in: springerin. Hefte für Gegenwartskunst, Band XX, Heft 1, Winter 2014, S.71.

Enrique Dussel: Der Gegendiskurs der Moderne. Kölner Vorlesungen. Wien 2013, Verlag Turia + Kant.

Text: Jens Kastner

Wenn heute wieder vermehrt über Dekolonisierung gesprochen und die Einsicht langsam in die Apparate einsickert, dass der Kolonialismus als globales Phänomen überall seine aufzuarbeitenden Spuren hinterlassen hat, dann fehlt ein Stichwortgeber eigentlich selten: Enrique Dussel.
Schon einmal gab es eine kleine Hochkonjunktur um das Werk des argentinischen, in Mexiko lebenden Philosophen: In den 1970er Jahren wurde er im Kontext der Dependenztheorie rezipiert, die die ökonomische Abhängigkeit Lateinamerikas im globalen Kapitalismus zum Thema hatte, wie auch im Rahmen der „Theologie der Befreiung“, die den Gottglauben als Kampf für soziale Gerechtigkeit ausdeutete. Einige Schriften erschienen damals sogar auf Deutsch, etwa im theologisch ausgerichteten Grünwald Verlag, aber auch im linken Argument Verlag. Dann wurde lange nichts mehr von Dussel übersetzt, geschweige denn diskutiert. Womit man sich gleich inmitten des Themas befindet: Während Dussels Arbeiten geprägt sind von der intensiven Auseinandersetzung mit der europäischen Philosophie, er u.a. ein dreibändiges Werk über Marx verfasst hat und die Kritische Theorie in seinen Schriften sehr präsent ist, ist ihm nur selten geantwortet worden. Es existiert eine fundamentale Asymmetrie in diesem Dialog. Und die betrifft nicht nur den Umgang mit Dussels persönlichem Denken, sondern sie ist gewissermaßen ein globalhistorisches Problem. Es ist demnach auch alles entscheidend für Dussels eigenen Ansatz, zu eruieren, „wer wir sind und von wo aus wir sprechen“.
Die 2010 gehaltenen „Kölner Vorlesungen“, die jetzt in deutscher Übersetzung erschienen sind, stellen so etwas wie die Zusammenfassung einer mehr als fünfzigjährigen philosophischen Entwicklung von Gedanken und Konzepten dar. Der titelgebende „Gegendiskurs der Moderne“ wird im ersten Kapitel sogar datiert und mit einer exemplarischen Autorschaft versehen. Wer könnte besser aufzeigen, dass die Selbstbeschreibung politischer Praxis und Theorie aus Europa, die sich den Namen und die Geschichte der „Moderne“ gab, ein sozialer und epistemologischer Betrug war, als jemand, der (oder die) darunter konkret zu leiden hatte? Dussel wählt den indigenen Intellektuellen Guamán Poma de Ayala (1534/50–1650) und lässt dessen Beschreibung des Kolonisierungsprozesses ausführlich zu Wort kommen. Enthalten sind darin, Dussel zufolge, neben grundsätzlicher Rationalitäts- wie Religionskritik auch erste antikapitalistische Ansätze. Damit gehe dieser frühe Denker im Grunde schon weiter als alle europäischen KritikerInnen des modernen Projektes bis hin zu Horkheimer und Adorno, die alle, so Dussel, „den kolonialen Charakter der okzidentalen Machtausübung nicht eingestanden.“

Dussel verknüpft schließlich den philosophisch-konzeptuellen Ausschluss aus der modernen Subjektivität und die politisch-kulturelle Exklusion und Unterdrückung lateinamerikanischer Subjekte. So wie die Subjektivität sich immer auf etwas ihr Äußerliches hin konstituiert hat, so bedurfte moderne Politik des Ausschlusses anderer. Die Exteriorität, der philosophische Begriff für eine „stets existente und latente Alterität“ bleibt nicht abstrakt, sondern Dussel findet sie in konkreten Gruppen, in indigenen Ethnien oder anderen Marginalisierten.
Das Leiden der Anderen, Ausgangspunkt wie emphatischer Beweggrund seiner Philosophie, nicht weiterhin nur eurozentrisch zu denken, ist einer der wichtigsten Einsätze Dussels. Dieses Leiden ist ihm folglich nicht nur Angelpunkt des Denkens, sondern auch der politischen Praxis. Subjekte dieser Praxis sind die Leidenden.

