in: Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Herbst 2007, S. 26-27.

Skurrile skills und tolle tools
Wissensgesellschaft und Kunst
Jens Kastner

Für Ulrich Beck ist die Rede von der „Wissensgesellschaft“ ein „Euphemismus der Ersten Moderne“. Der Soziologe weiß es offenbar besser als viele seiner KollegInnen, die behaupten, die gegenwärtigen Gesellschaften hätten ein solches Präfix verdient. Statt Risiko-, Informations-, Dienstleistungs- oder postindustrieller, postmoderner, spätkapitalistischer also „Wissensgesellschaft“. Mit seiner Ablehnung dieses zeitdiagnostischen Labels verallgemeinert Beck allerdings bloß die abgedroschene Koketterie Sokrates´: Nicht nur er, sondern tendenziell alle wüssten, dass sie nichts wissen, weshalb die „Zweite Moderne“ also eine „Nicht-Wissensgesellschaft“ sei. So oder so, offenbar hat sich der Status des Wissens in den letzten Dekaden dermaßen gewandelt, dass die zuständigen WissenschaftlerInnen ihn problematisieren: Die Bedeutung wissenschaftlichen, theoretischen Wissens sei nicht nur in der industriellen Produktion und im Bereich der Dienstleistungen gewachsen, sondern habe auch den Alltag durchdrungen. Zum einen sei der allgemeine Zugang zu Wissen und Informationen erleichtert worden, gleichzeitig sei aber auch die Menge an potenziellem Wissen enorm gewachsen. Das mache wiederum ExpertInnenwissen unabdingbar für individuelle Orientierungen. Letztlich ist vielleicht Wissen sogar die entscheidende Produktivkraft der gegenwärtigen Ökonomien. Der Umgang mit Wissen gewinnt dadurch auf verschiedenen Ebenen an Bedeutung: Öffentliche Zugänglichkeit von Wissen steht dessen privater Verwertung gegenüber, der/die Einzelne hingegen ist mit der möglichen Erweiterung von Handlungsoptionen auf der einen und mit den Zumutungen ihrer angeblichen oder tatsächlichen Vervielfachung auf der anderen Seite konfrontiert.
Es ist die eine Frage, ob die Diagnose richtig gestellt ist. Wie sie beurteilt wird und was daraus folgt, sind hingegen andere. Ein Großteil der VertreterInnen des Labels „Wissensgesellschaft“ findet diese dann auch ganz o. k.: Der ungeheuer erweiterte Zugang zum Wissen erweitere die Handlungsmöglichkeiten des/der Einzelnen und mache sie/ihn „vom passiven Akteur zum aktiven Mitgestalter“, meint zum Beispiel der Soziologe Nico Stehr. Die Philosophin Nancy Fraser macht eine „verbreitete Politisierung von Kultur“ in der Wissensgesellschaft aus, in der mehr „Ansprüche auf Anerkennung“ formuliert würden. Und die Grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung meint gar, die Entfaltung des Begriffs der Wissensgesellschaft führe zu gesellschaftlichen Perspektiven, die „auf den Willen und die Befähigung der Menschen zu Selbstbestimmung und Selbstorganisation setzt.“ Aber auch aus den Reihen oder Ecken, die weiterhin meinen, wir leben zu allererst in einer kapitalistischen und nicht unbedingt in einer „Wissensgesellschaft“, wird in die positive Wertung des veränderten Status des Wissens eingestimmt. So vertraut beispielsweise der postoperaistische Theoretiker Paolo Virno auf die „konkrete Aneignung und Neuformulierung des Wissens und Könnens, das heute (noch) in den administrativen Staatsapparaten begraben ist“.
Bei so viel Begeisterung für die Wissensgesellschaft, werden Fragen nach der Legitimität bestimmten Wissens, seiner Repräsentation und den unterschiedlichen Zugängen zu verschiedenen Formen des Wissens häufig vernachlässigt. In der Behauptung, Wissen sei gegenwärtig „immer größeren Bevölkerungsschichten direkt oder indirekt zugänglich“ (Stehr), bleibt zumindest unerwähnt, dass die Voraussetzungen für den Zugang zu und den Umgang mit Wissen radikal unterschiedliche sind.

