in: graswurzelrevolution, Münster, Nr. 474, Dezember 2022, S. 23.


Grenzgänge am Rande der Herrschaft
Plädoyer für eine Neufassung anarchistischer Ethnologie



Festlichkeiten, Tauschmärkte, Spiele: Es gibt Situationen, in denen es alles andere als eindeutig ist, wer das Sagen hat und wer zum Zuhören, Schweigen und Mitmachen verdammt ist. Unklar auch, wie weit diese Verdammung reicht, die etwa von Theater, Karneval und anderen Festen ausnahmsweise inszeniert wird. Bleibt die Ambivalenz auf die Ausnahmesituation beschränkt, oder greift sie in den Alltag ein und verändert diesen gar? Transformiert sie möglicherweise gesellschaftliche Strukturen, oder bleibt sie ihnen äußerlich?

Mit solchen Fragen beschäftigt sich traditionsgemäß die Ethnologie. Immer wieder hat sie über die Analyse hinaus auch Methoden entwickelt, die das Beobachtete zum Maßstab einer allgemeinen Herrschaftskritik gemacht haben. So gibt es eine Strömung anarchistisch inspirierter Ethnologie, deren bekannteste Namen vielleicht Hans-Peter Dürr, Christian Sigrist und zuletzt David Graeber sind. In segmentären, also nicht-zentralistisch organisierten Gesellschaften suchten Autor*innen wie diese nicht nur das interessante Andere, sondern auch einen Kompass für die Herrschaftskritik.
Auch Florian Mühlfried ist diesen Ansätzen zuzurechnen, wenn er konstatiert, dass in vor- oder außerstaatlichen Kontexten „gewohnheitsrechtliche Konfliktregulierung einen Grad an Autonomie [sichert], die egalitäre Relationen überhaupt erst möglich macht“ (S. 69). Die Gemeinschaft, der Ältestenrat, spezielle Kollektive und/oder Versammlungen stellen Gremien dar, die jenseits bürokratischer Rationalität das Leben organisieren und, so die häufig auch empirisch untermauerte Annahme, eine gleichberechtigte Alternative zu staatlicher Vergesellschaftung bilden.

Gerontokratie und andere nichtstaatliche Herrschaft

In seiner aktuellen Studie „Unherrschaft und Gegenherrschaft“ grenzt Mühlfried sich von seinen Vorgänger*innen aber auch ab, indem er der Gleichsetzung von segmentär/indigen und egalitär sehr skeptisch gegenübersteht. Herrschaft ist für ihn nicht automatisch mit Staat assoziiert, sondern kann auch in anderen ritualisierten Praktiken walten.
Mühlfried spricht sich explizit gegen jene Annahme anarchistischer Ethnologie aus, die dem „Misstrauen gegen Herrschaft“ (S. 67) eine eindeutig konstitutive Kraft für emanzipatorische Entwicklungen zuschreibt. Denn nicht selten ist dabei übergangen worden, dass statt seit der Aufklärung etablierter, (und oft, aber nicht nur staatlich) geregelter Verfahren häufig eine mystifizierte, patriarchale Gerontokratie die Belange der Menschen regelt. Wenig beachtet wurde selbst noch bei Graeber, dass solche Antistaatlichkeit immer wieder mit einer intransparenten, patriarchalen Ökonomie der Ehre und der totalen Versachlichung von Frauen* einhergeht. Bei aller Begeisterung für die Abwesenheit staatlicher Strukturen wurde ausgeblendet, dass statt Bürokratie eben oft alte Männer auf der Grundlage obskurer Glaubensvorstellungen über das Schicksal von Menschen entscheiden. Mühlfried benennt diese Auslassungen und will gerade sie korrigieren. Daher sein Interesse für das Uneindeutige und das Nicht-Festgelegte.

Dies führt allerdings zuweilen dazu, dass er noch in Festlichkeiten wie dem georgischen Bankett (supra), die er selbst als total reguliert beschreibt, einen „Grenzgang am Rande der Herrschaft“ (S. 90) erkennt. Über die Bedingungen, unter denen es möglich und wahrscheinlich ist, herrschaftliche Arrangements zu unterlaufen, und wann das eben nicht klappt, sagt er erstaunlich wenig. Grundlage seiner theoretischen Ausführungen zu Fragen der Herrschaft und seines politischen Versuchs, „dem Anarchismus frischen Atem einzuhauchen“ (S. 28), bilden vor allem seine Feldforschungen im Kaukasus. Die vielen Beispiele, die er anführt, sprechen von jahrelanger Erfahrung und großer Sachkenntnis.

Ambivalent und paradox

Mühlfrieds Errungenschaft besteht nun einerseits darin aufzuzeigen, inwiefern Herrschaft auch ihren vermeintlich klaren Gegenmodellen von gewohnheitsrechtlichen, ritualisierten Praxisformen innewohnt. Nicht jeder indigene Rat ist automatisch egalitär, auch segmentäre Gesellschaften bilden Hierarchien aus. Dass das kein Grund zur Verzweiflung ist, soll der Fokus auf die Ambivalenzen und eben „Grenzgänge“ zeigen. Diese Perspektive erzwingt paradoxe Formulierungen, an denen Mühlfried merklich Spaß hat. Über das Fest sagt er: „(E)s herrscht nicht keine Arbeit und nicht keine Vergeudung“. (S. 89)
Andererseits aber, gemessen am Anspruch der Atemkur für den Anarchismus, bleibt der Essay doch hinter den Erwartungen zurück. Das liegt vor allem daran, dass aktuelle Debatten etwa aus der anarchokommunistischen, anarchopazifistischen und der anarchafeministischen Theorie und Praxis nicht aufgegriffen werden. Organisatorische und strategische Fragen werden bestenfalls andiskutiert, aber auch in der Theorie bleibt die Idee der Unherrschaft als unreine, ambivalente Kategorie jenseits der Versuche, reine Anti-Haltungen umzusetzen, merkwürdig unvermittelt. Die Verknüpfung der Diskurse wäre, vor dem Hintergrund von Mühlfrieds Definition von Unherrschaft als „Zunichtemachen von Herrschaft“ (S. 114), also als „Praxis der Negation“ (S. 115), durchaus lohnenswert.


Jens Kastner


Florian Mühlfried: Unherrschaft und Gegenherrschaft, Matthes & Seitz, Berlin 2022, 140 Seiten,  15,00 Euro, ISBN: 978-3-7518-0558-2.


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