in: ak – analyse & kritik, Hamburg, Nr. 656, 21. Januar 2020, S. 34.

Anmerkungen zum Aufstand
In Judith Butlers neuem Buch wird vieles angerissen und wenig zu Ende gedacht 

[download Artikel als pdf]

Vielleicht sind es Verlagsverträge, vielleicht bloß die für das wissenschaftliche Feld so typische Mischung aus Geltungsdrang und Publikationszwang, die Autor*innen dazu bringen, solche Bücher zu machen. Bücher, in denen Aufsätze versammelt sind, die inhaltlich nur wenig verbindet, die aber so tun, als wären sie eine Monographie. Ein solches Buch ist jetzt von Judith Butler unter dem Titel „Rücksichtslose Kritik“ erschienen. 
Das titelgebende Motiv ist Thema des zweiten Aufsatzes und spielt ansonsten im Buch keine Rolle. Die US-amerikanische Philosophin erweist sich, was einige überraschen dürfte, in diesem wie in einem weiteren Text des Buches als Marx-Kennerin. In einem Brief an den Junghegelianer Arnold Ruge hatte Marx 1843 die „rücksichtslose Kritik alles Bestehenden“ gefordert. Marx habe sich, interpretiert Butler, mit diesem Plädoyer für eine bewegliche, aber zielgerichtete Infragestellung ausgesprochen. Er habe damit eine Position zwischen unbeweglichen Dogmatikern und orientierungslosem Anarchismus eingenommen – die „Anarchisten sind wirr“ (74), paraphrasiert Butler Marx. Mehr als deren angebliche Ziellosigkeit hat Marx aber deren spontaneistischer Übereifer genervt, dem er mit seinem Verständnis von Kritik begegnen wollte. Nicht alles Bestehende sei letztlich zu verwerfen – eine Forderung, die Marx den Anarchisten in den Mund legt –, sondern Kritik bestehe darin, existierende Gedanken zu Ende zu denken und dadurch, wie Butler schreibt, „ihren widersprüchlichen Charakter aufzudecken“ (87). Dies erst könne zu einem Bruch mit der Vergangenheit führen. Dass Marx hier noch ganz Philosoph ist und seine Meinung spätestens mit der Schrift „Die deutsche Ideologie“ (1845/46) ändert, erwähnt Butler nicht. Darin spottet er nämlich schon gegen die „idealistische“ Vorstellung, die Veränderung von Ideen könne die Welt verändern und setzt ihr die ökonomische Umwälzung der Verhältnisse entgegen. Mit dem frühen Marx aber hält Butler an der Hoffnung fest, dass die Vollendung von Gedanken „zu einer Verwirklichung der Prinzipien führt, die im Verlaufe der kritischen Entlarvung eines früheren Projekts deutlich wurden.“ (96) Von der Entlarvung des einen zur Verwirklichung des anderen, das ist im Übrigen auch im Anarchismus keine unübliche Abfolge.

