowak hebt aber nicht nur diese Vereinnahmungsstrategie des neoliberalen Staates hervor. Den Primat der Kämpfe nimmt er ganz allgemein zum Anlass, die Relevanz von Poulantzas für eine Analyse der Geschlechterverhältnisse zu diskutieren. Dabei hegt er die schöne Hoffnung, dass „der politischen Konjunktur des Neoliberalismus mit einer gemeinsamen Rezeptionskultur kritischer feministischer und marxistischer Intellektueller begegnet wird.“ Indem Poulantzas den Primat der Kämpfe betont, unterscheidet er sich auch vom marxistischen Strukturalisten Louis Althusser. Dieser habe dem Klassenkampf nicht den Stellenwert eingeräumt, „der ihm zukommen muss“ (Poulantzas). Dass Poulantzas von den Kämpfen ausgeht, macht ihn u. a. auch anschlussfähig an die Debatten in den und über die aktuellen sozialen Bewegungen.
Denn es stellt sich eine Frage, die auch zwischen Genua und Venezuela heiß diskutiert wird, also innerhalb der globalisierungskritischen Bewegungen und der linken Regierungsprojekte in Lateinamerika. Sie lautet: Soll oder kann Emanzipation mit dem oder gegen den Staat durchgesetzt werden? Hier gelangen auch die Beiträge des Bandes, qualitativ übrigens erstaunlich homogen, inhaltlich zu verschiedenen, ja sogar gegensätzlichen Antworten. So wendet sich Polulantzas in der Interpretation von Ulrich Brand und Miriam Heigl „gegen den Etatismus der sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien“. Peter Thomas hingegen liest Poulantzas als gramscianischen Taktiker. Das „aktuellste und fruchtbarste Moment“ seines Erbes liege demnach in den Überlegungen „für eine neue Art von Staat“.

Jens Kastner

Lars Bretthauer, Alexander Gallas, John Kannankulam und Ingo Stützle (Hg.): Poulantzas lesen. Zur Aktualität marxistischer Staatstheorie, Hamburg 2006 (VSA Verlag), 334 S., 20,80 Euro.