in: ak – analyse & kritik, Hamburg, Nr. 670, 20. April 2021, S. 28.

Das Nein für ein weltweites Morgen
Die zapatistische Bewegung war von Anfang an auch transnational ausgerichtet. Ein kurzer Rückblick.


Die Zapatistas kommen! Im Sommer dieses Jahres will eine große Delegation der Aufstandsbewegung aus Chiapas, dem südlichsten Bundesstaat Mexikos, Europa bereisen. Solidaritätsaufrufe sind verfasst, Spenden werden gesammelt und es wird koordiniert und organisiert. Mehr als fünfhundert Jahre nach der „Entdeckung“ Lateinamerikas, wollen rund 150 Delegierte der Bewegung symbolisch Europa „erobern“. Um zu verstehen, worum es dabei geht, muss man sich klarmachen: Es ging nie allein um die Anliegen der indigenen Bevölkerungen. Daher wurde auch von Anfang an transnational mobilisiert.

Die zapatistische Bewegung setzt sich vornehmlich aus Menschen zusammen, die sich dank ihrer Sprache einer der mehr als sechzig indigenen Bevölkerungsgruppen in Mexiko, wie etwa der Tzotziles und Tzeltales zuordnen. Sie werden den Maya zugerechnet. Bereits mit dem Datum ihres Erscheinens in der politischen Öffentlichkeit aber, dem 1. Januar 1994, machte die zunächst vor allem als Guerilla formiert Bewegung auch ihren transnationalen Anspruch deutlich. An diesem Tag trat das Freihandelsabkommen (NAFTA) zwischen Mexiko, den USA und Kanada in Kraft. Ein neoliberales Projekt, gegen das sich der Aufstand von Anbeginn an richtete. Gehörten die Armut der bäuerlichen Bevölkerung und der Rassismus gegenüber Indigenen unzweifelhaft zu den Auslöserinnen der Bewegung, wurde mit dem Neoliberalismus aber auch die globale Dimension des Kampfes betont. Die Texte des Sprechers der Bewegung, Subcomandante Marcos, vermittelnden zwischen indigenen Weltsichten und linksradikalen Ansätzen. Mithilfe der Figur des revolutionären Käfers Don Durito gemahnte Marcos unter anderem an die Notwendigkeit transnationaler Mobilisierung. Das anfängliche Motto der Bewegung, „¡Ya Basta!“, „Es reicht!“, müsse vervielfältigt werden. Und „denkt daran“, heißt es in einem der Briefe des Subcomandante, „daß aus einem ‚Nein‘ auch der Morgen entsteht“. Der Kampf gegen den Neoliberalismus mit seinen Privatisierungen und Deregulierungen wurde zu einer gemeinsamen Klammer verschiedenster Bewegungen. Der damals noch nicht sehr geläufige Begriff Neoliberalismus wurde zu einer international anschlussfähigen, politischen Kampfvokabel gemacht. In zahlreichen Kommuniqués verbreiteten die Zapatistas in ungewohnt poetischer Sprache die Ziele ihres Kampfes, die in ihrer Allgemeinheit ohnehin nie als national einzulösende gedacht waren: Land, Freiheit, Brot, Demokratie, Würde, Freiheit, Bildung, Gesundheit.

