in: WOZ. Die Wochenzeitung, Zürich, 04/2005, 27.01.2005, S. 21.

Fallstricke der Sichtbarkeit
„Das neue Europa“. Gibt es schon eine europäische Identität, und wenn nicht, soll oder muss sie erst erkämpft werden? Eine Ausstellung in Wien will das Thema nicht nur repräsentieren, sondern auch intervenieren.

Eine auf einen Stapel DIN-A-3-Papier projizierte Zeichnung eines Gefängnishofes verwandelt sich alle zwanzig Sekunden in die einer Bühne. Gemeinsam sind beiden Skizzen die Scheinwerfer: einmal strahlen sie vom unteren Bühnenrand, einmal vom oberen Rand der Gefängnismauer die Bildmitte an. „Die Sichtbarkeit“, hatte Michel Foucault in „Überwachen und Strafen“ geschrieben, „ist eine Falle“. Die Künstlerin Natascha Sadr Haghighian hat eine schöne und zugleich überzeugende Möglichkeit gefunden, diesen Gedanken zu veranschaulichen. Foucaults Bild für die Disziplinargesellschaft – der endlich als einzelner wahrgenommene, aber auch stets sichtbare Gefangene, der so die Überwachung als eigenes verinnerlicht – ist als Metapher für die Gegenwart etwas aus der Mode gekommen. Dennoch findet es hier wieder Verwendung und Anklang. Und zwar mit guten Gründen.
Auch Renaud Auguste-Dormeuil bezieht sich implizit auf den französischen Poststrukturalisten, indem er ein Fahrrad mit einem Siegelschild als Dachgerüst ausstattet. Diese Konstruktion nennt sich „Gegen-Projekt Panopticon“ und verhindert den Zugriff satellitengesteuerter Personenüberwachung. Das aus eigener Kraft unabhängige und mobile Individuum ist angesichts der gegenwärtigen Entwicklung eines europäischen Überwachungssystems (Galileo), mit der der Künstler sich beschäftigt, allerdings eine ziemlich optimistische Vision. Die Auseinandersetzung mit der Herstellung von Öffentlichkeit bei Sadr Haghighian und mit deren Kontrolle bei Auguste-Dormeuil stecken sicherlich zwei Pole ab, zwischen denen sich die künstlerische Hinterfragung von außerästhetischen Realitäten zu bewegen hat. Auch und gerade im „neuen Europa“.
Zwar ist Foucault in den begleitenden Texte nicht erwähnt. Sein Denken bietet sich aber tatsächlich an, um das Anliegen der von den Gastkuratoren Marius Babias (Berlin) und Dan Perjovschi (Bukarest) zusammengestellte Ausstellung zu vermitteln. Denn der Titel verweist schon auf den von ihm geschilderten Zwiespalt, der für moderne Individuen ebenso konstitutiv ist wie für strukturelle Gebilde wie Nationen oder eben Europa. „Das neue Europa“ ist ein umstrittener Terminus, wesentlich gekennzeichnet durch Unklarheit: Bezeichnet er die EU nach dem Kalten Krieg oder nach der Erweiterung? Oder ist überhaupt nicht die EU gemeint, sondern die kriegswilligen und US-hörigen Staaten nach der Einteilung des US-Verteidigungsministers? Oder auch ganz grundsätzlich: Ist es schon da und wenn nicht, sollte oder muss es erst erkämpft werden? Die Ausstellung will also bewusst nicht nur repräsentieren, sondern intervenieren. Sie ist als Positionierung, als Stellungnahme auf genau diesem umkämpften kulturellen Feld zu verstehen. Und hat sich mit dem Dilemma herumzuschlagen, mit dem jede Identitätspolitik zu kämpfen hat: sich nämlich bei allen Umdeutungsversuchen auf höchst belastete Begriffe beziehen zu müssen, in der Hoffnung, dass die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse sich irgendwann (und eventuell dadurch) zu Gunsten der selbst gegebenen Bedeutung wandeln.
Man mag vielleicht die Rumsfeld-Klassifizierung wieder abschütteln können, weil sie noch recht jung ist. Europa aber ist alt. Und das, was neu daran ist, ist nicht gerade gut. Denn mit dem seit Beginn der 1990er Jahre forcierten Integrationsprozess ist Europa als Festung konzipiert, geprägt von restriktiven Migrationspolitiken der EU-Mitgliedsstaaten. Dass sich eine „europäische Identität“ im Alltag der meisten Menschen noch nicht gebildet hat, ist kein Wunder, wird sie doch in erster Linie durch Ausschluss gebildet oder durch Abgrenzung: wahlweise vom „zersplitterten Balkan“, der „islamischen Türkei“ oder natürlich den „kulturimperialistischen USA“.

