ak - analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 582 / 19.4.2013

Für eine emanzipatorische Ästhetik
Jens Kastner greift einen Streit zwischen Rancière und Bourdieu auf

Von Vincent Gengnagel und Hannes Glück



Kunst um der Kunst Willen ist dem Anspruch nach unabhängig von den im Hier und Jetzt herrschenden Zwängen. Das weckt Hoffnungen für jede emanzipatorische Bewegung: Schöpferische Erfahrung und ästhetisches Empfinden eröffnen mögliche Welten, woraus im besten Fall Utopien und Gegenentwürfe entstehen, die über das Gegebene hinausweisen - oder zumindest den Sound dazu liefern. Im schlechteren Fall besteht die Gefahr, dass daraus der Sound einer bestimmten Gruppe wird, also ein ausschließendes Insiderwissen über den »richtigen« Ton und Stil. Insofern werden Kunst und anerkannte Weisen ästhetischer Wahrnehmung auch zu Instrumenten hierarchischer Ordnung.

Diese Zwiespältigkeit ästhetischer Erfahrung ist Gegenstand einer Debatte, die Jens Kastner den »Streit um den ästhetische Blick« nennt. Er skizziert diese in seinem jüngsten Buch anhand der Gegenüberstellung zweier Autoren. Für Jacques Rancière, einen der zur Zeit im Bereich der Kunst wohl einflussreichsten politischen Denker, ist der ästhetische Blick zunächst ein Moment des Ausbruchs aus herrschenden Funktionslogiken. Die gerade über ihre Funktionslosigkeit bestimmte Kunst wird hier ausgeweitet zu einer allgemeinen Wahrnehmungsweise. Diese befähigt dazu, von der eigenen Eingebundenheit in alltägliche Notwendigkeiten und Rollen abzusehen und bildet so den Ausgangspunkt für eine Veränderung des Bestehenden.

Der Moment des ästhetischen Blicks - in dem eine mögliche andere Welt und Lebensweise sichtbar wird - ist für Rancière ein politisches Ereignis, bei dem die bestehende Ordnung radikal hinterfragt und neu geordnet werden kann. Die so erst ermöglichte Emanzipation richtet sich gegen die je herrschende »Ordnung des Sinnlichen« und ihre Ignoranz gegenüber den Ausgeschlossenen.
Im Gegensatz zu dieser radikaldemokratischen Philosophie der Öffnung betont Pierre Bourdieu die soziologische Erkenntnis, dass sich die herrschenden Verhältnisse - und damit auch deren Wahrnehmung - relativ stabil immer wieder reproduzieren. Das politische Ereignis, in dem die Verhältnisse radikal umgedeutet und dann tatsächlich verändert werden, ist nun mal äußerst selten.
Das betont auch Rancière. Laut seiner Polemik gegen Bourdieu trägt aber gerade die soziologische Rekonstruktion der »Ordnung des Sinnlichen« zur Verfestigung der Klassengegensätze bei und ist so Teil der Schließung. Die Schärfe, mit der Rancière dem »Soziologenkönig« Bourdieu verächtlich Komplizenschaft mit den Verhältnissen vorwirft, lässt sich als strategisch sinnvolles Manöver im akademischen Feld erklären, lenkt jedoch von der Debatte um den ästhetischen Blick ab.

Kastner verteidigt den schon verstorbenen Bourdieu wenig überraschend dahingehend, dass Rancières Kritik die erkenntnistheoretische und politisch-aktivistische Ebene vermische. Bourdieu beschreibt die bestehenden Ungleichheiten soziologisch, um die »Waffen der Kritik« für emanzipatorische Bewegungen zu schärfen - nicht, um sie ihnen aus der Hand zu nehmen. Kastner stellt im Sinne Bourdieus klar, dass es für politische Ereignisse symbolische und materielle Bedingungen gibt. Der befreiende ästhetische Blick erscheint so voraussetzungsvoller und damit schwerer zu erreichen als bei Rancière - das ist jedoch tatsächlich nicht Bourdieu anzulasten.

Möglichkeiten emanzipativer Kunstproduktion

Die von Kastner angemahnte Ebenentrennung hilft, den verhandelten Polemiken zu begegnen, müsste aber noch weiter führen: Seine Rekonstruktion eines »Streits« bietet einen griffigen Anlass, Ästhetik und Emanzipation zusammenzudenken. Der Text läuft aber selbst Gefahr, Debatten und symbolische Königsmorde des französischen akademischen Feldes ernster zu nehmen, als es polemische Zuspitzungen von ihrem Argumentationsgehalt her verdienen.

Kastner fasst die den beiden Autoren gemeinsame emanzipatorische Intention treffend in der Frage zusammen: »Wie ist der von der neoliberalen Gegenrevolution ausgelösten und getragenen Politik der Ungleichheit zu begegnen?« Einer Antwort wäre näherzukommen durch die Ausarbeitung des beachtlichen Potenzials, die eine wechselseitig ergänzende Synthese der beiden Denker für Reflexion und Praxis sozialer Kämpfe hat. Wo Rancière eine praktische und selbstbestimmte Revolution aller einfordert, will Bourdieu mit empirischen Mitteln eine Selbstaufkärung des akademischen Felds erzwingen, um dessen relative Autonomie für herrschaftskritische Anliegen überhaupt erst nutzbar zu machen.

Das vorliegende Buch lotet eher die Möglichkeiten emanzipativer Kunstproduktion aus, als dass es sich dem ästhetisch-praktischen Weltbezug radikaler Gesellschaftskritik widmet. Um den geht es mit den beiden großen Namen aber durchaus auch. Dafür müsste zunächst die Beschränkung auf das Kunstfeld überwunden werden. Erst so könnte Rancières weiter Ästhetikbegriff zum Tragen kommen, mit dem er ein Konzept zum Verständnis der Voraussetzungen jeglicher Emanzipation auf Ebene der Wahrnehmung anbietet.
Bourdieus Habitusbegriff wiederum liefert ein Konzept ästhetischer Wahrnehmung, die über das Feld der bürgerlichen Kunstproduktion hinaus in allen sozialen Feldern das Verhältnis zu symbolischer Macht mitstrukturiert und zu deren (De-)Legitimation beiträgt.

»Der Streit um den ästhetischen Blick« bereitet für eine solche theoretische Weiterentwicklung des von beiden intendierten emanzipatorischen Projekts den Boden. Emanzipatorische Praxis, die weder nur »mit Rancière« über die Möglichkeit der Gleichheit philosophieren noch »mit Bourdieu« über deren Unmöglichkeit soziologisieren will, muss sich auf die eine oder andere Art mit der von Kastner am Feld der Kunst herausgearbeiteten Spannung beschäftigen.
Das Buch hält sich mit solchen Generalisierungen zurück - wir hätten dann aber doch gerne von Kastner die Verschränkung der beiden Perspektiven auf den ästhetischen Blick dargelegt bekommen. Dennoch lädt der vorliegende Text in lesenswerter Weise dazu ein, einen eigenen Blick auf Ästhetik zwischen Öffnung und Schließung zu entwickeln, und eignet sich hervorragend als Diskussionsanstoß.


Vincent Gengnagel ist Soziologe und promoviert in Bamberg. Hannes Glück ist Philosoph und lebt in Leipzig.

Jens Kastner: Der Streit um den ästhetischen Blick. Kunst und Politik zwischen Pierre Bourdieu und Jacques Rancière. Turia & Kant, Wien 2012. 138 Seiten, 15 EUR.