Neben dieser begrifflichen Ebene agierten die Zapatistas, die sich nach dem Revolutionär Emiliano Zapata (1879–1919) benannt hatten, ihren transnationalen Anspruch aber auch sehr praktisch aktivistisch aus. Während in Chiapas selbst an der Einrichtung und dem Ausbau indigener Autonomie gearbeitet wurde, mobilisierte die Bewegung gleichzeitig zu großen Treffen mit internationaler Beteiligung. Geradezu legendär wurde das Erste Intergalaktische Treffen gegen den Neoliberalismus, das 1996 im Lakandonischen Urwald stattfand und an dem rund 5.000 Menschen aus ganz Lateinamerika und aus Europa teilnahmen. Dieses Treffen im chiapanekischen Sommerregen führte zu zahlreichen Folgetreffen und diversen aktivistischen und akademischen Veröffentlichung. Eine „Internationale der Hoffnung“ – so der Titel eines anschließend erschienenen Sammelbandes – war entstanden. Die Zapatistas seien zum „Kern einer weltweiten Widerstandsbewegung“ geworden, schrieb die Ökonomin Friederike Habermann damals. Der Staatstheoretiker Joachim Hirsch sah einen „neuen Internationalismus“ geschaffen, der nicht nur die politischen Systeme, sondern auch die „Lebensweise“ verändern wolle.
Im Jahr darauf fand 1997 ein zweites Intergalaktisches Treffen statt, diesmal an fünf verschiedenen Orten innerhalb des Spanischen Staates. Wieder fanden sich rund 5.000 Aktivist*innen zusammen, um über basisdemokratische Politikmodelle, linke Perspektiven, bäuerliche Selbstverwaltung, Feminismus, Autonomie in den Städten und vieles andere zu diskutieren. Ohne diese beiden Treffen wäre die häufig erst mit den Kämpfen gegen die Welthandelsorganisation in Seattle 1999 angesetzte, globalisierungskritische Bewegung sicherlich nicht denkbar gewesen.
Als sich 2001 abzeichnete, dass die mexikanische Regierung die geforderte Autonomie nicht zugestehen, sondern durch ein verwässertes Gesetz sogar erschweren würde, mobilisierten die Zapatistas erneut in großem Stil. Im Februar und März fuhrt die Kommandantur der EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional) durch 12 Bundesstaaten nach Mexiko-Stadt, begleitet von einer Buskarawane mit rund 2.000 Beobachter*innen und Unterstützer*innen, darunter etwa 300 Leute aus der Bewegung der Tute Bianche aus Italien. Jeden Tag gab es mehrere Veranstaltungen, immer wurden auch lokale Aktivist*innen einbezogen. Auch in der internationalen Mainstream-Presse wurde das Ereignis noch aufmerksam verfolgt.
Als der heutige Präsident Mexikos, Andrés Manuel López Orbador, 2006 als Kandidat der sozialdemokratischen PRD in den Präsidentschaftswahlkampf zog, wurde der von vielen als Hoffnungsträger hofierte Linke von den Zapatistas nicht unterstützt. Stattdessen organisierten sie eine „Andere Kampagne“, die sich gegen die repräsentative Logik wandte und auf basisdemokratische Mobilisierung setzte. Der Kampagne schlossen sich über 1.000 Gruppen und Initiativen in Mexiko an, auch in den sozialen Bewegungen in Lateinamerika und Europa gab es starke Resonanz.
Zum Jahreswechsel 2007/2008 fand in La Garrucha, einem der damals fünf zapatistischen Verwaltungszentren in Chiapas, das erste internationale Frauentreffen statt. Die Verwaltungszentren, Caracoles genannt, wurden 2003 in den von den Zapatistas kontrollierten Gebieten eingerichtet und 2019 durch sieben weitere ergänzt. War dem Aufstand von 1994 bereits 1993 das „Revolutionäre Frauengesetz“ vorausgegangen, das Geschlechtergerechtigkeit und grundlegende Rechte für Frauen in den indigenen Gemeinden festlegte, erweiterten die Zapatistas hier ein weiteres Mal ihren Kampfradius. Hatte sich beim Intergalaktischen Treffen 1996 noch keine indigene Frau ans Mikro getraut, wurde im Laufe der Jahre gezielt auf Ermächtigung gesetzt. Der interne Befreiungsschub wurde 2007/2008 sozusagen transnationalisiert und mit rund 3000 Frauen aus Lateinamerika und Europa gefeiert und ausgebaut. Mit „Das Recht glücklich zu sein“ ist auch zu diesem Treffen ein schöner Fotoband erschienen. An der Delegation, die jetzt 2021 voraussichtlich Europa bereisen wird, soll der Frauenanteil bei 75 Prozent liegen.
Im August und Dezember 2013 luden die Zapatistas etwa 1.500 ausgewählte Aktivist*innen aus aller Welt zur „Kleinen zapatistischen Schule“ (escuelita zapatista) nach Chiapas ein. Hatten die Treffen in den 1990er Jahren vor allem dem gegenseitigen Austausch der linken Bewegungen untereinander gedient, traten die Zapatistas nun mit gestärktem Selbstbewusstsein selbst als Vermittlerinnen ihrer eigenen Errungenschaften auf. Es ging darum, über die Erfolge des basisdemokratischen Politikmodells, aber auch des Aufbaus der selbstverwalteten Gesundheits- und Bildungssysteme zu informieren. 

