in: ila. Das Lateinamerika-Magazin, Bonn, Nr. 455, Mai 2022, S. 9-11.
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Die Verortung der Kritik
Enrique Dussels Philosophie der Befreiung und die Leerstellen der Kritischen Theorie


Von Jens Kastner

In der aktuellen Debatte um dekolonialistischen Perspektiven auf den Kapitalismus und die europäische Moderne ist sein Name nicht zu umgehen: Enrique Dussel. Das Werk des 1934 in Argentinien geborenen und in Mexiko lebenden Philosophen beschränkt sich allerdings keineswegs auf die dekolonialistische Theorie. Es umfasst eine beeindruckende Liste von Büchern zu Karl Marx und der Frage der Produktionsverhältnisse, zur Ethik und sogar zur Kirchengeschichte in Lateinamerika.[1] Die Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie, den Ansätzen von Max Horkheimer bis Jürgen Habermas, spielt darin eine kleine, aber nicht unwesentliche Rolle. In der Konfrontation von Dussels Entwurf einer „Philosophie der Befreiung“ mit einigen Ausgangspunkten und Annahmen der Kritischen Theorie stehen nicht weniger als die Grundlagen kritischen Denkens zur Debatte.

Dussel war bereits in den 1960er Jahren als Dozent in Mainz mit dem Denken der Frankfurter Schule in Kontakt gekommen. Bereits die Tatsache, dass seine Interventionen in die theoretischen Debatten der Zeit in keinem Überblickswerk zur Kritischen Theorie auftauchen, ist vielsagend. Sie scheint auf bittere Art und Weise zu belegen, wie Recht Dussel mit seinem Diktum hatte, dass auch im akademischen Diskurs entscheidend ist, „von wo aus wir sprechen“. Wäre er nicht ein lateinamerikanischer, sondern deutscher oder US-amerikanischer Intellektueller, hätten seine Anmerkungen vielleicht auch Eingang gefunden in die vielstimmige Literatur zum Thema. Schließlich macht Dussel u.a. auf Unzulänglichkeiten aufmerksam, die keinesfalls nur methodologische Nebensächlichkeiten sind: zentrale Kategorien und Begriffe der frühen Kritischen Theorie wie „Moderne“ und „Totalität“, aber auch Konzepte ihrer späteren Entwürfe wie „Geltung“ und „Anerkennung“ stehen zur Disposition. Sie alle seien, so Dussel, jeweils ohne einen Blick auf „die Opfer eines weltweiten Systems“, nämlich des Kolonialismus, unvollständig bzw. unzureichend konzipiert geblieben. Der Blick auf die spezifischen Opfer des Kolonialismus – ausgebeutete Minenarbeiter, versklavte Plantagenarbeiter*innen, in die Prostitution gezwungene indigene Frauen u.v.a. – ist demnach zentral für ein Verständnis globaler Ungleichheit und der Verwerfungen des Kapitalismus. Dies sei eben von den wichtigsten Autor*innen der Kritischen Theorie, wie Dussel zu Recht betont, nicht berücksichtigt worden.

Deren Ausblendung lässt sich durchaus auch als Effekt jener Kolonialität des Wissens begreifen, deren Analyse sich die dekolonialistische Theorie zuwendet. Kolonial geprägt sind demnach nicht nur ökonomische Strukturen, geografische Einheiten usw., sondern auch die Erkenntnis schlechthin. Diese Kolonialität des Wissens hat die Kritische Theorie, wie auch die dekolonialistische Kulturwissenschaftlerin Catherine Walsh im Anschluss an Dussel betont, relativ unsensibel gemacht für die Existenz „‚anderer’ konzeptueller und politischer Rahmungen, ‚anderer‘ Wissensproduktion und ‚anderen‘ Subjekten gegenüber“. Subjekte, die sich nicht nur im Hinblick auf ihre Klassenlage, sondern auch in Bezug auf ihre gelebte Erfahrung als kolonisierte und rassialisierte Subjekte unterschieden. Gerahmt von der Wissensproduktion der klassischen Moderne und orientiert am marxistischen Fokus auf die Klassenantagonismen, kommen rassialisierte Verhältnisse und Kolonialismen in der Kritischen Theorie tatsächlich kaum vor.
Zunächst erscheint also Dussels Hinweis darauf, dass es entscheidend sei, „von wo aus wir sprechen“ – entscheidend für das, was gesagt wird, und entscheidend für die Chance, gehört zu werden – sehr plausibel. Der Hinweis bezieht sich nicht allein auf das akademische Feld, sondern auch auf die globale Arbeitsteilung ebenso wie auf die Ökonomie der globalen Öffentlichkeiten. Er dient der Infragestellung der wissenschaftlichen Neutralität und fungiert als kritischer Zweifel am ‚westlichen‘ Universalismus.

