Martin Büsser
in: junge Welt, Berlin, 11.06.2008.

Wohnheime statt Tennisplätze
Eine Anthologie untersucht 1968 als globale Bewegung

Der unermüdlich über 1968 publizierende Wolfgang Kraushaar hatte 1968 als »die erste globale Rebellion« bezeichnet. Doch die Flut an Veröffentlichungen, die in diesem Jahr zum Thema erschienen sind, geht nur selten über eine Betrachtung der Ereignisse in Deutschland, Frankreich und den USA hinaus. Die von Jens Kastner und David Mayer herausgegebene Anthologie »Weltwende 1968?« bildet da eine positive Ausnahme – und zwar in mehrfacher Hinsicht. Die Aufsätze beschränken sich nicht auf sattsam Bekanntes über Langhans, Obermaier und Co., sondern geben unter anderem einen Überblick über die Ereignisse in Jugoslawien und Lateinamerika, im Senegal und im Spanien unter Franco. Erfreulich ist dabei auch die durchweg wissenschaftliche Herangehensweise, die weder nostalgische Verklärung noch zynische Abrechnung betreibt. So analysiert Marcel van der Linden beispielsweise in seinem Einleitungstext anhand von empirischem Material, warum es 1968 überhaupt zu einem weltweiten Protest hatte kommen können. Er rückt vor allem ökonomische Veränderungen in den Mittelpunkt: Das Wachstum der Weltwirtschaft, das in den1960ern auch die sogenannte Peripherie erreicht hatte, begann am Ende des Jahrzehnts zu stocken. Gleichzeitig hatte dieses Wachstum aber auch eine globale Expansion der Bildung mit sich gebracht. Die wirtschaftliche Stagnation traf also zu einem Zeitpunkt ein, an dem es weltweit so viele Studierende wie nie zuvor gegeben hatte. Beflügelt wurden die Proteste außerdem durch den Prozeß der Dekolonialisierung: »Der Unabhängigkeitskampf vor allem in Asien und Afrika schien ein neues Zeitalter der Autonomie anzukündigen, ein Zeitalter, in dem gesellschaftliches Unrecht auch im Weltmaßstab überwindbar zu sein versprach.« Doch genau das sollte sich schnell als Illusion herausstellen. Während den Protesten im Westen nachgesagt wird, sie haben zu einer Liberalisierung der Gesellschaft geführt, fand in Lateinamerika das genaue Gegenteil statt, wie Martina Kaller-Dietrich an der Niederschlagung der Studentenproteste in Mexiko festmacht: »Als Konsequenz der gesellschaftlichen Proteste putschten sich in den folgenden 1970er Jahren vermehrt Militärregimes an die Macht.« Die Autorin sieht darin sogar einen direkten Zusammenhang mit den Liberalisierungstendenzen im Westen: »Es sah danach aus, als ob die militärische Gewalt in den Süden verlagert worden wäre.«
Die zehn- bis zwölfseitigen Aufsätze, die hier versammelt wurden, können die komplexen gesellschaftlichen Veränderungen natürlich nur skizzieren, ohne allen Faktoren gerecht zu werden. Diese Verknappung fällt vor allem dort auf, wo die Beiträge Themen behandeln, zu denen es bereits umfangreiche Literatur gibt. Der Aufsatz von Kristina Schulz zur Frauenbewegung gibt leider nur die bekannte Perspektive des Westens wieder und vermeidet die Frage, inwieweit sich die Frauenbewegung auch in anderen Ländern manifestiert hat. Auch Albert Scharrenbergs Beitrag zur Bürgerrechtsbewegung in den USA kratzt gerade mal an der Oberfläche und gibt die Positionen von Martin Luther King und Malcolm X extrem verkürzt wieder. Darin liegt die Schwäche dieser Anthologie: Anstatt sich komplett auf jene Länder zu konzentrieren, zu denen es noch wenig Forschungsmaterial gibt, wurde der Westen dann doch mit ins Boot geholt. Mit dem Ergebnis, daß diese Texte nur wenig neuen Erkenntnisgewinn abwerfen. Wesentlich ertragreicher lesen sich da Amadou Lamine Sarrs Ausführungen über den Mai 68 im Senegal und Boris Kanzleiters Zusammenfassung der »affirmativen Revolte« im sozialistischen Jugoslawien.
