in: express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 60. Jg., 01/2022, Frankfurt am Main, S. 15.

Praxis mit utopischer Ausstrahlung
Die Historiker Dietmar Süß und Cornelius Torp haben eine äußerst lesenswerte Geschichte der Solidarität veröffentlicht

Von Jens Kastner

Seit einiger Zeit ist ein Begriff wieder in aller Munde, obwohl oder weil so viele unterschiedliche Praktiken mit ihm assoziiert werden: Solidarität. Einst viel besungener Leitbegriff der Arbeiterbewegung, wurde er später von den internationalen Kampagnen für antikoloniale und revolutionäre Projekte in Afrika, Asien und Lateinamerika in neue Handlungsformen übersetzt und faszinierte noch einmal linke Aktivist*innen und Politiker*innen in aller Welt. In den letzten Jahrzehnten allerdings war es doch eher still geworden um diese schillernde Vokabel. Zumindest gilt das für die systemsprengenden Effekte, die einst von der Solidarität erwartet wurden. Denn um die ging es etwa beim „Solidaritätszuschlag“ schon lange nicht mehr. Solidarität war da kein mit Freiheit und Gleichheit verbundenes, in eine bessere Zukunft weisendes Versprechen mehr, sondern bloß noch eine administrative Formel. Die Geschichte der Solidarität, das lässt sich nach diesen Zeilen schon vermuten, ist so wechselhaft wie ihre inhaltliche Ausrichtung umstritten ist.
Es gibt nämlich mehrere Schwierigkeiten allein damit, den Begriff genauer zu bestimmen. Zwei grundlegende Probleme nennen die beiden Historiker Dietmar Süß und Cornelius Torp in ihrer hervorragenden Überblickserzählung: Solidarität ist sowohl Kampf- als auch Analysebegriff und er bezeichnet sowohl einen Handlungsmodus, als auch eine Wertidee als auch einen Integrationsmodus. Diese verschiedenen Ebenen geraten selbst diversen Theoretiker*innen schnell durcheinander. Umso stärker ist die Leistung von Süß und Torp hervorzuheben, etwas Systematik in die Debatte gebracht zu haben. Dabei stellen sie Solidarität als Handlungsweise deutlich in den Vordergrund. Sie spüren der Solidarität als „eigene Form sozialen Handelns“ (70) nach und beschreiben ihr Auftreten an vielen Beispielen. Es ist also keine Begriffsgeschichte, sondern die Solidarität wird in ihrer „praxeologischen Dimension“ (21) nachgezeichnet.
Wenn die solidarischen Praktiken von der Ersten Internationale (1864) bis zur Corona-Krise der Gegenwart geschildert werden, bedeutet das aber nicht, dass theoretische Fragen ausgeklammert würden. Das ginge schon allein deshalb nicht, weil sie, begonnen mit der Frage, wem die Solidarität eigentlich gelten soll und wem nicht, immer schon Teil der Praxis ist. Insofern ist ein historischer Streifzug auch unbedingt theorierelevant – weil die ihm zugrunde liegende Praxis immer auch Effekt theoretischer Überlegungen ist.


