in: Tagebuch. Zeitschrift für Auseinandersetzung, Nr. 2/ 2024, S. 53-55.
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Theoretiker am Nerv der Zeit
Er verknüpfte Marxismus und Poststrukturalismus und prägte mehrere Generationen politisch engagierter Menschen: Im Dezember 2023 verstarb der Philosoph und Aktivist Antonio Negri im 91. Lebensjahr.

Von Jens Kastner

In einem Brief an seinen Freund und Genossen, den Philosophen Gerald Raunig, schreibt Antonio Negri 2020: Der General Intellect verbinde im Wissen „Vernunft und Affekt, Gemeinschaft und Singularität miteinander […].“ Er stelle ein Modell dar, in dem „sich in Liebe und Demokratie (wie es die Grundrissewollten) `das soziale Individuum´ subjektiviert“. Mit Antonio Negri ist am 16. Dezember 2023 ein Autor, Theoretiker und Aktivist gestorben, der über Jahrzehnte dem unverwüstlichen Optimismus treu geblieben war, dass freie und gleiche Subjektivierungen möglich sind.

Bei einem der ersten Texte, die ich von Antonio Negri las, war ich mir nicht sicher, ob es sich um eine Satire handeln sollte. Es war ein Aufsatz in der Zeitschrift Die Beute, die in den 1990ern der Poplinken zugerechnet wurde, und es ging um die Arbeitskämpfe in Frankreich 1995. Vom „Bruch mit der Konterrevolution des 20.Jahrunderts“ war da die Rede. Der Streik sei kein reiner Arbeitskampf mehr, sondern habe sich in das Leben der Menschen verlängert und sei „in den Alltag eingedrungen“. Der euphorische Ton, den der Autor angesichts des Streiks in Frankreich anschlug, war mir bis dahin völlig fremd. Geschult an der These von der Integration der Arbeiterklasse in den Kapitalismus, die in der Kritischen Theorie von Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse vertreten wurde, schien mir das grundlegende Vertrauen in die konstituierende Macht der Arbeiter*innen fast wie eine Persiflage. Aber er meinte es ernst. „Arbeitskraft ist Armut, die als Bedürfnis und Wunsch die Kraft zu produzieren hat“, schreibt Negri in besagtem Brief. 

Als Marxist hatte Negri schon in den 1960er Jahren Begriff und Verständnis von Arbeit neu zu konzipieren versucht. Damals kam es zu verschärften Arbeitskämpfen in der norditalienischen Autoindustrie, in denen die Arbeiter weit über die Forderungen nach höheren Löhnen und weniger Arbeitszeit hinausgingen. Negri sah hier einen Kampf gegen die Arbeit am Werk, der zu so etwas wie der Leitlinie seines theoretischen Schaffens wurde. Als Mitglied der Gruppe Potere Operaio (Arbeitermacht) gehörte er schon damals zu den einflussreichsten Theoretiker*innen der außerparlamentarischen Linken in Italien. Gemeinsam mit anderen verteilte er morgens zwischen sechs und acht Uhr Flugblätter vor den Fabrikstoren, dann fuhr er mit dem Auto zur Uni. Ab 1973 war Negri Teil der Gruppe Autonomia Operaio (Arbeiterautonomie). Das Konzept der Arbeiterautonomie zielte auf Unabhängigkeit von den traditionellen Arbeiterparteien, proklamierte aber auch eine Eigenständigkeit der Kämpfe: Sie wurden nicht als Reaktion auf die Maßgaben des Kapitals interpretiert, sondern als eigentliche Triebkraft der Geschichte. Für Negri war die Fabrik aber nicht die einzige und nicht mehr die entscheidende Produktionsstätte. Das Kapital schöpft den Mehrwert von überall ab, Negri entwarf das Konzept des „gesellschaftlichen Arbeiters“, der im gesamten Sozialraum tätig ist. Die Operaist*innen forderten demtentsprechend eine Veränderung des gesamten Lebens, das ging auch von den feministischen Kämpfen um die Politisierung der Reproduktionsarbeit aus. 
Die autonome Bewegung im Italien der 1970er Jahre umfasste neben radikalen Arbeiter*innen und Künstler*innen, die etwa Rachel Kushner in ihrem Roman Flammenwerfer (2016) so eindringlich beschreibt, auch Feministinnen, Studierende und allerlei Anhänger*innen verschiedener Subkulturen. Der italienische Staat reagierte mit einer „Strategie der Spannung“, die gewaltsamen Auseinandersetzungen eskalierten und wurden schließlich mit einer großen Repressionswelle ausgebremst.