Allerdings wendet Dussel das Motiv der Verortung (von wo aus wir sprechen) dann normativ: Aus der Beschreibung eines kritisierenswerten Zustands wird eine Bedingung der Kritik. Dussel versucht also, und damit ist er innerhalb der dekolonialistische Theorie nicht allein, den Ort der Existenz, d.h. der konkreten Lebenswelt der Menschen, zum Ausgangspunkt für Kritik und für (emanzipatorische) politische Praxis zu machen. Kritik und Praxis haben demnach ihre Grundlage in der Materialität der Ausgebeuteten und Diskriminierten. Diese Kritik soll von allen ausgegrenzten Praktiken ausgehen, die im herrschenden System „als nichtexistent, unproduktiv und unnütz betrachtet werden“. Dussel nennt dieses Unnütze und Verneinte die Exteriorität, eine Art außerhalb des Denk- und Sagbaren. Die Exteriorität, ein Schlüsselbegriff in Dussels „Philosophie der Befreiung“, bezeichnet die Verneinung durch das System oder durch den hegemonialen Diskurs. Sie ist aber nicht nur beklagenswerte Ausgrenzung. Sie ist für Dussel auch notwendiger Ausgangspunkt für Kritik und Praxis. In der Exteriorität findet die kritische Praxis ihr Außerhalb der Herrschaft und hier (be-)gründet sich in Dussels Vorstellung eine kritische „Gemeinschaft der Unterdrückten“. Damit wird emanzipatorischer Kritik und Praxis ein bestimmter Ausgangs- und Standort zugeschrieben, nämlich derjenige erfahrener Unterdrückung und Ausbeutung.

Dussel sieht seine Hinweise auf die materielle und gemeinschaftliche Grundlage von Kritik und Praxis als Konzept, dass die Ansprüche der Kritischen Theorie „in einem radikaleren Sinn“ zu fassen ermögliche, als alle drei Generation dieser Strömung es getan hätten. Er wirft der Kritischen Theorie im Umkehrschluss also mangelnde Radikalität vor. Dieser Vorwurf allerdings geht ins Leere – oder, genauer, er geht am ursprünglichen Impetus der Kritischen Theorie vorbei. Denn es war der Ausgangspunkt der frühen Kritischen Theorie, sich dagegen zu verwahren, eine bestimmte soziale Lage und kollektiv erfahrene Ausbeutung und Diskriminierung zur notwendigen Voraussetzung für berechtigte Kritik zu machen. Legitime Gesellschaftskritik und Ausgebeutetsein wurden voneinander entkoppelt. Diese Position war gerade nicht, wie Dussel der frühen Kritischen Theorie vorwirft, mangelnder Radikalität oder einem Intellektualismus geschuldet, der sich vom materiellen Leid abgewendet habe. Im Gegenteil, es war ein bewusstes – und für die Kritische Theorie paradigmatisches – Statement, als Max Horkheimer in seinem wegweisenden Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ (1937) schrieb, eine auf die Abschaffung von Unrecht und Leid ausgerichtete Theorie könne sich durchaus im Gegensatz zu Ansichten befinden, die beim Proletariat – in einer anderen Version des Textes spricht Horkheimer allgemeiner von „den Ausgebeuteten“ – gerade vorherrschten. „Ohne die Möglichkeit dieses Konflikts“, schrieb Horkheimer, „bedürfte es keiner Theorie“. Gerade weil ihm das Proletariat nicht per se als fortschrittlich galt, was angesichts der Zustimmung vieler Arbeiter*innen zum Nationalsozialismus eine auch empirisch fundierte Annahme war, sollte Kritik nicht als eine gedacht werden, die einzig dem Nährboden proletarischen Bewusstsein entwächst. Die Bodenlosigkeit der Kritik, die sich daraus ergibt, wurde von Horkheimer dabei durchaus in Rechnung gestellt und in Kauf genommen. Die Kritische Theorie, schrieb er, könne keine spezifische Instanz für sich in Anspruch nehmen „als das mit ihr selbst verknüpfte Interesse an der Aufhebung gesellschaftlichen Unrechts.“

