in: springerin. Hefte für Gegenwartskunst, Band XXIV, Heft 1, Winter 2018, S. 74.
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Didier Eribon: Gesellschaft als Urteil. Berlin: Suhrkamp Verlag 2017.

Text: Jens Kastner

Zur Scham durch soziale Abwertung kommt die Angst hinzu. Die permanente Angst vor Gewalt. Und die soziale Marginalisierung, die beide auslöst, trägt sich über Generationen weiter. Auch heute noch. So ließen sich die zentralen Einsichten auf den Punkt bringen, die der französische Soziologe Didier Eribon in „Gesellschaft als Urteil“ formuliert. Er setzt in seinem neuen Buch die Sozioanalyse fort, die er in dem Bestseller „Rückkehr aus Reims“ begonnen hatte.
Eribon steigt noch persönlicher in seine Klassenanalyse ein als schon im Vorgängerbuch. Auf dessen Cover hatte er das Foto beschnitten, das ihn neben seinem Vater zeigte. Der Vater ist nicht auf dem Buch. Aber darin. Dass das Abschneiden letztlich unmöglich ist und die Geschichte der Arbeiter*innenklasse auch im schwulen Intellektuellen noch fortlebt, der sich seine Identität selbst erarbeitet, zeigt Eribon eindrücklich an seiner eigenen Person. Diese persönliche Herangehensweise machen das Buch zu einem sehr berührenden Werk.
An soziologischer Schärfe mangelt es dennoch nicht. Man kann die Interaktion zwischen Menschen nur angemessen erfassen, schreibt Eribon, wenn man diese Beziehung „einer soziologischen Analyse, einer theoretischen Reflexion“ unterzieht. Seine eigene Analyse handelt im Wesentlichen von den Langzeitfolgen eines Wechsels der sozialen Klassen, vom sozialen Aufstieg, der zugleich eine kulturelle Deplatzierung ist und bleibt. Eribon schildert an vielen Beispielen aus der Literatur und aus der Selbstbetrachtung von Intellektuellen – Annie Ernaux, Paul Nizan, Richard Hoggart u.a. – die strukturellen Schwierigkeiten, die damit verbunden waren und sind, die gesellschaftliche Klasse zu wechseln. Man wird den klassenbasierten, familiären Hintergrund nie los.
Eribon orientiert sich hier erneut stark an der Sozialtheorie Pierre Bourdieus – er nennt „Rückkehr nach Reims“ rückblickend sogar ein „Nachfolgebuch zu ‚Die feinen Unterschiede’“. Zwar kritisiert er Bourdieu auch für seine relative Blindheit gegenüber der sexuellen und geschlechtlichen Dimensionen von Herrschaftsverhältnissen. Am Beispiel seiner beiden Großmütter nimmt er aber auch eine interessante Konkretisierung Bourdieu’scher Theoreme vor: Beide sind Arbeiterinnen und stark vom proletarischen Milieu geprägt und entwickeln doch völlig andere Habitus. Die eine geht komplett in ihrer Rolle als „Familienmutter“ auf, die andere versucht, möglichst frei zu leben und empfindet ihr Kind als Last. Soziale Strukturen prägen, folgert Eribon, aber sie determinieren nicht, „ihre Wirkungsweisen sind keinesfalls eindeutig. Sie können ganz unterschiedliche Reaktionen hervorrufen.“
Zu den stärksten Passagen des Buches zählt sicherlich die daran anschließende Kritik an Richard Hoggart. Der Gründervater der Cultural Studies verteidigte die Arbeiterkultur gegen den Konsumkapitalismus und seine Vereinnahmungsversuche. Das ist sein Verdienst. Aber wie er es tut, das kritisiert Eribon: Er verteidigt dabei nämlich die traditionellen Verhaltensmuster, vor allem die familiären. Er zelebriert, schreibt Eribon, „die Trägheit des Habitus“. Die Hausfrau-Großmutter wird verherrlicht, die lebensfreudige verurteilt. Mit seiner Kritik an Hoggart spricht Eribon auch ein zentrales Problem jeder engagierten Sozialwissenschaft an: Die Glorifizierung von Arbeiterkultur, oder auch von indigenen Kulturen, ist eine häufige Tendenz bei denjenigen, die sie mit emanzipatorischer Absicht beschrieben haben und beschreiben.
Zu den wichtigsten Fragen, die das Buch stellt, gehört also die danach, wie den Fallstricken dieser Verherrlichung zu entgehen ist. Denn sie ist letztlich auch bloß eine Art Reflex auf die Gewalt der Zuschreibung – „Gesellschaft als Urteil“ —, von der das Buch handelt. Man ist Urteilssprüchen ausgesetzt, die „man niemals verstehen kann und doch auf sich nehmen muss.“ Verherrlichung und Verurteilung sind nur zwei Varianten derselben Bezugnahme. Es bedarf schließlich einer „Geste des Abstandnehmens“, die kritische Reflektion wieder möglich macht. Eine politische Abstinenz der Sozialforschung ist damit allerdings nicht gemeint. Nach dem oftmals verkündeten Ende der Klassengesellschaft ist die detaillierte Schilderung von deren langlebiger Existenz in den individuellen Körpern auch ein wichtiges politisches Statement. Denn sie widerspricht den Voluntarismen der neoliberalen Doktrin, dass alles immer möglich und nur eine Frage des persönlichen Willens und Geschicks ist.
Nach der analytischen drängt sich dann schließlich eine politische Frage auf: Gibt es Möglichkeiten, sich diesem Urteil zu entziehen? Und wenn ja, welche? Man kann nicht, schreibt Eribon, „in einem Milieu leben, ohne sich dessen Funktionsweisen – und seien es nur die Abläufe der täglichen Existenz – zu eigen zu machen. Man wird von jedem Milieu unweigerlich vereinnahmt.“ Herrschaft reproduziert sich im Alltag. Und dennoch: „Dieser primäre Gehorsam ist die unverzichtbare Grundlage für jeden Ungehorsam.“ Wahrscheinlich muss man sich dafür zunächst auf jene „Odyssee der Wiederaneignung“ begeben, von der schon Bourdieu gesprochen hatte und die Eribon hier in seiner eigenen, wieder beeindruckenden Form vorlegt.



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