In der sich zuspitzenden politischen Lage im Italien der 1970er Jahre geriet auch Negri in die Fänge der Justiz. 1979 wurde er gemeinsam mit Hunderten von Genoss*innen verhaftet und inhaftiert. Er wurde als Verführer der Jugend beschimpft und als mutmaßlicher Kopf der Roten Brigaden angeklagt. Diese allerdings hielten ihn keineswegs für einen der ihren, nach Auseinandersetzungen zwischen Negri und führenden Brigadisten im Gefängnis, verurteilen sie ihn gar zum Tode. Nach einer mehrjährigen Phase, in der er als Abgeordneter der Radikalen Partei parlamentarische Immunität besaß, floh er nach Frankreich ins Exil. Dort blieb er vierzehn Jahre lang und schloß enge Freundschaften mit dem Psychoanalytiker Félix Guattari und dem Philosophen Gilles Deleuze, deren Konzepte der Differenz und der Wunschproduktion er in seinen Ansatz integrierte.

Wirkte das Konzept der Autonomie noch in den 1980er Jahren in der Bewegung der Autonomen mit ihren sozialen Zentren und den Hausbesetzungen nach, kam es erst zwei Jahrzehnte später zu einer wirklich globalen Rezeption von Negris Ideen. Nach vier Jahren Haft, wo er den Philosophen Baruch de Spinoza studierte und nach vierzehn Jahren im französischen Exil, fasste er seine analytischen und theoretischen Vorstellungen in dem Buch Empire (2000, Dt. 2002) zusammen, das er gemeinsam mit dem Literaturwissenschaftler Michael Hardt verfasste. Ein Buch zur rechten Zeit, es wurde ein Weltbestseller. 
Neben John Holloway, Susan George, Subcomandante Marcos, Pierre Bourdieu u.a. gehörten Negri und Hardt zu den wichtigsten Stichwortgeber*inenn der globalisierungskritischen Bewegungen um die Jahrtausendwende. Aus der no global-Bewegung wurde „im wahrsten Sinne des Wortes eine Multitude“, schrieb Negri rückblickend in seinen Rückkehr (2002, Dt. 2003) betitelten, politischen Erinnerungen.
Seinen Erfolg verdankte Empire aber nicht nur der Analyse einer weltumspannenden Verschiebung der Souveränität von den Nationalstaaten zu einer über die modernen Staaten hinausgehenden Ordnung und der These, dass die Produktion biopolitisch geworden sei. Die Biopolitik, ein Begriff von Michel Foucault zielt auf die Regierung des ganzen Lebens. 
Vorbereitet hatten Negri und Hardt diese These schon in Die Arbeit des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne (1994, Dt. 1997). Die Herrschaft des Staates, schrieben sie damals bereits, gründe „nicht länger auf disziplinierenden Einsätzen, sondern auf Netzwerken der Kontrolle“. Der Staat sei weniger als bürokratischer Apparat zu verstehen, der dem sozialen Leben gegenüberstehe, sondern er durchziehe den sozialen Raum „wie Maulwurfsgänge“. Ein solcher, auf die Kontrolle des Lebens ausgerichteter Herrschaftszusammenhang, erforderte erneut eine Erweiterung des Verständnisses der Arbeit. So integrierten Negri und Hardt die Wissensproduktion in das Konzept des „gesellschaftlichen Arbeiters“, weil nach Negri die „lebendige kognitive Arbeit“, wie es in Good Bye, Mr. Socialism (2006, Dt. 2009) heißt, zur „wichtigsten Produktionskraft geworden“ war.

Auch grundsätzlich traf die Kombination marxistischer und poststrukturalistischer Theorie einen Nerv der Zeit. Produktionsverhältnisse und Dispositive, Kapital und Differenz, Klassenkämpfe und lebendiges Begehren wurden aneinander gekoppelt. In letzteren sahen Negri und Hardt eine Biomacht walten, die die kreativen Potenziale des Widerstands gegen die Biopolitik enthält. Zwar ist die Macht des neuen Herrschaftszusammenhangs, den Negri und Hardt als koordinierend, inkorporierend und differenzierend beschrieben, allgegenwärtig. Aber die Widerstände sind es auch und letztlich bleiben das Empire und seine globalen Netzwerke, so Negri und Hardt in ihrem Hauptwerk, „eine Antwort auf die verschiedenen Kämpfe gegen die modernen Machtmaschinen“. Sie sind Reaktionen auf die „konstituierende Macht“ der Vielen, der Menge, der Multitude.