Dieser Punkt ist zentral und nach wie vor gegen eine allzu emphatische Aufladung der politischen Absichten der Ausgebeuteten und jener „von unten“ einzuwenden. Denn die Dussel’sche Festlegung einer wie auch immer gearteten „Gemeinschaft der Unterdrückten“ als einzig legitimen Ausgangspunkt einer verorteten Kritik und Praxis birgt doch große Probleme. Zum einen stellt sich die Frage, worin das Gemeinsame einer solchen Gemeinschaft liegen soll. Sollen die unzweifelhaft vorhandenen Differenzen in den Lebensweisen wie auch in den Ausbeutungs- und Diskriminierungsformen nicht vollends geleugnet werden, stellt sich die Anschlussfrage, wie sie theoretisch in Rechnung gestellt werden könnten. Diese Fragen sind auch an Catherine Walshs Vorstellung eines „anderen Wissens“ zu richten, das sich ebenfalls als recht einheitlich aus verschiedensten Formen der Marginalisierung zu ergeben scheint. Das „andere Wissen“ der „Gemeinschaft der Unterdrückten“ wird nicht nur vereinheitlicht, sondern auch inhaltlich vereindeutigt: Es wird bei Dussel wie auch bei anderen Theoretiker*innen aus dem Spektrum der dekolonialistischen Theorieansätze immer als emanzipatorisches Wissen gedacht. Damit stellt sich zum anderen auch praktisch das Problem, dass wer über den Ausgangs- und Standpunkt einer solchen Zugehörigkeit zur „Gemeinschaft der Unterdrückten“ nicht verfügt, als qua (sozialstruktureller, ethnisierter, geschlechtlicher und sexueller) Position nicht berechtigt erscheint, Wort und Praxis der Kritik für sich in Anspruch zu nehmen. Die Zugehörigkeit zur Community wird als entscheidender betrachtet als die Haltung an sich. Damit wird die Möglichkeit von Kritik tendenziell essentialisiert, also an eine wesenhafte Vorstellung vom Dazugehören geknüpft. Die Ablehnung einer solchen Essentialisierung, also der Behauptung einer wesensmäßigen Verbindung zwischen sozioökonomischer und kultureller Verortung und kritischem Standpunkt, markierte allerdings schon den Beginn dessen, was uns heute als Kritische Theorie bekannt ist. Es ist nicht mangelnde Radikalität, die die Kritische Theorie eine direkte Verknüpfung von Diskriminierungs- und Ausbeutungserfahrung und emanzipatorischer Praxis (inklusive Kritik) ablehnen ließ, wie Dussel ihr vorgeworfen hat. Es ist vielmehr ihr wohlbegründeter Anspruch auf eine auch theoretisch vollzogene Denaturalisierung sozialer Verhältnisse.

