in: analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis, Hamburg, Nr. 653, 15. Oktober 2019, S. 34.
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Raserei und Ausblendung
Diskussion. Anmerkungen zu Hartmut Rosas Theorie von Beschleunigung und Resonanz aus dekolonialistischer Perspektive

Die Welt rast. Gegenwärtig sind ungeheure Beschleunigungen festzustellen, und zwar in mindestens dreierlei Hinsicht: Die technologische Entwicklung vollzieht sich schneller denn je, sozialer Wandel ebenso und auch das Lebenstempo selbst hat sich beschleunigt. Diese allumfassende Beschleunigung ist getragen von permanentem Wachstum, nicht nur in wirtschaftlichen Belangen. Aber sie hat auch Folgen, vor allem negative: Entfremdung und ein Verlust von Resonanzen. All das behauptet der Soziologe Hartmut Rosa in seinen vieldiskutierten Büchern Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit (2010) und Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung (2018). Er möchte darin analytisch die zentralen Dynamiken moderner Gesellschaften erfassen, politisch sind seine Bücher auch Plädoyers für gelingende Weltbeziehungen, wie er es nennt: für ein gutes Leben, das sich durch Resonanzen auszeichnet, also durch Erfahrungen von sinnvollem Tun und bereichernder Gegenseitigkeit geprägt ist.
Hartmut Rosas Bücher sind einerseits Zeitdiagnose, andererseits beanspruchen sie aber auch, die Kritische Theorie zu erneuern und somit in die Gesellschaft zu intervenieren, die sie beschreiben. Vieles an Rosas Erneuerungsversuch Kritischer Theorie ist zeitdiagnostisch plausibel und theoretisch beeindruckend. Aus emanzipatorischer Perspektive lassen sich allerdings einige Kritikpunkt formulieren. Zwei solcher Punkte sollen im Folgenden aufgezeigt und diskutiert werden. Die eine Kritik betrifft Rosas Analyse von den Ursprüngen der Beschleunigung, die andere den Umgang mit ihr.

