in: graswurzelrevolution, Nr. 416, Münster, Februar 2017, S. 19.

Der ambivalente Theoretiker
Der Soziologe Zygmunt Bauman starb am 9. Januar 2017 mit 91 Jahren. Ein Nachruf

Der Soziologe Zygmunt Bauman war definitiv jemand, der sich seinen eigenen Analysen auch selbst aussetzte. Im Guten wie im Schlechten. Den autoritären Anspruch auf die bessere Übersicht aufzugeben, den die Soziologie Jahrzehnte lang hinsichtlich ihres Gegenstands „Gesellschaft“ vor sich hertrug, gehörte sicherlich zu den positiven Leistungen seines Werkes. Denn als privilegierte Beobachterin von sozialen Regel- und Gesetzmäßigkeiten, hatte die Soziologie sich auch in politische Gesetzgebung verstrickt. Zu interpretieren statt sich zu LegislatorInnen aufzuschwingen, hatte Bauman daher sich und seiner Zunft schon Ende der 1980er Jahre dringend empfohlen. In einer immer unübersichtlicher werdenden Welt geradezu eine zwingende Mahnung. Den Schluss allerdings, mit den Interpretationen nicht mehr in das Beobachtete eingreifen zu wollen (oder gar zu dürfen), hat Bauman nie gezogen. Bis zum Schluss blieb er ein engagierter Intellektueller, ein Soziologe mit linker Haltung.

Die Unübersichtlichkeit, von Bauman als Ambivalenz adressiert, war ihm zentrales Merkmal der Moderne. Ihr ausgesetzt zu sein, das kollektive Schicksal der Menschheit seit der aufklärerischen Abschaffung des Gottesglaubens. Personifiziert wurde die Ambivalenz durch die Figur der/des Fremden. Weder FreundIn noch FeindIn, wurde – und wird – dem Unbekannten und Nicht-Einschätzbaren vorsorglich mit Hass begegnet. Die Versuche, Ambivalenzen einzudämmen, führen laut Bauman in die Katastrophe. Ambivalent waren allerdings auch seine eigenen Befunde nicht selten, manches Mal auch widersprüchlich. Bei aller Achtung vor der Form des Essays, die Bauman als antiautoritäre Alternative zu allzu starren Modellen und Systematiken pflegte, ist darin doch auch Negatives auszumachen. Nämlich das nicht thematisierte Nebeneinander von Positionen, die eigentlich unvereinbar sind. Und man wird dem selbstkritischen Vermächtnis eines Autors wie Bauman vielleicht am besten gerecht, indem man es einer kritischen Revision unterzieht. Im Rahmen seiner Moderne-Kritik beschrieb Bauman den Nationalstaat mit der Metaphern des Gärtners: als einen ordnenden, pflegenden, züchtenden und zugleich auch vereinheitlichenden und schließlich ausrottenden und vernichtenden Akteur. Mit seiner Hinwendung zur Gegenwartsanalyse unter dem zeitdiagnostischen Label der „flüchtigen Moderne“ (im Original „liquid modernity“) hingegen tritt der Nationalstaat als positive Bezugsgröße auf. Seiner Regelungskompetenz wird nachgetrauert, da wo er, von linken Regierungen geführt, sozialisierend eingreift wie in vielen lateinamerikanischen Ländern in den 2000er Jahre, wird er begrüßt. Während der Staat der Moderne noch als Konglomerat beschrieben wird, das moralisches Handeln bis hin zum Massenmord unterdrückt, wird er angesichts der tobenden Marktkräfte ganz anders bewertet. Angesichts der privatisierten Konsumgesellschaften erklärt Bauman den Staat gar zur Quelle der Moral. Aufgefallen ist ihm dieser Widerspruch offenbar selbst nicht. Und obwohl er den Gartenstaat als eine Art Ausrottungsmaschine kultureller Differenz beschrieben hatte, machte er sich – anders als andere AnhängerInnen postmodernistischer Theorieansätze – keineswegs zu einem Verfechter von deren Anerkennung. Im Gegenteil: Den Kampf um Identitätspolitiken sah er letztlich als Ablenkungsmanöver der Herrschenden. Bauman nahm damit jene Positionen vorweg, die gegenwärtig im Rahmen der Diskussion um den Rechtspopulismus behaupten, die Linke habe sich viel zu sehr mit antirassistischen, feministischen und queeren Mikropolitiken beschäftigt und dabei die soziale Ungleichheit vergessen. Dass der Kampf um die Anerkennung kultureller Differenzen – theoretisch wie politisch – auch einer gegen Diskriminierung und Ungerechtigkeit ist und nicht selten gar nicht unabhängig von Fragen der Ausbeutung geführt und diskutiert wurde, ließ Bauman nicht gelten. In puncto soziale Ungleichheit war seine Haltung alles andere als ambivalent. In einem seiner letzten Bücher wettert er ganz ohne soziologische Zurückhaltung gegen die neoliberalen Umstrukturierungen und ihre politischen und intellektuellen Helfershelfer. Hieran anzuknüpfen sollte eine kritische Soziologie sich trotz allem nicht nehmen lassen. Aber noch in einer anderen Hinsicht blieb er sich und einer seiner Thesen zweifellos treu. Bauman wollte als Theoretiker den Holocaust als integrativen Teil der Geschichte der Moderne – und nicht als „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) – verstanden wissen. Nur indem die Shoah nicht als außerhalb des Normalen begriffen würde, ließe sich verstehen, wie Menschen aus dem Bereich moralischen Empfindens ausgeklammert würden und nur so könne der Dehumanisierung begegnet werden. Was hier einerseits einleuchtet, weil es den Naziterror als das Werk ganz normaler Menschen und nicht von Monstern beschreibt, hat andererseits auch eine relativistische Schlagseite. Damit wird der Shoah letztlich die Einzigartigkeit abgesprochen und sie steht Vergleichen aller Art offen. So setzte auch Bauman selbst etwa 2011, in einem Interview mit der polnischen Zeitschrift „Politika“, die israelische Mauer um das Westjordanland mit den Mauern um das Warschauer Ghetto während des Zweiten Weltkriegs gleich. Für diesen soziologisch wie politisch abwegigen Vergleich wurde er nicht nur von der israelischen Zeitung Haaretz – zu Recht – scharf kritisiert. 

Jens Kastner

Von Jens Kastner erschien zuletzt Opens external link in new windowZygmunt Bauman.
Globalisierung, Politik und flüchtige Kritik,  Wien / Berlin 2015 (Verlag Turia + Kant). 


Mehr zum Thema:

Zygmunt Bauman: Retten uns die Reichen? Freiburg/ Basel/ Wien 2015, Herder Verlag. 
in: springerin. Hefte für Gegenwartskunst, Band XXI, Heft 3, Wien, Sommer 2015, S. 72. 
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"Empfänglich für Verbesserungen"
Interview mit Zygmunt Bauman

in: Jungle World, 5. November 2015, dschungel S. 8-11.
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Symbolische Macht und Instrumente der Freiheit
Über Pierre Bourdieus Über den Staat
in: Ne Znam. Zeitschrift für Anarchismusforschung, Nr. 1, 1. Jg. Frühjahr 2015, S. 39-48. 
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Staat und Konsens
Stuart Hall als Vermittler, oder: Warum AnarchistInnen die Uhr umstellen

in: Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Nr. 34, Winter 2014/2015, S. 22-24.
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