in: ILA, Bonn, Nr. 340, November 2010, S. 7-8.

Die ganz anderen Liberalen
Auch die Mexikanische Revolution hatte ihren anarchistischen Flügel: den Magonismus

„Wir Liberalen wollen, dass Alles für Alle ist“, hieß es 1912 in der in Mexiko erscheinenden Zeitung Regeneración („Erneuerung“), „und das jeder Produzent nicht im Einklang mit seiner Leistung konsumiert sondern jeder nach seinen Bedürfnissen.“ Als 1994 die neozapatistische Befreiungsbewegung EZLN im Süden Mexikos ihren Aufstand begann, tat sie dies nicht nur mit Waffen. Auch die Worte wurden auf die Kampfplätze der sozialen Auseinandersetzungen geführt. Eine neue poetisch-politische Sprache entstand, neue Losungen wurden geprägt. Eine davon lautete „Alles für alle, für uns nichts“, erstmals formuliert in einem Kommuniqué des Geheimen Revolutionären Indigenen Rates (CCRI-CG) der EZLN im Februar 1994. Darin kündigten die Aufständischen unter anderem an, ihre Rechte einzufordern und sich nicht nur das Land, sondern auch die Geschichte zurückzuerobern.

Teil dieser Geschichte ist offenbar auch die Liberale Partei Mexikos (PLM), ihre Zeitschrift Regeneración und die dazugehörige Bewegung, der Magonismus. Der Magonismus war, so der Historiker Stephan Scheuzger in seiner Studie zur indigenen Frage in der Linken Mexikos, die „politisch radikalste Strömung innerhalb der Mexikanischen Revolution.“[1] Ricardo Flores Magón (1873–1922), nach dem diese libertäre Bewegung benannt ist, lehnte die Bezeichnung „Magonismus“ ab. Als Anarchist bestand er darauf, dass soziale Bewegungen nach ihren Inhalten und nicht nach Personen benannt werden sollten. Dass sich der Name dennoch durchsetzte, ist heute vielleicht weniger tragisch. Denn selbst bezeichneten sich die Magonistas, die in den ersten drei Jahren der Revolution eine wichtige Rolle spielten, als „Liberale“. Und mit diesem Begriff werden heute doch in der Regel doch andere politische Vorstellungen bezeichnet, als sie die mexikanische RevolutionärInnen vertraten. Denn mit dem Privatisierungseifer und dem Individualismus heutiger Namensvetter aber hatten die Magón-AnhängerInnen nichts zu tun. Im Gegenteil, sie radikalisierten den Liberalismus des 19. Jahrhunderts in die andere Richtung. Nach dem offensichtlichen Scheitern liberaler Ideen und Politikkonzepte unter der Diktatur (1884–1911) des ehemals liberalen Generals Porfirio Diaz´ vollzog sich innerhalb der Liberalen Partei eine Radikalisierung des Liberalismus. Im Zuge derer kam es zu einer grundsätzlich Ablehnung des Privateigentums. Die Liberalen wandten sich anarchistischen und sozialistischen Ideen zu – eine „theoretisch-politische Revolution“, wie der Ökonom und Magonismus-Forscher Rubén Trejo es nennt.[2]