Moderne und Kolonialismus
Die Beschleunigung ist nach Rosa vor allem ein Phänomen der Moderne. Das hängt vor allem am Wachstumsprimat des Kapitalismus, aber die Beschleunigung betrifft eben nicht nur die Ökonomie, sondern Technologie und Soziales. Geräte und Beziehungen halten nicht mehr so lange, und auch die Mittel, sie zu reparieren, werden in immer kürzeren Abständen untauglich. Das führt zu einem Drang nach Mehr – Geld, Geräte, Beziehungen – und einer damit einhergehenden Verflachung der Verhältnisse und einem Verlust an Lebensqualität. Kurz, die Resonanz geht verloren oder wird zumindest seltener.
Dass Beschleunigung die Resonanz zumindest beeinträchtigt, war auch schon die These in Beschleunigung und Entfremdung. Hier merkt Rosa gleich zu Beginn an: „Wenn wir die Strukturen und Qualität unseres Lebens untersuchen wollen, sollten wir uns seinen Zeitstrukturen zuwenden“. Dem ist nicht zu widersprechen, denn der Umgang mit Zeit ist historisch starken Veränderungen ausgesetzt. Technische Entwicklungen wie der internationale Bahnverkehr glichen Zeitverhältnisse an und dass der Zugang zum Internet das ganz alltägliche Zeitmanagement radikal verändert hat, ist kaum zu bestreiten. Hinsichtlich der Genese der Beschleunigung verweist Rosa in historischer Perspektive allerdings lediglich auf die sich entwickelte moderne Nationalstaatsordnung im Anschluss an den Westfälischen Frieden von 1648. Er macht das Westfälische System als „wesentliche Ursache für Beschleunigung technischer, ökonomischer, infrastruktureller und wissenschaftlicher Innovationen“ aus. Dabei wird allerdings eine in globaler Hinsicht bedeutende Entwicklungen ausgeklammert: der Kolonialismus. Die Eroberung der Amerikas im späten 15. Und vor allem im 16. Jahrhundert etablierte ein neues, eurozentrisches Raum-Zeit-Gefüge und eliminierte vorher gültige Zeitbegriffe und Zeitverständnisse. „Amerika konstituierte sich“, schreibt der peruanische Soziologe Aníbal Quijano, „als erster Zeit/Raum einer neuen Machtstruktur mit globaler Reichweite“. Das bedeutet, dass der Kolonialismus nicht nur ein Projekt ökonomischen Ressourcenraubs und politischer Machtexpansion war, sondern auch Sinnverhältnisse grundlegend verändert hat. Der neue historische Sinnhorizont entwickelten sich überhaupt erst, wie Quijano betont, „als ein neuer Horizont historischen Sinns“. Dieser neue Horizont historischen Sinns ist nicht nur fundamental für die Entwicklung des fortschrittsorientierten Kapitalismus und seiner Wettbewerbslogik. Er ist auch entscheidend für die Entwicklung symbolischer Herrschaft. Mit der Durchsetzung einer Entwicklungslogik, in der die europäische Moderne mit dem – ökonomischen, technologischen, kulturellen und sozialen – Fortschritt der Menschheit assoziiert wurde, wurden die Unterworfenen nicht nur ausgebeutet, sondern auch noch in ihren Sichtweisen von Unterwerfung und Ausbeutung in ein modernes Muster gezwungen: Sie konnten sich selbst nur noch vor diesem Horizont selbst als „Rückständige“ wahrnehmen. 
Den Beginn der resonanzverhindernden Beschleunigung nicht mit der Westfälischen Staatenordnung, sondern mit der Eroberung der Amerikas anzusetzen, muss zu weiteren Verschiebungen in der Sozialtheorie führen. Diese historische und geografische Verschiebung der Ursprünge von sozialer, technologischer und lebensweltlicher Beschleunigung ist also folgenreich. Sie kann nämlich darauf hinweisen, dass es keineswegs bloß die Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit als sozialem Imperativ der Spätmoderne ist, der, wie Rosa schreibt, „die individuellen wie kollektiven Autonomiespielräume, die sich im Verlauf des Modernisierungsprozesses eröffneten, sukzessive zu erodieren droht“. Es zeigt sich vielmehr: Diese Autonomiespielräume waren immer schon begrenzt, gleichsam konstitutiv und doppelt begrenzt. Begrenzt in Bezug auf die tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten einzelner und begrenzt im Hinblick auf die Gruppen von Menschen, die sie überhaupt wahrnehmen konnten. Die Autonomiespielräume der Moderne waren und sind für verschiedene Menschen sehr unterschiedlich groß und auch sehr verschieden verteilt. Mit der Entwicklung der kapitalistischen Formen von Arbeit und der Arbeitsregime, darauf weist uns u.a. auch Quijano in seinen Texten über die „Kolonialität der Macht“ hin, ging die ethnische Klassifizierung von Menschen einher. Diese kulturelle Klassifizierung (in „Rassen“) und – wie María Lugones ergänzt hat, nach Geschlecht – wurde zum zentralen „Modus, um den mit der Eroberung durchgesetzten Herrschaftsverhältnissen Legitimität zu verleihen“. Die Arbeitsregime, in denen das langsame Sterben der indigenen ArbeiterInnen oft in Kauf genommen wurde, musste ebenso wie die krasse soziale Ungleichheit gerechtfertigt werden. Beides fand Legitimation in der Unterscheidung in verschiedene ethnische Gruppen, so Quijano. Es entstand ein kolonialer Rassismus, der bis heute nicht nur die globalisierten Sozialstrukturen prägt und Zugänge zu Autonomie reguliert, sondern der auch symbolische Herrschaft präfiguriert hat: Er ist das Muster aller Formen kollektiver Minderwertigkeitsgefühle.
Kurz: Es reicht also nicht aus, die Beschleunigungslogik als Folge und Effekte der kapitalistischen Wettbewerbslogik mit der Westfälischen Staatenordnung anzusetzen. Es doch zu tun und den Kolonialismus nicht zu berücksichtigen, bedeutet, mit den Erneuerungsversuchen der Kritischen Theorie nicht weit genug zu gehen.

