Torsten Bewernitz
in: Semesterspiegel. Zeitung der Studierenden in Münster, Nr. 377, Oktober 2008, S. 22-23.



Das unbekannte 1968
Die verpasste Weltrevolution

Woran denkt man heute, wenn man an 1968 denkt? Erst einmal nur an ein Jahr, zweitens nur an Studierende, drittens an die Universitätsmetropolen Paris, Berlin und Berkeley, an Rudi Dutschke, Daniel Cohn-Bendit, den Tod Benno Ohnesorgs – im Großen und Ganzen also an das Geschehen an Universitäten in Europa und den USA in einem einzigen Jahr. Jens Kastner und David Mayer sind mit ihrem Sammelband ‚Weltenwende 1968’ angetreten, diese Sichtweise zu relativieren. Die vier Hauptaspekte, die ihren Sammelband leiten, sind ein globaler Blick, eine Fokussierung der explizit nicht-studentischen Proteste, das Verständnis von ‚1968’ als einem symbolischen Jahr in einem Kampzyklus und letzten Endes eine Historisierung, die diesen Namen auch verdient. Denn im Gegensatz zum Feuilleton und der Populärwissenschaft ist Kastner und Mayer 1968 nicht das Jahr der Studierenden Europas.

‚1968’ als Chiffre einer Ära
Angelehnt an Eric Hobsbwams Ausspruch vom „kurzen 20. Jahrhundert“ sollte 1968 als Chiffre für die „langen 1960er Jahre“ (Peter Birke: S.11) gelten, denn ansonsten lassen sich die Ereignisse von 1968 kaum erklären. Wo dieser Kampfzyklus beginnt und aufhört, darüber streiten sich HistorikerInnen und SozialwissenschaftlerInnen durchaus: Für die einen markiert die kubanische Revolution den Beginn dieses Zyklus und der Sturz Salvador Allendes in Chile das Ende. Das ist eine sehr politikwissenschaftliche Herangehensweise, denn hier wird nur die ‚große Erzählung’ der staatlichen Politik betrachtet. 1968 hatte aber auch in Deutschland eine spezifische Vorgeschichte. Gregor Kritidis weist in seiner jüngst erschienenen Dissertation „Linkssozialistische Opposition in der Ära Adenauer: Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland“ deutlich auf eine Vorgeschichte auch in Deutschland hin. Diese Geschichte beginnt nicht mit einem Haufen sozialistischer Studierender, sondern beruft sich auch auf vorher da gewesene soziale Proteste. Am vorläufigen Ende dieser Entwicklung stand der Ausschluss des SDS aus den Reihen der SPD.

1968 gehört nicht den Studierenden!
Eine Organisation wie der SDS und eine Bewegung wie die APO konnte nicht einfach aus dem Nichts entstehen, sondern blickt auf eine Tradition des Widerstands zurück, die keineswegs auf einige ‚Führer’ begrenzt werden kann, die plötzlich, im Osten geschult, erschienen: Auch im Westen wurde Marx gelesen, und nicht erst 1968. Dass sich die 1968er auch in Opposition zu dem sowjetischen Staatsmarxismus befanden, zeigt das wieder erwachende Interesse an anarchistischen und syndikalistischen AutorInnen zu dieser Zeit.
Noch verschütteter als die politische Opposition vor 1968 liegt die Geschichte einer Arbeiterbewegung zwischen 1945 und 1968. Hier hat Peter Birke mit seiner Dissertation „Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark.“ wissenschaftliche Pionierarbeit geleistet. Es gab den ökonomischen Widerstand aus der ArbeiterInnenklasse. Im Gegensatz zu den Akteuren des studentischen 1968 arbeiteten sie aber im Verborgenen: Einem Arbeitnehmer konnte es nicht recht sein, zu einem kriminalistischen ‚Fall’ zu werden und damit sein wirtschaftliches Überleben aufs Spiel zu setzen. Insbesondere die Streikwelle 1967 in ganz Europa muss als Mitauslöser der Ereignisse von 1968 verstanden werden. Ähnliche Streikbewegungen gab es global: Der berühmte Mai 1968 in Paris war nicht nur eine Studentenrevolte, sondern gewann seine Kraft durch den bis in den Juni gehenden Generalstreik. Ebenso exemplarisch ist die Vielzahl der Streiks und ArbeiterInnenwiderstände in Italien, die unter dem theoretisierenden Stichwort ‚Operaismus’ in die Geschichte eingegangen sind – einen Überblick liefert im vorliegenden Band Dario Azzelini (S.172 – 186).