Die Geschichte der magonistischen Bewegungen ist gekennzeichnet von der Beteiligung an militanten Arbeitskämpfen vor und militärischen Guerilla-Aktionen während der Revolution sowie von einer regen Publikationstätigkeit. Nicht wegzudenken aus dieser Geschichte ist darüber hinaus, als Bedingung dieser Aktivitäten wie als Reaktion darauf gleichermaßen, die Repression. Schon zu Beginn des Jahrhunderts, als die miesen Lebensbedingungen der Landbevölkerung wie auch der Industriearbeiter noch kaum zu rebellischen Aktionen geführt hatten, war Flores Magón wegen seiner sozialrevolutionären Texte verhaftet worden. Er ging in US-amerikanische Exil, die PLM wurde 1905 so auch nicht in Mexiko, sondern in St. Louis, Missouri, gegründet. Die Partei agierte seitdem auch von den USA aus und hatte auch zu Revolutionszeiten ihren Sitz in Los Angeles. Allerdings verfolgten die US-Behörden die PLM ebenfalls und inhaftierten immer wieder verschiedene ihrer Funktionäre, so bereits 1905 neben Ricardo Flores Magón und dessen Bruder Enrique auch der Parteimitgründer Juan Sarabia. Im September 1906 riefen die Magonistas in einer „Proklamation an die Nation“ die Bevölkerung zum Aufstand auf und die Soldaten der Nationalarmee zum Wechsel der Seiten. Die militärischen Aspekte des Kampfes wurden ohnedies als unverzichtbar gesehen. Die magonistische Guerilla-Armee bestand aus 30 bis 50 Einheiten á 50 Mann – über kämpfende Frauen ist in der Literatur nichts zu finden – und sie war maßgeblich beteiligt an verschiedenen Aufständen. Zu Beginn der Revolution gewann sie zeitweilig die Kontrolle über den nördlichen mexikanischen Bundesstaat Baja California.

Auch wenn die PLM in der vorrevolutionären Zeit zu einem Sammelbecken von GegnerInnen der Diktatur wurde, in der sich neben ArbeiterInnen und Bäuerinnen/Bauern auch Intellektuelle organisierten, setzen sie sich doch inhaltlich von den Zielen anderer GegnerInnen einer Wiederwahl des Diktators („Antireelectionistas“) deutlich ab. Während es diesen, mehrheitlich aus bürgerlichen Kreisen und oppositionellen Militärs bestehenden Gruppen und Milieus um die Etablierung einer parlamentarischen Demokratie ging, ließen die Magonistas an ihren weiter gehenden gesellschaftspolitischen Forderungen keinen Zweifel: Die wirklichen Revolutionäre würden nicht nach neuen Herrschern suchen, sondern damit beginnen, schreibt Magón 1910, „die Wurzeln der politischen Tyrannei zu bekämpfen, und diese Wurzel heißt das ‚Recht auf Eigentum’.“[3]

So entwickelten sich in Mexiko eine ganz eigene Form anarchistischer Theorie und Praxis, die sich vielleicht vor allem in zwei Aspekten von ihren europäischen Pendants unterschied: Zum einen stützte der mexikanische Anarchismus sich nicht allein auf Ideen der europäischen Aufklärung, sondern auch auf die kommunitären Praktiken der prä- und postkolonialen indigenen Bevölkerungsgruppen. Zum anderen entwickelte der anarchistische Magonismus – durch die ständige Repression fast notgedrungen – einen gelebten Internationalismus, der in dieser Ausprägung in Europa wahrscheinlich erst in der Spanischen Revolution (1936) zum Tragen kam.
Magón selbst kam aus dem südlichen Bundesstaat Oaxaca und war mit den Lebensweisen und politischen Organisationsformen der dort lebenden, indigenen Bevölkerungsgruppen vertraut. Der Anarchokommunismus, schreibt Rubén Trejo, war daher auch „nicht die einzige Inspirationsquelle, um Alternativen zum kapitalistischen Privateigentum zu formulieren. Ebenso wichtig waren die Kämpfe der mexikanischen Kleinbauern und indianischen Gemeinschaften. Letztere boten ein lebendes Beispiel des kollektiven Eigentums an Land, Wäldern und Wasser.“[4] Der Bezug auf die Kämpfe und Lebensweisen der indigenen Bevölkerungsgruppen erfüllte aber durchaus auch eine Funktion innerhalb der Theorie. Denn nicht ganz untypisch für den Anarchismus insgesamt, setzte auch die moralische Argumentation Magóns dem staatlichen Schutz des Privateigentums die „Gegenvorstellung unkorrumpierter Ursprünglichkeit“ (Scheuzger)[5] entgegen. Verkörpert sah er sie in den gemeinschaftlichen Traditionen der indigenen Bevölkerungsgruppen. So heißt es beispielsweise in einem Manifest vom 2. September 1911, in dem die organisatorischen Errungenschaften der Indigenen bis ins 19. Jahrhundert hinein gelobt werden: „Die gegenseitige Unterstützung war die Regel in diesen Gemeinschaften, [...]. In diesen Gemeinschaften gab es keine Richter, keine Bürgermeister, keine Gefängniswärter oder andere Polizei. Alle besaßen das Recht auf Boden, auf Wasser zu Bewässerung, auf den Wald für Brennholz und für Holz zum Bau für Hütten.“[6] Mit Schilderungen wie diesen, urteilt Scheuzger aus der Perspektive des Historikers, konstruierte Flores Magón wie „einige Linke vor und viele nach ihm [...] das Bild der vorspanischen comunidad als historischer Verkörperung der idealen Gemeinschaft mit.“[7] Neben dieser Tendenz zur Idealisierung hatte die Hinwendung zur indigenen Bevölkerung aber noch einen ganz anderen programmatischen Aspekt: Die Frage der Landverteilung wurde, wie in fast allen späteren Befreiungsbewegungen Lateinamerikas, als zentral für die gesellschaftliche Umgestaltung angesehen. Die Umverteilung der Produktionsmittel musste in einem agrarisch geprägten Land aus der Sicht Magóns zu aller erst auch die Enteignung der Großgrundbesitzer bedeuten. „Land und Freiheit“ war dementsprechend die Parole, die 1911 von Regeneración ausgegeben und später von Emiliano Zapata übernommen wurde.

