in: Texte zur Kunst, 31. Jg., Heft 123, September 2021, S. 154-157.

Gegen das Bild des Menschen
Jens Kastner über „Anthropologie dekolonisieren“ von Marc Rölli



Vor fünfzig Jahren verabschiedeten einige Anthropolog*innen aus Lateinamerika und Europa die „Deklaration von Barbados“ (1971). Darin sprachen sie sich für die Befreiung der indigenen Bevölkerungsgruppen und deren Selbstbestimmungsrecht aus und forderten ihre Kolleg*innen dazu auf, ihre Forschungen an diesen Zielen auszurichten. Im gleichen Jahr hatte der mexikanische Soziologe Rodolfo Stavenhagen in seinem Buch Sociología y Subdesarollo (Soziologie und Unterentwicklung) die Frage gestellt: „Wie sind die Sozialwissenschaften zu dekolonisieren?“ Er hatte sich für eine Forschung stark gemacht, die sich stärker an den praktischen Erfordernissen der Unterdrückten orientieren sollte.

Der Anspruch, den der Philosoph Marc Rölli nun titelgebend mit seinem neuen Buch erhebt – Anthropologie dekolonisieren – ist also so neu nicht. Auch die Barbados-Gruppe hatte ihn auf einem zweiten Symposium 1977 schon explizit gemacht, die Dokumente dieses Treffens erschienen 1979 unter dem Titel Indianidad y Descolonización en América Latina. Documentos de la segunda reunión de Barbados (Indianität und Dekolonisation in Lateinamerika. Dokumente des zweiten Treffens von Barbados). Notwendig wurde die Formulierung dieses Anspruches nicht zuletzt deshalb, weil koloniale Strukturen auch nach der staatspolitischen Unabhängigkeit, die die meisten Länder Lateinamerikas in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlangten, weiterhin fortleben. Für diese Fortexistenz kolonialer Muster in Politik und Denkweisen hat der peruanische Soziologe Aníbal Quijano den Begriff der Kolonialität geprägt. 

Während Marc Rölli sich zwar an Quijano anlehnt, geht er den Spuren seiner disziplinären Ahn*innen aus dem Umkreis der Barbados-Gruppe nicht nach. Er setzt andere Schwerpunkte und verfolgt andere Wege. Diese führen ihn von Kant und Nietzsche über die anthropologischen Implikationen der Massenpsychologie, die biopolitische Anthropologie im Nationalsozialismus und Ulrichs Sonnemanns „negative Anthropologie“ bis hin zur feministischen Kritik und der Debatte um Identitätspolitiken. Es ist ein Weg durch die fachspezifische Wissensproduktion, der an einem klaren Ziel ausgerichtet ist: „Anthropologie zu dekolonisieren bedeutet“, schreibt Rölli, „ihre koloniale epistemische Struktur und mit ihr die Machtverhältnisse, die von ihr getragen werden, zu bestimmen und aufzulösen“. (13)

Zur epistemischen Struktur der modernen Anthropologie gehört ein „Bild des Menschen“ (9), das am europäischen, weißen Mann ausgerichtet ist. Es findet sich bei Immanuel Kant, der es in seiner Charakterlehre konturierte und damit die Abgrenzungsfolie geliefert hat, vor deren Hintergrund auch im 19. Jahrhundert noch „Rassenunterschiede“ und „Entwicklungsstufen“ behauptet und damit letztlich gestiftet wurden. Es findet sich laut Rölli aber selbst noch Anfang des 20. Jahrhunderts bei dem Ethnologen Bronislaw Malinowski, dessen erklärtes Ziel es war, sich in die Welt der Beforschten hineinzuversetzen und das Leben mit ihren Augen zu sehen. Ein Bild des Menschen sei so produziert worden, dass noch immer das eigene des weißen Mannes war, „das aus einer wissenschaftlichen Arbeit hervorgeht, die sich wiederum dem voll und ganz widmet, was sie nicht ist“ (48). Nämlich indigene Lebenswelt. Die Forschenden sehen die Beforschten demnach nie auf Augenhöhe. Zugleich gesteht Rölli aber Malinowski später im Buch zu, neben Franz Boas für eine „Zäsur“ (219) in der bis dahin gänzlich pro-kolonialen Fachgeschichte gesorgt zu haben. Aber selbst dieser Bruch habe die Anthropologie nicht ganz entlasten bzw. befreien können vom Narrativ „einer ausgewählten Minderwertigkeit“ (120), auf das sie in Bezug auf „Andere“ immer angewiesen zu sein scheint.