1968 als globales Ereignis
Die – nicht erst 1968 beginnenden – ArbeiterInnenwiderstände in verschiedensten Ländern liefern einen Hinweis darauf, dass 1968 auch strukturelle Hintergründe hatte. Marcel van der Linden stellt in seinem Beitrag (S.23 – 34) einen Überblick der Streiks und proletarischen Proteste dar und stellt sich die Frage, warum diese global gleichzeitig stattgefunden haben. Als Aspekte benennt er das nahende Ende des globalen Wirtschaftswachstums, das zumindest empirisch wachsende ArbeiterInnenunruhen intendiert – spätestens 1972 ist das keynesianisch-fordistische Modell in der endgültigen Krise. Gleichzeitig hat sich durch ein expandierendes Bildungssystem und den vorhergehenden „Baby-Boom“ die Zahl der Studierenden vervielfacht und damit auch jener, die nicht aus den traditionellen Eliten stammten und das entwickelten, was van der Linden ein „Gewerkschaftsbewusstsein“ (S.28) nennt. Drittens sind die Entkolonialisierungsprozesse zu nennen, die an vielen Orten die Entstehung nationaler Befreiungsbewegungen zur Folge hatten, die einerseits durchaus aus einem ähnlichen Erfahrungshintergrund zu Waffen griffen, andererseits in ihren Diskussionen vielerorts als Inspirationsquelle gelten können. In einem solchen weiten Sinne muss 1968 als Kumulation eines Protestzyklus gelten, der nicht nur Prag 1968 (vgl. den Beitrag Dieter Segerts: S.114 – 129) erfasste. Mit den ArbeiterInnenaufständen in den ‚realsozialistischen’ Ländern wie auch mit den Befreiungsbewegungen in Afrika und Lateinamerika nahm der Kampfzyklus, den wir heute als 1968 kennen, sicherlich seinen Anfang. Eine Sonderstellung nimmt hier Jugoslawien ein: Schon früh brach der Staat mit dem sowjetischen Stalinismus. 1968 in Jugoslawien hatte eine wesentliche Differenz zu dem 1968, wie es heute im Westen reflektiert wird: Die jugoslawischen 68er kämpften für die Realisierung des offiziellen Regierungsprogramms, wie Boris Kanzleiter (S.98 – 112) darstellt.

1968 als gescheiterte Revolution
Betrachtet man 1968, die Thesen in dem Band Kastners und Mayers bedenkend, nicht als eine spontane, in der Ersten Welt stattfindende Rebellion, die in einem Jahr stattfand, sondern bettet die Ereignisse in Berkeley, Berlin und Paris 1968 zeitlich und global ein in die sich anbahnende ökonomische Krise, die neo- oder postkolonialen Befreiungsbewegungen, die Bewegungen für einen anderen Sozialismus in den Staaten des Ostblocks und die massiven Streiks der Zeit, so ergibt sich eine länger anhaltende globalhistorische Ereignisserie, die eine Weltwende hätte werden können – und vielleicht teilweise eine geworden ist, denn ohne die neue Gedankenwelt von 1968 wäre auch der Zusammenbruch des Warschauer Paktes nicht möglich gewesen. Wie so oft, so zeigt sich aber auch hier, dass aus einer formulierten Idee keineswegs das werden muss, was ursprünglich mal geplant war.
Es ist in diesem Sinne durchaus angemessen, 1968 als Versuch einer heterogenen Weltrevolution anzusehen, wie es Immanuell Wallerstein macht, einer Argumentation, die die Herausgeber Kastner und Mayer folgen (S.13). 1968 war in diesem Sinne historisch ebenso relevant wie die russische Revolution 1918, die auch nicht getrennt von Umbruchsbestrebungen wie der mexikanischen Revolution 1910 ff. und den Aufständen und Räterepubliken in Deutschland betrachtet werden darf: Auch hier harmonierten gleichzeitige Umsturzbestrebungen mit einer globalen Krise.
‚Weltrevolution’ klingt immer auch etwas nach Ideologie. Der Verdacht könnte aufkommen, dass es hier doch nicht um eine historisierende Betrachtungsweise ginge, sondern um die Verklärung einiger wilder Streiks und studentischer Proteste zu einem homogenen Ganzen.
Kastner und Mayer umgehen diese Falle, nicht zuletzt, weil sie ‚1968’ zwar als Weltrevolution betrachten, aber als eine gescheiterte: „Es geht bei einer Bestandsaufnahme nicht nur darum, dass viele sozialemanzipatorische Ansprüche von ‚1968’ uneingelöst geblieben sind, sondern auch darum, dass ein Großteil der Welt nicht einmal von jenen Reformen profitierte, die man im öffentlichen Diskurs in Europa ‚1968’ zuschreibt.“ (S.21). „In dieser Hinsicht ist es heilsam, 1968 als eine echte Niederlage zu betrachten [...]“ (S.20).

