in: Tagebuch. Zeitschrift für Auseinandersetzung, Wien, Nr. 2/2025, S. 64.
Soziologische Kolonialeffekte
Von Jens Kastner
Knapp die Hälfte der französischen Soziolog*innen der Nachkriegszeit war mit dem Kolonialismus beschäftigt. Der Kolonialismus war nicht nur geopolitische Rahmenbedingung der Entwicklung der Soziologie in Empirie und Theorie, sondern häufig auch expliziter Gegenstand der Forschung und Anstoß für die Entwicklung theoretischer Begriffe. Dennoch ist die Geschichte der Kolonialsoziologie nie geschrieben worden. George Steinmetz füllt mit seiner aktuellen Studie nun diese Lücke.
Er nennt seine Studie selbst eine „neobourdieusche historische Wissenssoziologie“. Das heißt, er untersucht das soziologische Feld anhand seiner Akteuer*innen und deren Haltungen, anhand der Institutionen und der Verbindungen zu anderen Disziplinen und ihren globalen „räumlichen Koordinaten“. Unter anderem mit diesem Augenmerk auf die transnationalen Verknüpfungen der Wissensproduktion erweitert Steinmetz den Theorierahmen jenes Ansatzes von Pierre Bourdieu, den er selbst anwendet.
Steinmetz untersucht das Feld, diskutiert zugleich, wer warum dazugehört und wie es sich stabilisiert hat. Er beschäftigt sich mit den zentralen Positionen, wobei er auch Forscherinnen wie Andrée Michel und Claudine Chaulet nicht ausklammert und die Rolle von „Kolonialsubjekten“ wie dem Algerier Abdelmalek Sayad besonders hervorhebt. Im letzten großen Abschnitt widmet er sich vier Soziologen genauer, nämlich Raymond Aron, Jacques Bergue, Georges Balandier und Pierre Bourdieu selbst. In detailreichen Analysen der Inhalte ihrer zentralen Werke zeichnet er den Einfluss der Kolonialstudien wie auch der kolonialen Situation auf deren Theorieentwicklung nach. Dabei zeigt sich: „Viele unserer heutigen Kategorien stammen aus kolonialen Zusammenhängen“.
Schließlich kommt Bourdieu also nicht nur als Methodenlieferant, sondern auch als Gegenstand vor. Die Genese seiner Sozialtheorie aus den Erfahrungen im kolonialen Algerien heraus wird ausführlich diskutiert. Obwohl hierzu auch im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahren einige Texte erschienen sind, fördert Steinmetz doch einige neue Aspekte zutage. Er macht in Bourdieus Algerienstudien „Spuren seines Feldkonzepts“ aus und entdeckt dort den Beginn einer „Theorie instabiler und gespaltener Habitusformen“. Vor allem aber betont er eine strukturelle Erweiterung: Neben der Klassenherrschaft hätten Bourdieu und einige andere durch die „hierarchische und rassistische Struktur des Kolonialismus“ das Augenmerk bereits früh auf andere Ausbeutungs- und Unterdrückungsformen gelegt. Ein Intersektionalismus avant la lettre sei hier entstanden, also eine Perspektive, die die Überkreuzungen verschiedener Herrschaftsstrukturen in den Blick nimmt.
Der Kolonialismus gab der Soziologie wichtige Anstöße, auch deshalb war und ist sie zur Dekolonisierung geradezu verpflichtet (nicht zuletzt ihrer selbst). Denn, auch das macht Steinmetz in seinem großartigen Buch deutlich, an der politischen Ablehnung der kolonialen Situation durch die beschriebenen Soziolog*innen besteht kein Zweifel.
George Steinmetz: Die kolonialen Ursprünge moderner Sozialtheorie. Französische Soziologie und das Überseeimperium. Aus dem Englischen von Daniel Fastner. Hamburger Edition, 2024, 648 Seiten. EUR 47,50 (AT), EUR 45,00 (DE), CHF 55,90 (CH)
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