Auf den ersten Blick verwundert es, daß die Studenten die Belgrader Universität im Juni 1968 in »Rote Universität Karl Marx« umbenannten. War Jugoslawien denn nicht schon sozialistisch? Doch genau das bezeichnet der Begriff der »affirmativen Revolte«: Die Studenten forderten kein anderes Gesellschaftssystem, sondern endlich eine Umsetzung des Sozialismus in der Praxis. Sie entdeckten die Frühwerke von Karl Marx neu und attackierten mit deren Hilfe sowohl die »bourgeoise« wie auch die »sowjetische Entfremdung«: Der jugoslawische Protest wandte sich gegen sowjetische Einflüsse, aber auch gegen ein zunehmend von den Interessen der Mittelklasse bestimmtes Jugoslawien. Es ist bemerkenswert, daß die Aktivisten in diesem Zusammenhang bereits 1969 vor dem Zerfall des Landes durch nationalistische Aufspaltungen warnten. »Im Laufe des letzten Jahres sind in allen Republiken nationalistische Tendenzen zum Vorschein gekommen, die (...) beunruhigende Dimensionen annehmen«, heißt es in einem Bericht der Studentenaktivisten. »Die Studenten unterstützen einstimmig all diejenigen Bemühungen, die zu einer Stärkung der Solidarität und der Zusammenarbeit der jugoslawischen Völker und Völkerschaften führen.« Aus heutiger Perspektive betrachtet der Autor 1968 daher als »gescheiterte Chance«: Die Warnung vor völkischer Segregation ist ungehört verhallt.
Im Senegal wurde der Bau von Tennisplätzen auf dem Unigelände zum endgültigen Anlaß für Proteste. Formal war der Senegal keine französische Kolonie mehr, doch nahezu alles ins Land investierte Geld floß noch immer nach Paris zurück. Obwohl die Wohnsituation der meisten Studenten katastrophal war, sollten 1968 auf dem Campus der Uni Dakar Tennisplätze in Millionenhöhe gebaut werden, die den weißen Diplomaten vorbehalten waren. Die Studenten sahen darin eine Fortschreibung kolonialer Strukturen und konnten auch mit Solidarität unter der Bevölkerung rechnen. Die Regierung hingegen ging mit äußerster Polizeigewalt vor und ließ den Ausnahmezustand ausrufen. Anstatt die Proteste als Chance wahrzunehmen, sich vom Einfluß Frankreichs zu lösen, sprach Staatspräsident L. S. Senghor von kommunistischer Infiltration durch China und Kuba. Doch weder China und Kuba noch das Vorbild der Studentenproteste in Frankreich haben im Senegal zu Unruhen geführt, sondern die genuine Situation vor Ort. Sie richtete sich gegen koloniale Strukturen, die weiterhin bestanden, obwohl das Ende des europäischen Kolonialismus bereits 1960 offiziell deklariert wurde.
Beispiele wie dieses machten klar, daß 1968 keine reine Wohlstandsrevolte gewesen ist. Es handelte sich um eine globale Bewegung, weil erstmals globale Abhängigkeitsverhältnisse und soziale Gefälle wahrgenommen wurden. Und doch gab es auch Länder, an denen die Proteste nahezu spurlos vorübergingen. Was war 1968 in Indien los, in Rumänien, in Portugal oder in Griechenland? Warum reagierte Japan auf 1968 nahezu gleichgültig? So ganz global ist »Weltwende 1968?« dann doch nicht ausgefallen, allerdings ein erster Schritt fort von den ewig gleichen Geschichten, Mythen und Skandalen aus und um die stets gleichen Muff-Kommunen.

(Jens Kastner / David Mayer (Hg.): »Weltwende 1968? Ein Jahr aus globalgeschichtlicher Perspektive.« Geb., 208 S., Wien 2008, Mandelbaum Verlag).


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