Dass erfahrenes Leid als Ausgangspunkt für Befreiung und die Leidenden als deren prädestinierten Subjekte gedacht werden, ist für sich genommen allerdings nicht ungewöhnlich. Dussel verschiebt dabei immerhin den Fokus auf Leute und Regionen, die in den europäischen emanzipatorischen Denktraditionen tatsächlich ausgeblendet wurden. Zwar meint Exteriorität ein Außerhalb, das eher eines des Denkens und Handelns ist als ein geografisches. Auch ist sie eher als Negation der Negation, als Widerstand gegen die kolonialistische Verneinung der Anderen konzipiert denn als ein gesicherter Außenstandpunkt. Dennoch meint Dussel es einerseits an den besagten Ausgeschlossenen von heute ebenso festmachen zu können wie andererseits an deren Geschichte: die Befreiungshoffnung beruht auf einem kulturellen Reichtum, der „unter dem Meer der jahrhundertealten Asche des Kolonialismus begraben liegt.“
So analytisch wie politisch faszinierend Dussel Projekt einer Überwindung moderner Herrschaft und der Etablierung einer „Transmoderne“ auch ist, so diskussionswürdig sind doch auch deren Grundlegungen. Denn dass es widerständige Ressourcen gibt, die unbeschadet die Geschichte überlebt haben, hatten andere anti- und postkoloniale DenkerInnen durchaus und gut begründet bezweifelt, ausdrücklich etwa Stuart Hall. Auch die „kulturellen Gruppierungen, die Exteriorität bewahren“ sind bei Dussel um einiges essenzialistischer gedacht, als bei nicht weniger dekolonialen Kolleginnen und Kollegen wie Gloria Anzaldúa oder Néstor García Canclini, die sich auch mit den hybriden und widersprüchlichen Aspekten im Denken und Handeln der Marginalisierten beschäftigt haben. Und was soll man schließlich in Europa, aber auch anderswo nach dem Nationalsozialismus mit einem befreiungstheoretischen „Schlüsselbegriff“ namens „Volkskultur“ noch anfangen?

Mehr zum Thema:

Raúl Zibechi: Territorien des Widerstands. Eine politische Kartografie der urbanen Peripherie Lateinamerikas. Aus dem Spanischen von Kirsten Achtelik und Huberta von Wangenheim. Berlin/ Hamburg 2011, Verlag Assoziation A.
in: springerin. Hefte für Gegenwartskunst, Band XVIII, Heft 2, Frühjahr 2012, Wien, S. 75-76. [Opens internal link in current windowArtikel lesen]

Antiker Ungehorsam
Politische Theorie und alternative Rechtsgeschichte: Isabell Lorey schildert den Kampf der Plebejer um die »gute Ordnung« in der römischen Antike.

in: Jungle World, Berlin, Nr. 6, 9. Februar 2012, dschungel S. 10-11.
[Artikel in Jungle World lesen]

Juan Torres López, Alberto Garzón, Aitor Romero Ortega, Joel Serafín Almenara, Marcos Roitman, Gerardo Tuduri (Hg.): Hablan los Indignados. Propuestas y Materiales de Trabajo. Editorial Popular: Madrid 2011. Klaudia Álvarez, Pablo Gallego, Fabio Gándara, Óscar Rivas: Nosotros, los indignados. Las voces comprometidas del #15-M. Ediciones Destino: Barcelona 2011.
in: springerin. Hefte für Gegenwartskunst, Band XVIII, Heft 1, Winter 2012, Wien, S. 75. [Opens internal link in current windowArtikel lesen]

Hoetmer, Raphael (Hg.): Repensar la política desde América Latina. Cultura, Estado y movimientos sociales, Universidad Nacional Mayor de San Marcos, Lima 2009. [Gemeinsam mit David Mayer]
in: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften,  Nr. 286, Berlin, 2/2010, S. 285-286. [Opens internal link in current windowArtikel lesen]

Die ganz anderen Liberalen
Auch die Mexikanische Revolution hatte ihren anarchistischen Flügel: den Magonismus
in: ILA, Bonn, Nr. 340, November 2010, S. 7-8.
[Opens internal link in current windowArtikel lesen] [Initiates file downloadDownload als pdf]

Die „Kommune von Oaxaca“
Nachlese zu einem Aufstand im Südwesten Mexikos
in: graswurzelrevolution, Nr. 346, Münster, Februar 2010, S. 6-7.
[Opens internal link in current windowArtikel lesen]

Zwei, drei, viele 68.
Ein neuer Band versammelt Schlaglichter und Fragmente zu „1968“

in Lateinamerika. Anne Huffschmid/ Markus Rauchecker (Hg.): Kontinent der Befreiung? Auf Spurensuche nach 1968 in Lateinamerika, Berlin: Verlag Assoziation A.
in: MALMOE - online. [Artikel in MALMOE lesen], und
in: Lateinamerika Anders, Nr. 2/2010, Wien, Mai 2010, S. 27. [Initiates file downloadDownload als pdf]