in: Graswurzelrevolution, Nr. 302, Münster, Oktober 2005, S. 2.

Zur Hölle mit den Anderen.
Die „offene Gesellschaft“ und ihre Freunde

Die Kegelbahn ist an den Fußballverein vermietet, die Lieblingskneipe für einen Abend an die MuseumsmitarbeiterInnen. Was hier los ist, weiß jeder: Geschlossene Gesellschaft. Auch in Jean-Paul Sartres gleichnamigem Theaterstück ist die Sache klar, drei lebendige Tote, aufeinander angewiesen aber voneinander abgewiesen, sind in einen Raum gesperrt. Zu dritt sind sie schon mehr als ein Paar, eine Gruppe oder Gemeinschaft mindestens, im übertragenden Sinne vielleicht eine Gesellschaft. Und der Ort: abgeschlossen, verrammelt, zu. Auch darunter kann man sich was vorstellen. Aber eine „offene Gesellschaft“, zudem im Gebrauch meist mit bestimmtem Artikel als „die offene Gesellschaft“ ausgezeichnet, was könnte das sein? In der Regel ist nicht mehr in Erfahrung zu bringen, als dass sie gut ist, die „offene Gesellschaft“, und ihr Gegenüber böse. Ist das Gegenteil der offenen aber nun die „geschlossene Gesellschaft“ oder doch eher die „verschworene Gemeinschaft“ oder die auf geheimen Codes und Zugangsbedingungen beruhende Gruppe? Man weiß es nicht. Auch wenn niemand so recht bestimmen möchte, was sich hinter dem Begriff verbergen möge, ist er nach den terroristischen Anschlägen, die im Juli diesen Jahres zwei mal in den öffentlichen Verkehrsmitteln Londons verübt worden sind, wieder in aller Munde. Und zwar als Bezeichnung für die westlichen Gegenwartsgesellschaften. Nicht mehr Dienstleistung, Spaß oder Risiko sind die zentralen zeitdiagnostischen Momente, auch Industrie- oder Waren- mag man der Gesellschaft nicht mehr voransetzen. Im Angesicht des islamistischen Terrors verblassen all die mehr oder weniger gut begründeten Labels vor dem einen. Schon nach den verheerenden Attentaten vom 11.September 2001 machte das Wort die Runde, der daran geknüpfte Appell hat sich seitdem nicht geändert: Die offene Gesellschaft muss offen bleiben, sonst haben ihre Feinde gesiegt.

Der Soziologe Ulrich Beck stimmt in der Süddeutschen Zeitung (25.07.2005) erneut das in den letzten Jahren so oft gehörte Lied vom Gegensatz zwischen Freiheit und Sicherheit und der Balance an, die zwischen beiden gehalten werden sollte. Die „Allgegenwart des Terrorrisikos“ bedrohe die Freiheitsrechte der offenen Gesellschaft und diese sollte die islamischen Führer dazu veranlassen, eine Fatwa, wie damals von Chomeini gegen Rushdie verhängt, „gegen die vielen bin Ladens der Welt“ auszusprechen. Die Ideen, mit denen solch feuilletonistische Politikberater ihren Regierenden bei Fuße gehen, sind anscheinend auch nicht besser als ihre Theorien. Nicht, dass gegen Al Kaida, Hamas und andere islamistische Mörderbanden nicht vorgegangen werden sollte. Mit ihren Förderern zu reden, auch das ist vielleicht keine schlechte Idee. Als einer der wichtigsten Handelspartner des Irans seit den Zeiten des Schahs wird es da von Seiten der offenen – in diesem Fall deutschen – Gesellschaft ja auch schon die ein oder andere Gelegenheit gegeben haben. Aber um die Wirtschaft geht es ja gar nicht bei der „offenen Gesellschaft“.