Das Problem, die Legitimität des kritischen Standpunkts an die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Unterdrückten zu binden, wird auch damit nicht gelöst, dass diese so weit wie möglich ausgedehnt wird. Dussel schreibt in den Kölner Vorlesungen, sich selbst zitierend, die Exteriorität sei das Volk selbst und das Projekt der Befreiung müsse dementsprechend „von der Volkskultur aus[gehen]“. Problematisch daran ist nicht nur, dass die Klasse und intersektionale Ausbeutungs- und Diskriminierungskategorien hier durch das tendenziell homogenisierende „Volk“ ersetzt werden. Das ist selbst dann noch problematisch, wenn Dussel das Volk als kollektiven politischen Akteur schlechthin verstanden wissen will und explizit nicht als „ein fetischisiertes substantielles ‚historisches Subjekt‘“. Denn das Problem ist der von Horkheimer angemahnte und nicht stark genug zu machende Punkt: Ein so verstandenes Volk kann per definitionem dem Projekt der Befreiung nicht entgegenstehen. Das ist letztlich ein Erbe der antiimperialistischen Tradition, in der davon ausgegangen wurde (und bis heute davon ausgegangen wird), dass Imperialismus und Kolonialismus durch die emanzipatorische „Kraft des Volkes“ besiegt werden, wie Ernesto Che Guevara es in seinem Text „Taktiken und Strategien der lateinamerikanischen Revolution“ Anfang der 1960er Jahre formuliert hatte. Die politische Wunschvorstellung prädisponiert damit immer schon die analytische Kategorie. Anders gesagt: Rechte und reaktionäre Tendenzen haben im Begriff des Volkes keinen Platz. Das Volk bei Dussel enthält die Ausgegrenzten und Marginalisierten ebenso wie verschiedene emanzipatorische (und nur emanzipatorische) soziale Bewegungen, die sich im Dialog und durch „gemeinsame militante Praxis“ zum Volk konstituieren.

Auch wenn Dussel vor allem lateinamerikanische Gesellschaften im Blick hat, beansprucht er mit seinen Begrifflichkeiten doch politische Verhältnisse überhaupt zu beschreiben. Dabei muss der emphatische Volksbegriff vollends scheitern. Denn die Volksgemeinschaft des Nationalsozialismus, die ja nicht nur eine ideologische Anrufung war, sondern auch tatsächliche Realität (was nicht heißt, dass es im „Volk“ nicht auch Antifaschist*innen gab), lässt sich mit einem solchen Begriff nicht handhaben. Auch die britischen Arbeiter*innen, die, wie vom marxistischen Cultural Studies-Theoretiker Stuart Hall als so theorierelevant herausgestellt wurde, 1979 in ihrer Mehrheit Thatcher wählten und damit eine Basis für den Aufstieg des Neoliberalismus bildeten, lassen sich dann nicht mehr verstehen. Schließlich müssen auch die österreichischen Arbeiter*innen, die noch heute mehrheitlich FPÖ wählen, aus dem analytischen Blick fallen. Sie alle lassen sich mit dem Ansatz von Dussel nicht fassen, ihre Praxis muss ausgeblendet werden und damit unverstanden bleiben.
Dussel denkt die Prozesse von „Information, Dialog, Übersetzung“, durch die sich eine „Politik der Befreiung“ konsolidieren soll, immer als Vorgänge zwischen emanzipatorischen Akteuren. Dass die Exteriorität auch Ressentiment hervorbringt, ist nicht vorgesehen.



Dieser Text ist die überarbeitete Version eines Kapitels aus „Dekolonialistische Theorie aus Lateinamerika. Einführung und Kritik“ von Jens Kastner, Unrast Verlag 2021, 208 Seiten, 16 Euro.


Von Enrique Dussel sind zuletzt auf Deutsch erschienen:
* 20 Thesen zu Politik. Berlin 2013, Lit Verlag.
* Der Gegendiskurs der Moderne. Kölner Vorlesungen. Wien/ Berlin 2013, Reprint 2018, Verlag Turia + Kant.
 

 


[1] Viele der Bücher Dussels, einige davon auch auf Deutsch, lassen sich auf der gut sortierten und mit umfangreichen Materialen ausgestatteten Homepage des Philosophen herunterladen: https://enriquedussel.com/novedades/libros/

 

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* Koloniale Klassifikationen 
Zur Genese postkolonialer Sozialtheorie im kolonialen Algerien bei Frantz Fanon und Pierre Bourdieu

in: Suber, Daniel, Hilmar Schäfer und Sophia Prinz (Hg.): Pierre Bourdieu und die Kulturwissenschaften. Zur Aktualität eines undisziplinierten Denkens, Konstanz 2011 (UVK Verlagsgesellschaft), S. 277-302.
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