Die verglichen mit anderen Büchern linker Autor*innen relativ hohen Verkaufszahlen verdankte Empire, wie viele gut verkaufte Bücher, auch seiner interpretativen Offenheit. Vielleicht war die globalisierungskritische Bewegung die Multitude. Aber der Begriff ist so schillernd, dass er zwischen Klassen-, also Kampfkonzept und Alternative für Begriff und Vorstellung des Volkes oder der Ausgebeuteten Hin und Her flimmert. Wenn die Multitude auch ohne die homogenisierenden und ausschließenden Aspekte des „Volkes“ in Anschlag gebracht wurde, mit der antiimperialistischen Konnotation brach sie nicht: Wie „das Volk“ für Antiimperialist*innen das gute Gegenüber des Kapitals war (und ist), beschrieben auch Negri und Hardt die Multitude als emanzipatorische Gegenkraft. Dass das neoliberale Empire auch regressive Effekte haben und reaktionäre Tendenzen sowie rassistische Einstellungsmuster mit sich bringen könnte, schien nicht ins Modell zu passen. Die „neokonservative Multitude“, kritisierte die Theoretikerin Katja Diefenbach damals in der Jungle World, sei „das Ungedachte des Empire“.

Aber Negris Konzepte wurden auch vielfach produktiv angeeignet. Die Arbeiten seines Kollegen und Genossen Paolo Virno bauten mit den Konzepten der „Multitude“ und des „Exodus“ vor allem die Widerstandsperspektiven aus. Zeitdiagnostisch haben der ebenfalls aus der Autonomie-Bewegung kommende Medientheoretiker Franco `Bifo´ Berardi und die Philosophin Judith Revel, mit der Negri bis zu seinem Tod verheiratet war, an Negris Ideen angeknüpft. Während Berardi inzwischen den operaistischen Optimismus verloren und zuletzt konstatiert hat, dass mit der Dominanz kognitiver Arbeit jeder Aspekt der Sinnlichkeit dem alleinigen Kriterium des „ökonomischen Wettbewerbs und der Rentabilität“ unterworfen sei, hält Revel ihrerseits an der Möglichkeit widerständiger Politik des Gemeinsamen fest, die sie als „Ethik der Differenzen“ fasst.

Soziale Bewegungen, in denen sich die Konzepte von Negri und Hardt auch materialisierten, waren weniger um Arbeitskämpfe gruppiert, als um Kämpfe gegen die Prekarisierung aller Lebensbereiche in der MayDay-Bewegung der 2000er Jahre und um demokratische Praktiken wie in den Versammlungen im Kontext der Occupy Wall Street-Bewegung, der Indignados und des Arabischen Frühlings in den Jahren 2011/12. In Zeitschriften- und Webprojekten wie Multitude. Revue Politique Artistique Philosophique und transversal.atwerden die Negri´schen Ansätze bis heute im Hinblick auf Theorie-, Bewegungs- und Kunstpraktiken diskutiert.

Gemeinsam mit dem Politikwissenschaftler Claus Offe stieß Negri 1989 auf den Fall der Berliner Mauer an und feierte das Ende, das „der primitive und totalitäre Sozialismus endlich genommen hatte“. Seine Perspektive der Organisierung des Gemeinsamen war stets eine antiautoritäre, sie zielte, wie Negri und Hardt in Demokratie. Wofür wir kämpfen (2012, Dt. 2013) schreiben, auf die Begründung einer „wahrhaft demokratischen Gesellschaft“. Dabei ging es Negri, dem unermüdlichen Arbeiter im Kampf gegen die Arbeit, stets um die Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums insgesamt.
Ist der theoretische Status des „Gemeinsamen“ vielleicht nicht eindeutiger als jener des Empire und mag die Multitude zuweilen auch triumphalistisch überfrachtet sein, so kann Negris Form der Kritik gerade in Zeiten, in denen linke Bewegungen eher konjunkturelle Tiefs durchlaufen, nach wie vor Inspirationsquelle sein. Er selbst nannte sie eine „totale, bejahende, dionysische Kritik“.


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