Der Philosoph Karl Popper hat den Begriff geprägt und als vages Gegenmodell gegen die Totalitarismen seiner Zeit, Nationalsozialismus und Stalinismus, formuliert. In „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ rechnet Popper mit Platons Staatsphilosophie sowie mit Hegels Dialektik und der Marxschen Geschichtsphilosophie ab und wendet sich mit der Kritik an diesen „totalitären“ Strängen der Philosophiegeschichte auch gegen sozialistischen Kollektivismus und egalitäre Gesellschaftsmodelle. Die Offenheit der Gesellschaft besteht laut Popper in ausbleibender sozialtechnischer Planung und in einer pluralistischen Grundkonzeption. Zumindest die erste Bestimmung macht Popper immer wieder anschlussfähig an neoliberale Diskurse, die staatliche oder andere kollektive gesellschaftliche Regelungen als anmaßende Interventionen in den ökonomischen Lauf der Dinge ablehnen. Gesellschaftstheoretisch blass, reduziert sich das Konzept der „offenen Gesellschaft“ demokratietheoretisch auf den Imperativ, ein Wechsel der Regierung müsse ohne Blutvergießen stattfinden können. (Was letztlich auch auf die Sowjetunion zutraf). Abgesehen davon, dass Popper selbst Eigentums-, Produktions- und Machtverhältnissen nicht in Frage stellt, wurde sein Werk auch in der Rezeption nicht selten als Kampfschrift für die bestehende liberal-kapitalistische Gesellschaftsform gehandhabt. Und zwar nicht nur in Anbetracht islamistischen Terrors, sondern in allen Phasen rechter Publikationsoffensiven und antimarxistischer Propagandatätigkeit.

Umso mehr verwundert es, dass auch in Zeitschriften wie der Jungle World (Nr.30, 27.07.2005), dem Antimarxismus eigentlich unverdächtig, der „offenen Gesellschaft“ applaudiert wird. Thomas v. d. Osten-Sacken zitiert den King´s College Professor Shalom Lappin mit der Behauptung, Rechte und Linke machten gemeinsame Sache im Angriff auf die „Grundlagen der offenen und freien Gesellschaft“, indem sie multikulturalistische Bedenken gegen antimuslimische Gesetze äußerten. Stattdessen sollten sie angesichts der jihadistischen Bedrohung jene lieber verteidigen und dem, so v .d. Osten-Sacken, sei „aus ganzem Herzen zuzustimmen“.

Die „offene Gesellschaft“ ist nicht nur wie die meisten zeitdiagnostischen Labels als Begriff unscharf. Keine spezifischen Mechanismen werden angegeben, die sie ausmachen sollen, keine Prozesse und Verhältnisse bestimmt, die für sie kennzeichnend sind. Sie lebt von dem Dualismus, den sie impliziert und seiner moralischen Aufladung: Offen ist gut, demokratisch und liberal, das andere ist totalitär und terroristisch. Da ist die Welt letztlich nicht weniger in Ordnung als im Kneipenhinterzimmer und im bevorzugten Club. Die „offene Gesellschaft“ wird im Angesicht des islamistischen Terrors zum kulturellen Zeichen, das auf Einheit steht. Haltet zusammen und den Mund, wenn es um das eigene geht. Da soll nicht mehr rumgekrittelt und genörgelt werden, wenn vom westlichen Gesellschaftsmodell geredet wird, Ausbeutung von Menschen und Natur, kulturelle Exklusionen und Vereinheitlichungen, kolonialistische Vergangenheit und ihre gegenwärtigen Auswirkungen und alles, was emanzipatorische Kritik und Bewegungen in den letzten Jahrzehnten so zu bemängeln hatten, tritt hinter dem einen zurück: Wir sind die „offene Gesellschaft“.

Wer da nicht mitzieht, macht sich, wie damals in der „freien Welt“, schon zum „Helfershelfer“ (v. d. Osten-Sacken) des Bösen. So hatte schon Silvio Berlusconi nach den Polizeigewaltexzessen von Genua 2001 eine „merkwürdige Übereinstimmung“ zwischen GlobalisierungskritikerInnen und islamischen Terroristen in der Ablehnung der „westlichen Zivilisation“ behauptet. Galten die Feinde der „freien Welt“ immerhin noch als berechenbare IdiotInnen, die die beste aller möglichen Welten verschmähten – ihnen ging es schließlich um nachvollziehbar andere Produktions- oder Lebensformen –, werden die KritikerInnen der „offenen Gesellschaft“ gleich mit dem ziellosen, irrationalen und unkalkulierbaren Irrsinn massenmörderischer Selbstmordattentäter in einen Topf geworfen.

Von der „offenen Gesellschaft“ zu sprechen, ohne zu erwähnen, wer rein darf und unter welchen Bedingungen man drin bleiben kann, wäre letztlich, würde es nicht das Einverständnis mit den gegenwärtigen Verhältnissen herstellen, nichts weiter als moralisierender Kitsch. Darin allerdings lässt es sich bekanntlich gut einrichten. Offenbar haben die Freunde und Freundinnen der „offenen Gesellschaft“ den zentralen Satz aus Sartres Stück – eigentlich intendiert als Anspielung auf die emotionale und soziale Abhängigkeit der Menschen voneinander – zweckentfremdet, sich zu eigen und es sich damit sehr einfach gemacht: „Die Hölle, das sind die anderen“.

Jens Petz Kastner