Historisierung statt Hysterisierung
‚1968’ nicht mehr als eine Sache europäischer und US-amerikanischer Studierender zu debattieren, sondern in einen globalen und historischen Zusammenhang zu stellen, wie es Kastner und Mayer machen, erlaubt erst eine intersubjektive Sichtweise auf die historischen Ereignisse. Die Schüsse auf Rudi Dutschke und der Tod Benno Ohnesorgs waren nicht (nur) Ausgangspunkt einer studentischen Rebellion, sondern Folge einer Serie von Ereignissen verschiedenster Art. Wäre ‚1968’ nichts weiter als ein Aufstand jugendlicher Studierender gewesen, es wäre schon längst aus dem kulturellen Gedächtnis getilgt: Die Studierendenproteste 1997/98 in der BRD, eingerahmt in Proteste von Rentnern, Arbeitslosen und Gewerkschaften, die sich rückblickend als eine „Kohl-muß-weg“-Bewegung beschreiben lassen (und dann auch endeten, als die erste rot-grüne Regierung an die Macht kam) haben 1968 quantitativ weit überragt. Dennoch sind die Ereignisse nicht wie 1968 zu einem kulturellem Code geworden.
Dennoch muss man nach Schluss der Lektüre feststellen, das global doch die Studierenden die Hauptakteure waren: Sei es nun die lateinamerikanische Theologie der Befreiung, der undogmatische Marxismus der Praxis-Gruppe in Jugoslawien oder die künstlerischen Interventionen der Situationistischen Internationale in Frankreich: Die wahrnehmbaren Akteure von 1968 bleiben Intellektuelle – was aber nicht bedeutet, dass sie die einzigen waren.
Print- und visuelle Medien betrachten zum Jubiläum 1968 als Jugendrevolte, die mit Drogen, Lifestyle und Rockmusik assoziiert werden. Photos von Hippies und Rockern bevölkern die Feuilletons des Mainstreams. Diejenigen, die sich äußern dürfen, sind die – teils geläuterten – ZeitzeugInnen. Jugend-träumerische Verherrlichung steht gegen abrechnende Verteufelung. Gerade letztere ist, auch wenn sie von einem renommierten Historiker geäußert wird, eben keine Historisierung, sondern vielmehr eine Hysterisierung. Kastner und Mayer können diesen Blickwinkel gerade deswegen korrigieren, weil sie zu jung sind, um dabei gewesen zu sein.

Torsten Bewernitz

Kastner, Jens und David Mayer (Hrsg.) 2008: Weltwende 1968? Ein Jahr aus globalgeschichtlicher Perspektive. 207 Seiten (gebunden, Halbleinen). Mandelbaum-Verlag, Wien. 17,80 €

Weitere verwendete und ‚anrezensierte’ Literatur:

Birke, Peter 2007: Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark. Campus-Verlag, 376 Seiten. Campus-Verlag, Frankfurt a.M./ New York. 39,- €

Kritidis, Gregor 2008: Linksozialistische Opposition in der Ära Adenauer. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. 582 Seiten. Offizin-Verlag, Hannover. 34,80 €
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