Von hier aus gibt es auch einen Übergang zum dritten, dem deutlich stärksten Text des Buches. Mit Michel Foucault lotet Butler da Bedingungen und Bedeutungen widerständigen Handelns aus. Mit Foucaults Begriff der parrhesia, des Wahrsprechens, wird Kritik hier als eine mutige Handlung betrachtet. Wer rücksichtslos kritisiert, ließe sich sagen, geht ein Risiko ein. Also braucht Kritik Mut. Butler fragt sich dann wie es möglich ist, das risikoreiche Tun von der moralischen Tugend zur kollektiven Solidarität „umzustellen“ (112). Diese kollektive Dimension sah Butler bisher in Form von öffentlichen Versammlungen verwirklicht. Im Kopf hatte sie dabei etwa Entrechtete, die für einen legalen Status protestieren. Nicht ins Konzept passten dabei allerdings die Aufmärsche der Ultrarechten, die das Leben anderer einschränken oder gar beenden wollen. Insofern geht sie in diesem Text auch weiter als in ihrem Buch „Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung“ (2016). Denn sie fragt sich, ob sich die Merkmale „mutiger und radikaldemokratischer Versammlungen bestimmen“ (113) und von rassistisch motivierten Aufmärschen abgrenzen lassen. Ihre Antwort: Die linken Versammlungen nehmen ihre egalitären Ziele beim Versammeln erstens selbst vorweg und richten sich zweitens nicht gegen Schwächere. Diese Unterscheidung emanzipatorischer Versammlungen zum Nazi-Aufmarsch ist zentral. Ebenso wichtig ist der Hinweis, dass bei aller performativen Vorwegnahme das Erstrebte noch lange nicht verwirklicht ist. Anders formuliert: Die Akte des „politischen Widerstands gegen Prekarität“ (123) sind nicht selbst das Reich ökonomischer Gleichheit und sozialer Sicherheit, das sie anstreben. Dazu bedarf es mehr. 
Vielleicht eines Aufstandes? Dem Aufstand widmet sich Butler dann im letzten Text und darin werden die gerade herausgestrichenen Differenzen leider wieder etwas eingeebnet. Für die Versammlung, die zum Aufstand führt, reiche es aus, dass kollektiv für das Ende eines Leidens eingetreten wird. Der Aufstand entsteht aus „einem Gefühl gemeinsamer Empörung“ (132) heißt es dann wieder allgemein. Das liest sich zwar wie ein Kommentar zu den Ereignissen der letzten Wochen und Monate in Lateinamerika. Aber Aufstände als „Ausdrucksformen eines Volkswillens“ (135) zu definieren, verhindert gerade, etwa zwischen den anti-neoliberalen Kämpfen in Chile und dem Aufstand, der zum Putsch in Bolivien führte, zu unterscheiden. Auch wenn Butler durchaus klarmacht, dass der Anspruch darauf, für das „Volk“ zu sprechen, immer umkämpft ist, bietet sie hier keinerlei Kriterien zur Klärung an. Der Aufstand, klagt Butler ein, ist auch ohne Kommuniqués, ohne Dekrete und Programme als „ein kollektives und verkörpertes politisches Urteil“ (137) zu begreifen. Das ist sicher richtig. Aus einer Perspektive der Kritik allerdings sollte schon die Frage erlaubt sein und – sagen wir es mit Butlers Marx – zu Ende gedacht werden, worüber das Urteil gefällt wird und wofür und wogegen es sich richtet.

Was der marxistische Staatstheoretiker Johannes Agnoli einmal über Revolten gesagt hat, schreibt Butler sinngemäß auch zum Aufstand: Revolten scheitern immer, sonst wären sie Revolutionen. Dennoch geschehen sie nicht vergeblich. Sie können, beteuert Butler, „zu Symbolen werden und künftige Aufstände auslösen“ (143). Und sie können natürlich auch immer wieder zu Kritik anregen – Kritik an ihren eigenen Formen und Kritik an den Verhältnissen. Kritik als ein „spezielles Verhältnis zwischen den historischen Bedingungen des Denkens und den Formen des Urteilens, die in das historische Leben eingreifen und es verändern wollen“ (16) wieder einmal ins Spiel gebracht zu haben, dafür sind die hier versammelten Aufsätze sicherlich gut. Für die Klärung von Rolle und Bedeutung der Begriffe, die im Untertitel aneinandergereiht wurden – „Körper, Rede, Aufstand“ – wünscht man sich dann halt doch eher eine ordentliche Monographie. 

Jens Kastner

Judith Butler: Rücksichtslose Kritik. Körper, Rede, Aufstand. Konstanz 2019, Konstanz University Press, 160 S., 18€ (D)/ 18,50 € (A).


Mehr zum Thema:

Der Griff der Norm
Wieder gibt es den Vorwurf an die Philosophin Butler, Theorie und Aktivismus seien bei ihr untrennbar. Dabei sollte man ganz andere Fragen stellen.
in: taz, Berlin, 28.09.2019
[Artikel in taz lesen]

Solidarität der Differenzen
Plädoyer für ein Verständnis des Solidarischen, das auf Verschiedenheit beruht
in: iz3W, Freiburg, Nr. 376, Januar/ Februar 2020, S. 13-16.
[download Artikel als pdf]

Judith Butler: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung. Berlin: Suhrkamp Verlag 2017
in: Ne Znam. Zeitschrift für Anarchismusforschung, Nr. 7, Frühjahr 2018, S. 217-221.
[download Artikel als pdf]

Didier Eribon: Gesellschaft als Urteil. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2017.
in: springerin. Hefte für Gegenwartskunst, Band XXIV, Heft 1, Winter 2018, S. 75.
[Artikel lesen]