in: graswurzelrevolution, Nr. 398, Münster, April 2015, S. 22.

Mosaik mit Staat
Demokratie- und Protestbewegungen gegen die neoliberale Hegemonie

„Die Bewegung 22M schreibt Geschichte“ titelte die Zeitschrift Diagonal Ende März 2014. Das zweiwöchentlich erscheinende, linke Blatt berichtet begeistert über die Großdemonstration mit mehreren Hunderttausend TeilnehmerInnen, die am 22. März 2014 in Madrid stattfand. Sternmärsche aus dem ganzen Land, die „Märsche der Würde“ versammelten sich zur Kundgebung im Zentrum der Hauptstadt, um gegen die Austeritätspolitik der Regierung und das Diktat der Troika aus EU, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfond zu protestieren. Die auf die Bewegung der Empörten (Indignados) von 2011 zurückgehende Mobilisierung fand ohne die beiden größten Gewerkschaften statt. Diese hatten sich, wie Diagonal ebenfalls auf der Titelseite berichtet, in der Woche zuvor mit der Regierung getroffen, um einen neuen „Sozialpakt“ auszuhandeln.

Es ist diese Konstellation, der sich auch das Buch von Mario Candeias und Eva Völpel widmet: Die Situation, dass die emanzipatorischen Bewegungen in den sozialen Kämpfen einerseits Geschichte schreiben wie schon lange nicht mehr, sie andererseits aber die neoliberale Politik nicht stoppen können. Dass einerseits die Hegemonie gebrochen scheint – die Zustimmung zur Sparpolitik nimmt in weiten Teilen der Bevölkerung deutlich ab –, sie andererseits aber immer wieder stabilisiert wird, wie etwa mit Hilfe der großen Gewerkschaften.
Die AutorInnen zeichnen in angenehmer Weise die Entwicklungen der neuen Protestbewegungen in den USA, in Spanien und Griechenland nach: Angenehm insofern, als sie einerseits die Bewegungen immer in ihren soziopolitischen Entstehungskontexten verorten, und andererseits ein jeweils weites Spektrum ihrer lokalen und inhaltlichen Verortungen abdecken. Zwar konzentrieren sie sich explizit nicht auf eine Chronologie der Ereignisse seit 2011, sondern auf die Analyse bestimmter „Problematiken und Lernprozesse“ (55). Dennoch ist das Buch auch als eine gute Einführung in die zentralen Beweggründe der Bewegungen der letzten Jahre zu lesen.
Sozialwissenschaftlich betrachtet weichen Candeias und Völpel von der gängigen Erklärung für das Entstehen sozialer Bewegungen ab. Die Bewegungsforschung nimmt vor allem die Kluft zwischen Erwartung und Realisierungsmöglichkeit in den Fokus, anstatt davon auszugehen, dass objektive Not zur Handlung drängt. Vor allem, wenn strukturelle Versprechen und Ansprüche, etwa auf gesellschaftlichen Aufstieg, nicht erfüllt werden (können), kann demnach Bewegung entstehen. Das ist unabhängig von dem ökonomischen und sozialen Niveau gedacht, auf dem die Erwartung beruht. Demgegenüber sehen Candeias und Völpel die generelle Einschränkung von „Handlungsfähigkeit durch gesellschaftliche Brüche und Krisen oder durch die Herrschenden“ (19) als auslösende Momente für soziale Bewegungen an. Wenn die „individuellen Reproduktionsbedingungen“ (19) wegbrechen – etwa durch Überschuldung, Zwangsräumungen, Pfändungen –, dann könne sich Scham und Wut in Bewegung übersetzen. Das ist sicher nicht ganz falsch, lässt aber die – angesichts des erstarkenden Rechtsextremismus in Europa – drängende Frage offen, warum sich Scham und Wut so oft in Stumpfsinn verwandeln oder in rassistischen und sexistischen Ressentiments entladen, anstatt in Basiskomitees und verfassungsgebenden Versammlungen. Aber das ist auch nicht der Fokus des Buches.