Soziale Bewegungen und Resonanzen
Hartmut Rosa erinnert uns daran, dass wir, um der „Desintegration und Erosion unserer Weltbeziehungen“ als unvermeidliche Folge sozialer Beschleunigung zu begegnen, eine „Kritik der zeitlichen Normen der Gesellschaft“ brauchen. Nun stellt sich immer wieder die Frage der Träger*innen dieser Kritik. Rosa selbst hat angemerkt, soziale Bewegungen träten immer wieder als Agentinnen von Entschleunigung auf. Diese Bewegungen, die „relativ oft auch antimoderne Züge aufweisen“, weisen Technikverliebtheit und Fortschrittsglauben zurück und treten häufig für eine gemeinschaftsbezogene Organisation des Sozialen ein. Sie formieren sich, wie Rosa in einer mehr als fragwürdigen Gleichsetzung behauptet, in „ultrakonservativen sowie anarchistischen Gruppen“.
Aber für Rosa sind es ohnehin weniger soziale Bewegungen als vor allem „eine Soziologie der Weltbeziehung“ – so der Untertitel seines Hauptwerkes –, die letztlich wieder für bessere Resonanzbeziehungen sorgen kann. Er setzt sie mit Karl Marx an und diese Theorietradition zieht sich für Rosa durch den häretischen Marxismus von Georg Lukacs und dann vor allem durch die Kritische Theorie im engeren Sinne (Adorno, Marcuse, Habermas, Honneth). Feminismen und Anarchismen spielen für Rosa theoretisch keine Rolle. Sie hier einzubringen, würde den Rahmen dieses Textes sprengen, und zudem noch einen weiteren Punkt in den Hintergrund rücken, der zu betonen ist: Schließlich sollte nicht bloß die Theorie als theorierelevant angesehen werden. Anders gesagt, auch andere AkteurInnen als TheoretikerInnen generieren Wissen über soziale Verhältnisse und tragen zu ihrer Transformation bei. Das beste Beispiel für solche AkteurInnen sind wohl soziale Bewegungen.
Soziale Bewegungen sollten stärker in den Fokus soziologischer und sozialtheoretischer Entwürfe wie jenen von Rosa rücken. Warum? Weil es zum einen in Erinnerung rufen kann, dass die Zeitnormen, die laut Rosa so zentral für die Beschleunigungstendenzen der Gegenwartsgesellschaften sind, keineswegs bloß von Kritischen TheoretikerInnen in Frage gestellt werden. Der Historiker Edward P. Thompson hat schon vor langer Zeit darauf hingewiesen, dass die Bedeutung der Zeit erst mit der Synchronisierung der Arbeit im Industrialisierungsprozess zunahm und mit einer Vielzahl kulturell wirksamer Methoden durchgesetzt werden musste. Zeitnormen sind immer Effekte sozialer Kämpfe, und in diese Kämpfe sind soziale Bewegungen immer entschieden involviert. Hinsichtlich der Kritik der Zeitnormen gilt es also Praktiken in den Blick zu nehmen, die diese Zeitnormen thematisieren, sie in Frage stellen und sich ihnen widersetzen. 
Und zweitens kann diese Fokussierung von sozialen Bewegungen auch zu Erweiterungen der eigenen, wissenschaftlich- politischen Perspektive führen. Hartmut Rosa etwa beschreibt die Idee des „guten Lebens“ als normative Zielvorstellung kritischer Gesellschaftstheorie. Das „gute Leben“ definiert er als eines, das „reich an vielschichtigen Resonanzerfahrungen ist“. Und Resonanz ist laut Rosa das Andere der Entfremdung. In der Diskussion um das „gute Leben“, das in den sozialen Bewegungen Lateinamerikas in den letzten Jahrzehnten geführt wurde, ist allerdings noch auf eine andere Bedingung für das „gute Leben“ hingewiesen worden: Um ein „gutes Leben“ für alle durchzusetzen, bedarf es, wie Alberto Acosta und Ulrich Brand zusammenfassen, einer „tief greifenden Veränderung der Verteilungs- und Verbrauchsmuster“. Es geht dabei nicht nur um ein Augenmerk auf strukturelle Ungleichheit an ökonomischen und kulturellen Ressourcen. Es geht, wie der Wortteil „Muster“ hier nur andeutet, auch um den praktischen Umgang mit diesen Ressourcen. Die Kritik am Extraktivismus, der nationalökonomischen Orientierung auf Raubbau und Export von Rohstoffen, zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass sie auch eine Kritik an Wachstum und Wettbewerb ist.
Rosa hatte die Soziologie der Moderne für der Soziologie für ihren „Ressourcenfetischismus“ kritisiert, also dafür, das „gute Leben“ immer an einem Mehr an – ökonomischen wie symbolischen – Ressourcen zu messen statt an qualitativen Weltbeziehungen. Die lateinamerikanische Debatte in den sozialen Bewegungen kann aber zeigen, dass das „gute Leben“ keineswegs mit dem „Ressourcenansatz“ der modernen Soziologie gleichzusetzen ist. Anders gesagt: Ein Blick auf die emanzipatorischen Kämpfe sozialer Bewegungen kann uns zeigen, dass nicht jeder Hinweis auf die gerechte Verteilung von und den bewussten Umgang mit Ressourcen automatisch die Wettbewerbs- und Beschleunigungslogik stützt.

Blinde Flecken
Unterm Strich bleibt die Perspektive Rosas sehr eurozentrisch und theoriefixiert. Weder die Kolonialismen werden als historische Entwicklungen im Kontext der Moderne ernst genommen, noch werden die aktuellen Debatten aus den sozialen Bewegungen zu jenen Themen diskutiert, die Rosa selbst in den Mittelpunkt seiner Kritischen Theorie stellt. Der Selbstbeschreibung Rosas, nach der eine „Kritik der Resonanzverhältnisse als die elementarste und zugleich umfassendste Form der Gesellschaftskritik“ anzusehen ist, kann angesichts ihrer blinden Flecken kaum zugestimmt werden.

Jens Kastner



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