Auch wenn der Zapatismus innerhalb der Linken längst nicht mehr so präsent ist wie noch um das Jahr 2000 herum und aus der öffentlichen Wahrnehmung fast völlig verschwunden ist: Er hat doch seine Effekte gezeitigt und tut dies immer noch. Zapatistische Slogans wie das Attac-Motto „Eine andere Welt ist möglich!“ sind in den allgemeinen Bewegungswortschatz eingegangen. Mit dem Zapatismus ist in der Linken, wie der argentinisch-mexikanische Philosoph Enrique Dussel schrieb, „der Avantgardismus definitiv überwunden“ und die Demokratie zum unumgänglichen Maßstab geworden. Dass die Bewegung nicht nur in aktivistischen Diskussionen noch präsent ist, sondern auch in zahlreichen sozialwissenschaftlichen Büchern immer wieder auftaucht, ist sicherlich auch ein Effekt der transnationalen Ansprüche. Die publizistische Ebene der Transnationalisierung ist nicht zu unterschätzen. Schließlich ist zu keiner indigen geprägten sozialen Bewegung auch nur annähernd so viel veröffentlicht worden wie zum zapatistischen Aufstand. Die Selbstverwaltung, die Poesie, die Emanzipation der Frauen, die Effekte auf Kultur- und Sozialwissenschaften, aber auch das zunehmende Engagement der Bewegung gegen fragwürdige „Entwicklungsprojekte“ und die ökologische Zerstörung – kaum ein Aspekt, der nicht untersucht und beschrieben worden wäre. Im Kampf gegen infrastrukturelle Großprojekte der mexikanischen Regierung wird derzeit auch wieder in Kooperation mit Initiativen der globalen Bewegungen für Klimagerechtigkeit mobilisiert.

Schließlich ließe sich neben der begrifflichen, der aktivistischen und der publizistischen noch eine vierte Ebene der Transnationalisierung beschreiben. Es hat sich auch eine wirtschaftliche Dimension herausgebildet, die im fairen Handel vor allem von Kaffee aus Chiapas besteht. Initiativen wie Aroma Zapatista und Café Libertad organisieren seit Jahren auch im deutschsprachigen Raum den Vertrieb von Kaffee aus den zapatistischen Gemeinden, und das auf sehr professionellem Niveau. Auch dieser Aspekt des Handels ist in seiner transnationalen und dekolonialen Dimension nicht unterzubewerten, schließlich waren die Kaffee-Plantagen in Südmexiko jahrzehntelang in der Hand von oft deutschstämmigen Großgrundbesitzern. Dass diese mit der ansässigen indigenen Bevölkerung meist menschenverachtend umgingen, lässt sich schon in den Romanen von B. Traven nachlesen.

Der Soziologe Immanuel Wallerstein lobte in einem Interview 1999 „die neuen Taktiken und die neuen Strategien“, die, vom Zapatismus ausgelöst, in den anti-kapitalistischen sozialen Bewegungen entstanden seien. Auch sie sind mittlerweile zweifellos in die Jahre gekommen. Um sie zu ein weiteres Mal zu aktualisieren und intensiv zu Organisierungsprozessen von unten und links beizutragen, kommen die Zapatistas im Sommer nach Europa.


Jens Kastner

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