Wenn auch in den heute etwas schwülstig wirkenden Artikeln und Manifesten häufig vom „patria“, dem Vaterland, die Rede ist, waren die Magonistas doch stark dem proletarischen Internationalismus verpflichtet. Die binationale, vom US-Exil aus betriebene politische Organisierung hatte eindeutig internationalistische Effekte. Nicht zuletzt der guten Vernetzung der Magonistas mit der ArbeiterInnenbewegung in den USA war es zu verdanken, dass auch innerhalb der anarchosyndikalistischen, 1905 gegründeten Industrial Workers of the World (IWW) der Kampf gegen die Diktatur in Mexiko ein präsentes Thema war: IWW-Mitglieder sammelten Spenden für die MexikanerInnen und beteiligten sich auch an bewaffneten Auseinandersetzungen. Auch international bekannte AnarchistInnen wie Emma Goldman und Gustav Landauer unterstützten die Magonistas.

So angenehm grundsätzlich die magonistischen Argumente und Polemiken zuweilen waren – ein Mensch, der sein Handeln Gesetzen anpasse, könne, schreibt Magón beispielsweise, „ein gutes Haustier sein, aber niemals ein Revolutionär“[8] –, als so hinderlich erwiesen sie sich auch für die politische Praxis. Dass die Magonistas gleich nach dem Sturz des Diktators und der Machtübernahme des moderaten, bürgerlichen Präsidenten Francisco Madero wieder bekämpft wurden, bestätigte ihr von Michail Bakunin geprägtes Bild der repressiven Klassengesellschaft: Auf der einen Seite die bösen Ausbeuter, gestützt von einer korrupten intellektuellen Klasse, der gegenüber auf der anderen Seite das gute, aber blöd gehaltene „Volk“ steht. Dass diese Konzeption – neben anderen problematischen, weil vereinfachenden Aspekten – grundsätzlich die Bildung von Allianzen erschwert, wenn nicht verhindert, gilt wohl bis heute. Trejo lässt das beispielsweise an einer Stelle anklingen: Sich nicht mit den Bewegungen Emiliano Zapatas und Pancho Villas zusammenzuschließen, weil sie letzteren für einen „Wächter der Interessen der Bourgeoisie“[9] hielten, beschreibt er als eklatante Fehleinschätzung der Magonistas. Ansonsten führt Trejo das Scheitern der magonistischen Bewegung aber vor allem auf interne Gründe zurück: Spaltungen, Verdächtigungen, Intrigen.