Dass „der Mensch“ in der Diskussion um den Anthropozän nun wieder zurückkehrt, hält Rölli dementsprechend für problematisch. Ein „ambitionierter Anthropozentrismus“ (162) könne zur Bekämpfung der Klimakatastrophe sogar schädlich sein, insofern er bloß vermeintlich wüsste, „was zu tun wäre“ (162). Die dem Bild des Menschen inhärente Allmachtsfantasie wird schließlich noch von feministischer Warte aus angegangen, weil es stets ein männliches Bild war. Eine solche feministische Kritik mit der italienischen Künstlerin und Aktivistin Carla Lonzi und der US-amerikanischen Kulturkritikerin bell hooks zu formulieren, ist inhaltlich sicherlich nicht unbegründet. Für Lonzi war die Abwesenheit von Frauen in der Geschichte ein Ausgangspunkt für ihren radikalen Feminismus, der auf Hegel spucken – „Sputiamo su Hegel“ (1970) hieß ihr Text, im Deutschen etwas abgeschwächt als „Wir pfeifen auf Hegel“ (1975) erschienen – und die Kleinfamilie abschaffen wollte. Für Rölli transportiert er „anthropologiekritische Implikationen“ (203). Auch für bell hooks stellt sich, so Rölli, das Bild vom freien Menschen als eines dar, das nicht frei von bestimmten Bedingungen ist, „an die die Freiheit gebunden ist“ (207). Warum aber keine jener feministischen Anthropologinnen zu Wort kommen, die sich wie Ochy Curiel, Silvia Marcos oder Yuderkys Espinosa Miñoso in den letzten Jahrzehnten explizit dekolonialistischer Theoriebildung gewidmet haben, ist vermutlich selbst einem Effekt der Kolonialität geschuldet: dass nämlich solche Autorinnen nicht aus dem Spanischen übersetzt werden und damit in der anglozentrischen Welt beinahe unsichtbar bleiben.

Die zu Kapiteln zusammengestellten Aufsätze Röllis ergeben nichtsdestotrotz ein sehr ergiebiges Panorama aktueller Anthropologie-Kritik. Wobei Panorama eigentlich das falsche Wort ist, eher als um den großen Überblick handelt es sich um intensive Einblicke in wichtige Ausschnitte der Diskursgeschichte. Überblickshaft agiert der Autor insofern, als er die Anthropologie sowohl in ihren philosophischen als auch in ihren sozial- und kulturwissenschaftlichen Paradigmen wahrnimmt und umkreist. Jedes Kapitel ist eine für sich genommen gelungene Studie, die stets auch über das konkret Behandelte hinausweist. 

In Gänze betrachtet dominiert hier klar der poststrukturalistische Fokus, der mit Nietzsches Kritik der Metaphysik einsetzt und schließlich mit dem Ansatz des brasilianischen Ethnologen Eduardo Viveiros de Castro abgerundet wird. Die materialistischen Ansätze hingegen stehen in dieser Zusammenschau deutlich im Hintergrund, auch wenn Rölli ihren praxistheoretischen Strängen durchaus „ein utopisches Moment des Unkalkulierbaren“ (186) abgewinnen kann. Das erklärt vielleicht auch, wieso die eingangs erwähnten, disziplinären Vorläuferinnen einer am Dekolonisierungsanliegen ausgerichteten Anthropologie keine Rolle spielen: Ihre Diskurse kreisen um Entwicklung und Unterentwicklung, um die Inklusion rassismustheoretischer Ansätze in die Klassentheorie, um das Verhältnis von ethnisierender Klassifikation zur politischen Ökonomie. Sie handeln auch von außerakademischen sozialen Kämpfen, die auf die wissenschaftliche Theoriebildung einwirken.

Viveiros de Castro seinerseits steht ganz in der Tradition von Claude Lévi-Strauss und der strukturalistischen Sozialforschung. Er hat die Weltsichten der indigenen Bevölkerungen im Amazonas untersucht und sie mit „westlichen“ Denkweisen zu vermitteln versucht. Begriffsschöpfungen wie „Multinaturalismus“ sollen die Überlappungen verschiedener Konzepte von Natur und Kultur beschreiben und ihre Dichotomien auflösen. Rölli schließt sich am Ende seines Buches dem Perspektivismus von Viveiros de Castro an, den er mit einer Deleuze’schen Formulierung als „Schamanisch-Werden“ beschreibt. „Perspektiven tauschen oder andere Perspektiven einnehmen: das ist die schamanische Praxis, die Form des Anderen zur Geltung zu bringen“ (222). Zumindest ein erster Schritt auf dem Weg zur Auflösung jener Machtverhältnisse, die von der kolonialen epistemischen Struktur getragen werden, könnte das sein.


Marc Rölli: Anthropologie dekolonisieren. Frankfurt am Main/ New York: Campus Verlag 2021.



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