Es gilt als allgemeine Tendenz der „Wissensgesellschaft“, dass Kompetenzen in Sachen Kommunikation und Symbolanalyse eine enorme Aufwertung erfahren und letztlich unabdingbar werden – für das soziale Leben ebenso wie für die ökonomische Wertschöpfung. Und hier, beim Umgang mit Symbolen, kommunikativen skills und kreativen tools, kommt natürlich die Kunst ins Spiel. Obwohl in der Moderne als traditioneller Widerpart der Wissenschaft gehandelt, ist auch die Kunst vom Wandel des Wissens betroffen. Dabei sind frühe Flirts künstlerischer Avantgarden mit technizistischen Utopien oder die vielschichtigen Überlappungen angewandter Kunst mit den Naturwissenschaften in Architektur und Handwerk sozusagen nur die Ränder des Spielfelds. Auch geht es nicht in erster Linie um die Bebilderung oder Vermittlung wissenschaftlichen – oder anderen – Wissens.
Im Zentrum stehen vielmehr einerseits die der bildenden Kunst eigenen Formen der Wissensproduktion. Diese können durchaus im Wechselspiel mit wissenschaftlichem Wissen entwickelt sein, dessen gesellschaftliche Wahrnehmung hinterfragen oder seinen Wahrheitsgehalt in Frage stellen. Ebenso hat der Bezug auf kunstimmanente Fragestellungen bestimmtes Wissen hervorgebracht. Das ist sicherlich der Umgang mit Symbolen, auf den im Anschluss an die Zeichentheorie stark abgehoben wird. Aber auch die Recherche hat als künstlerische Methode an Gewicht gewonnen. Erkundete damit zunächst die konzeptuelle Kunst seit den 1960er Jahren Mechanismen des eigenen Feldes, wurden später auch verschiedenste andere gesellschaftliche Bereiche untersucht. Dabei steht bis heute auch die Aneignung und Verwertung von Wissen selbst im Mittelpunkt, wie z. B. in Ines Doujaks documenta 12-Arbeit, die Biopiraterie und Gender-Diversitäten verknüpft. Oder es geht um die Entmystifizierung komplexer gesellschaftlicher Wissenszusammenhänge, wie sie Andreas Siekmanns geschredderte Stadtmarketing-Maskottchen bei den Münsteraner Skulptur Projekten präsentiert haben. In beiden Fällen ermöglicht die ästhetische Umsetzung zudem die Entwicklung neuen, über die konkret gegebenen Informationen hinaus gehendes Wissens.
Was die Kunst aber andererseits zu einem nicht unbedeutenden Feld innerhalb der „Wissensgesellschaft“ macht, ist die Behauptung, dass es gerade künstlerische Praktiken und Werte sind, die sich in soziale Bereiche ausgedehnt haben, die zuvor ziemlich unberührt von ihnen waren. Dass eine auf Freiheit, Autonomie und Flexibilität ausgerichtete „Künstlerkritik“ (Luc Boltanski/Éve Chiapello) Eingang in die Forderungen und Praktiken sozialer Bewegungen seit den 1960er Jahren gefunden hat, ist vielleicht weniger überraschend. Zur Ausdehnung „künstlerischer“ Praktiken gehört aber auch die allseits gefeierte und geforderte Kreativität, die selbst der prekär Beschäftigten noch abverlangt wird, die im Westbahnhof für eine Fastfoodkette Butterbrote schmiert und deshalb „Sandwich Artist“ heißt. Kurz: Die immaterielle Arbeit sei zur hegemonialen Form der Arbeit geworden, die Produktion habe die Fabrik verlassen und finde innerhalb der Gesellschaft statt. Und zwar in Form einer Kombination aus intellektuellen Fähigkeiten, handwerklichem Geschick, unternehmerischer Entscheidungsfindung und sozialer Kooperation.
Ist jenes kooperative Kommunizieren, wie Virno meint, die allgemeine Basiskompetenz, die unter Bedingungen zum Vorschein kommt, in denen Orientierungslosigkeit und Fremdheit „unausweichliche und dauerhafte Erfahrung“ aller sei? Und ist das „reflexive Nichtwissen“ (Beck) ein alle verbindendes Spezifikum der Gegenwartsgesellschaften? Unterschiedlichen sozialen, politischen und kulturellen Ausgangsbedingungen jedenfalls wird in diesen Ansätzen keine große Aufmerksamkeit gewidmet. Um solchen fundamentalen Ungleichheiten gerecht zu werden, sind andere zeitdiagnostische Labels vielleicht tauglicher. Wer weiß.