Zwar gibt es in Mexiko auch einige Straßen und Turnhallen, die, wie nach anderen Personen und Ereignissen aus der Revolution, nach Magón benannt sind. Für die institutionell-revolutionäre Staatsdoktrin spielte er aber, anders als etwa Zapata, kaum eine Rolle. Magonistischer Aktivismus existiert allerdings nach wie vor, und zwar sowohl in eher städtisch-subkulturellen als auch im ländlich-indigenen Milieus: So feierte beispielsweise die in Mexiko-Stadt erscheinende Zeitschrift Autonomía[10] letztes Jahr ihr zehnjähriges Bestehen und in Oaxaca ist der Zusammenschluss indigener Menschenrechtsorganisationen (OIDHO)[11] nur eine von verschiedenen, magonistisch orientierten Initiativen. Auch die EZLN hat einen der von ihr besetzten Bezirke nach Magón benannt.

Jens Kastner


[Der Abdruck dieses Textes in der ILA erfolgte ohne Fußnoten]

 
Mehr zum Thema soziale Bewegungen in Lateinamerika:

Autonomy. Online Dictonary Social and Political Key Terms of the Americas: Politics, Inequalities, and North-South Relations, Version 1.0 (2012). [Read article in Online Dictionary]

Die „Kommune von Oaxaca“
Nachlese zu einem Aufstand im Südwesten Mexikos
in: graswurzelrevolution, Nr. 346, Münster, Februar 2010, S. 6-7.
[Opens internal link in current windowArtikel lesen]

Magón, Ricardo Flores (1874–1922) and the Magonistas
International Encyclopedia of Revolution and Protest, ed. Immanuel Ness, Blackwell Publishing, 2009, pp. 2161–2163.
[Initiates file downloadDownload Lexikoneintrag als pdf]

Modifizierte Stärke
Soziale Bewegungen in Lateinamerika im Überblick
in: Grundrisse, Nr. 20, Wien, Winter 2006, S. 12-18.
[Artikel in Grundrisse lesen]

Der Kampf um Land und Freiheit geht weiter
Die Schriften des mexikanischen Anarchisten Ricardo Flores Magón erscheinen jetzt auf Deutsch
in: Jungle World, Nr. 38, Berlin, 21. September 2005, S. 23.
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Autonomie als Widerstand
In Mexiko formiert sich eine Autonomiebewegung auch außerhalb der zapatistischen Gebiete in Chiapas
in: Malmoe, Nr. 22, Wien, Herbst 2004, S. 13.
[Artikel in Malmoe lesen]

Olaf Kaltmeier, Jens Kastner und Elisabeth Tuider (Hg.):
Neoliberalismus – Autonomie – Widerstand.
Soziale Bewegungen in Lateinamerika

Münster 2004 (Verlag Westfälisches Dampfboot) 
[mehr: http://www.dampfboot-verlag.de/buecher/578-8.html]




[1] Stephan Scheuzger: Der Andere in der ideologischen Vorstellungskraft. Die Linke und die indigene Frage in Mexiko. Frankfurt a.M.: Vervuert 2009, S. 181.

[2] Rubén Trejo: Magonismus: Utopie und Praxis in der Mexikanischen Revolution 1910-1913. Übersetzt von Martin Schwarzbach. Lich/Hessen 2006: Edition AV, hier S. 204.

[3] Ricardo Flores Magón: „Zwei Revolutionäre“. In: ders.: Tierra y Libertad. Herausgegeben von der Gruppe B.A.S.T.A., Münster: Unrast 2005, S. 90-93, hier S. 92.

[4] Trejo, a.a.O., S. 206.

[5] Scheuzger, a.a.O., S. 183.

[6] Zit.n. Scheuzger, a.a.O., S. 184.

[7] Scheuzger, a.a.O., S. 184.

[8] Ricardo Flores Magón: „Die Illegalen“. In: ders.: Tierra y Libertad. Herausgegeben von der Gruppe B.A.S.T.A., Münster: Unrast 2005, S. 94-95, hier S. 94.

[9] Trejo, a.a.O., S. 187.