Politisch zielt es auf jenes horizontale Bündnisprojekt, das die AutorInnen eine „Mosaiklinke“ nennen. Als beispielhaft dafür kann die geschilderte Zusammenarbeit zwischen dem Netzwerk Solidarity4all und der Partei Syriza in Griechenland gelten. Die Partei spendet einen festen Betrag der Abgeordnetengehälter an das in vielen Bereichen des Alltags engagierte Netzwerk aus 270 Gruppen, diese wiederum sorgen für den zivilgesellschaftlichen Druck zur Umsetzung emanzipatorischer Ziele. Dass auch „viele Anarchist_innen“ (201) 2012 Syriza gewählt hätten, soll einmal mehr auf die inklusive Kraft eines solchen Projekts verweisen. Dieses Szenario ist nach dem Wahlsieg von Syriza besonders interessant zu beobachten.
Zunächst aber betonen Candeias und Völpel an den neuen Bewegungen seit Occupy zu Recht vor allem den „symbolischen Bruch“ (47), den diese mit den Institutionen und Mechanismen der liberalen Demokratie herbeigeführt hätten: Mit der Besetzung von Plätzen und der Einrichtung horizontaler Entscheidungsstrukturen sei das Repräsentationsprinzip als solche in Frage gestellt worden. Der Slogan von den 99 Prozent wird dabei entgegen anderer Einschätzungen – meiner eigenen etwa – nicht als schädliche Vereinfachung der Komplexität von Herrschaftsverhältnissen betrachtet, sondern als Ausdruck einer „radikal inklusiven Politik“ (63).
An solcher Inklusionspolitik setzt auch das Projekt der Mosaiklinken an. Es grenzt sich dezidiert von libertären Ansätzen der „Distanzierung vom Staat“ (220) ab, die der Politikwissenschaftler John Holloway in den letzten Jahren so prominent proklamiert hat. Stattdessen fordern Candeias und Völpel, „das Verhältnis zum Staat neu anzugehen.“ (218) Im Wesentlichen gründet sich diese Herangehensweise auf Rosa Luxemburgs Konzept der „revolutionären Realpolitik“ wie auch auf die bereits eingangs skizzierte Erfahrung der letzten Jahre, dass trotz massiver basisdemokratischer Mobilisierungen und Selbstorganisationen „die herrschenden Gruppen ungerührt ihre Politik der perspektivlosen Kürzungen“ (218) fortführen: „Die Welt zu verändern, ohne die Macht zu übernehmen, scheitert an diesem Punkt“ (ebd.) Gegen die „blockierte Transformation“ (225) helfe schließlich doch – nicht nur, aber auch – der „Sturz der neoliberalen Regierungen“ (226). Den Linksparteien wird dabei eine große Rolle zugeschrieben. Das lässt für die USA, wo es eine nennenswerte Partei dieser Art nicht gibt, nichts Gutes hoffen und selbst für Spanien scheint die Ausrichtung auf Partei und Staatsmacht schon an sich nicht unproblematisch: Hier hat sich die Vereinigte Linke (IU) Anfang Februar 2015 an der Frage der Bündnisse mit der neuen Bewegungspartei Podemos gespalten, einige Podemos-Leute wiederum halten die IU für einen Teil des alten, als korrupt bekämpften Parteiensystems. Das Mosaik erweist sich da bereits an der Frage der Zusammensetzung als extrem brüchig.
Man muss dem Mosaik-Ansatz zu Gute halten, dass er sich um die ja tatsächlich aus emanzipatorischer Sicht frustrierenden Tatsachen der fortgesetzten Austeritätspolitik nicht herumdrückt und dabei um wirklich neue Konzepte bemüht ist: die Problematik der Repräsentation wird durchaus ernsthaft diskutiert, die Rolle der Intellektuellen als VermittlerInnen wird neu entworfen und die Aufgabe der Linksparteien wird in der Veränderung des parlamentarischen Rahmens, nicht in dessen Ausfüllen gesehen wird. Allerdings muss man vielleicht nicht einmal AnarchistIn sein, um bei der emphatischen Behauptung, das „Erringen von Regierungsmacht“ sei bei all der Transformationsarbeit ein „unerlässlicher Zwischenschritt“ (190), skeptisch zu werden.

Jens Kastner

Mario Candeias/ Eva Völpel: Plätze sichern! ReOrganisierung der Linken in der Krise. Zur Lernfähigkeit des Mosaiks in den USA, Spanien und Griechenland. VSA, Hamburg 2014, 240 Seiten, 16.80 Euro, ISBN 978-3-89965-551-3.


Mehr zum Thema 

* Jens Kastner, Isabell Lorey, Gerald Raunig, Tom Waibel:
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Die aktuellen Kämpfe um die Besetzung des Politischen

Verlag Turia + Kant, Wien 2012, ISBN 978-3-85132-673-4, 
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