Der Titel ist also auch als Versuch zu verstehen, dieses Außen nicht zu sehr in den Vordergrund zu rücken. Eine kleine Vorarbeit auf dem Weg zu einer positiv gewendeten Europavorstellung sozusagen wird die in den letzten Jahren so häufig benutzte Figur des Dialoges zwischen West- und Ostkunst verabschiedet. Und zwar gerade um diese Differenz nicht weiterhin festzuschreiben. Die verwendeten Methoden lassen diese Unterscheidung ohnehin nicht zu. Alles, was in den letzten Jahren an konzeptuellen künstlerischen Praktiken für Furore gesorgt hat – Sammlung, Archiv, Kartographie – lies sich nicht auf spezifisch geografische Ursprünge in Südost- oder Westeuropa zurückführen. Silke Wagner hat ein Archiv angelegt, auf ineinandergeschobenen Einheitsbauteilen liegen Prospekte, Video, Zeitschriften und Merchandise von Organisationen, die mit ihrem Aktivismus zwischen Kunst und Politik lavieren. Und Lia Perjovschi hat hauptsächlich Globen, aber auch alle möglichen anderen Dinge gesammelt, die zusammen eine Kartografie des Alltags ausmachen könnten. Aber wird das neue Europa aktivistisch, selbstorganisiert, und auf dem neusten Stand der künstlerischen Entwicklung sein?
Andererseits nämlich, und darauf weist Hito Steyerl hin, lassen sich bestehende Grenzen auch nicht einfach diskursiv auflösen. Das gilt für innere soziale Unterschiede ebenso wie für äußere politische Demarkationslinien. Ihre zweiteilige Video-Installation zeigt Aufnahmen aus „Mini Europa“, einem Vergnügungspark in Brüssel, in dem nicht nur das Brandenburger Tor und der schiefe Turm von Pisa im Maßstab 1:25 zu bestaunen sind. Die BesucherInnen werden dazu animiert, in interaktiven Spielen die an die Wand projizierten inneren EU-Grenzen zum Verschwinden zu bringen. Wird dabei zum einen spielerisch vereinheitlicht, ist zum anderen an den Außengrenzen nichts zu machen.
Das Dokumentarische scheint sich in besonderer Weise anzubieten, um auf die Hürden, Stolpersteine oder auch auf die fundamentalen Hindernisse einer positiv gewendeten europäischen Identität hinzuweisen. Die Filmemacherin Jasmila Žbanić hat sich in ihren Arbeiten vornehmlich mit den Traumata des Krieges auseinandersetzt u. a. eine Kommission für die Suche Verschwundener bei ihren Exhumierungsarbeiten in Bosnien begleitet. Darin schildert einer der Protagonisten, wie vertraut er durch Recherchen und die ständige Beschäftigung im Laufe der Suche mit den einzelnen Vermissten wird. Ohne zu wissen, ob sie jemals aufgefunden, wieder sichtbar werden. In Analogie zur Vorstellung eines Europa, dessen Verletzungen und Verbrechen erst suchend aufgearbeitet werden müssten, ohne dass allerdings Gewissheit über den Ausgang dieses Prozesses erlangt werden kann, liefert Žbanić mit diesem Gedanken vielleicht sogar die eindringlichste Metapher, die die gelungene Schau zu bieten hat.

Das Neue Europa. Kultur des Vermischens und Politik der Repräsentation. Generali Foundation Wien, 20. Januar bis 24. April 2005..

Zur Ausstellung erscheint ein Katalog, herausgegeben von Sabine Breitwieser mit Texten von Marius Babias, Mirko Heinemann, Jean-Luc Nancy, Dan Perjovschi und Hito Steyerl. Verlag der Buchhandlung Walther König, 179 S., .19,90,-€