Bis heute hält sich von der Linken bis weit hinein ins liberale Spektrum die Idee von der Solidarität unter Gleichen. Die Annahme, gleiche Lebens- oder wenigstens Ausbeutungsbedingungen führten zu gegenseitiger Unterstützung, war auch ein Gründungsmoment der Ersten Internationale. Ein so verstandenes Konzept lag der „Solidarnorm“ (27) der Arbeiterbewegung zugrunde. Die Proletarier, die sich über alle Ländergrenzen hinweg vereinigen sollten, wurden als Gleiche gedacht. Gleichheit wurde als Einigkeit und diese als Form der organisatorischen Stärke der Bewegung interpretiert. Das Gleichheitspostulat birgt aber zwei Probleme: Erstens müssen diejenigen, die aus anderen Gründen und in anderer Form ausgebeutet oder unterdrückt werden, also nicht so gleich sind, entweder angeglichen oder ausgegrenzt werden. Das betraf schon Frauen in der Arbeiterbewegung und betrifft heute die Vielfalt von Geschlechterpositionen und ethnischen Zuschreibungen. Immer wieder kreisen Süß und Torp daher auch zu Recht um die Frauenbewegungen und um feministische Debatten in der Geschichte der Linken – auch wenn sie die Frauenstreikbewegungen der Gegenwart und den Querfeminismus dabei nicht mehr im Blick haben. Zweitens entsteht aus der Gleichheitsvorstellung ein Dilemma, das spätestens der Erste Weltkrieg hat deutlich werden lassen und das heute mehr denn je existiert: „Für den einzelnen Menschen“, so Süß und Torp, „gibt es Solidarität zumeist nicht im Singular“ (43). Man kann sich der Arbeiterklasse verbunden fühlen oder der Nation, aber eben auch auf Herkunfts-, Geschlechts- oder Berufsgemeinsamkeit setzen.
Die historische Perspektive der Autoren erlaubt es dann zu sehen, dass bereits mit der Russlandhilfe 1921 auch ein neuer Solidaritätstypus entsteht. In der Hilfe für die hungernde Bevölkerung in der postrevolutionären Sowjetunion schlossen sich nicht nur unterschiedliche Akteur*innen zusammen zusammen, die Solidarität selbst wurde zu einer, in der „die soziale Verbundenheit unter Ungleichen, unter ‚anderen‘“ (56) praktiziert und gelebt wurde. Diese positiven Bezugnahmen auf jene, die gar nicht als Gleiche wahrgenommen wurden, durchzogen schließlich auch die anderen, ausführlicher besprochenen Beispiele: den britischen Generalstreik von 1926, den Spanischen Bürgerkrieg 1936 bis 1939 und nicht zuletzt die Unterstützung der antikolonialen und revolutionären Kämpfe in Afrika, Asien und Lateinamerika seit den späten 1950er Jahren. In all diesen Fällen stand auch das Verhältnis von Geber*innen und Nehmer*innen zur Debatte, wurde Solidarität mal über „einen geteilten Wertekanon“ (69) und mal einfach über die Abgrenzung zum bestehenden Normalzustand hergestellt. Diese Momente existieren auch relativ unabhängig davon, ob produktionsorientierte solidarische Protestformen wie der Streik oder eher konsumorientierte Solidarität wie die Kampagnen für „fair trade“ und „saubere Kleidung“ im Vordergrund stehen.

Anhand all dieser Kämpfe wird auch noch einmal deutlich, dass die Formen von linker Solidarität immer einen normativen Anspruch haben: Sie wollen nicht nur Hilfsleistungen und Care-Arbeit sein, sondern sie zielen „auf die Kritik von Machtasymmetrien sowie die Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse“. (21)In der solidarischen Praxis wurde daher nicht selten auch eine Vorwegnahme neuer, je nach Ausrichtung und Anlassfall antikapitalistischer oder pazifistischer, antipatriarchaler oder ökologischer Sozialbeziehungen gesehen. In einem Spannungsverhältnis zu diesem utopischen Moment steht durchaus die Institutionalisierung solidarischer Praktiken im Sozialstaat: Vom Anarchokommunisten Pjotr Kropotkin bis zum Philosophen Kurt Bayertz, vom 19. bis ins 21. Jahrhundert wird daher in Frage gestellt, ob es sich bei staatlichen Transferleistungen überhaupt um Solidarität handelt. Schließlich würden sie nicht freiwillig umgesetzt und würgten alltägliche Unterstützung eher ab als sie zu fördern. Zudem scheinen sie auch mehr den jeweiligen Status Quo zu festigen anstatt auf eine befreite Zukunft zu verweisen. Süß und Torp stellen sich dieser Problematik immer wieder. Dafür unterscheiden sie zwischen dem Sozialversicherungs- und dem Fürsorgezweig des Wohlfahrtsstaates und kommen zu einer deutlich ambivalenteren Einschätzung. Nicht zuletzt in der Asyl- und Flüchtlingspolitik sind solidarische Praktiken „von unten“ immer wieder auch in gesetzliche Absicherungen geronnen – und als solche erkämpft worden. In Bezug auf die Solidarität zwischen den Staaten der Europäischen Union stößt die eher staatsfreundliche Position von Süß und Torp dann allerdings an ihre Grenzen. Denn ob die an harte Bedingungen wie den Abbau des Sozial- und Bildungssystems geknüpfte Geldtransferleistung etwa an das krisengebeutelte Griechenland überhaupt als „Solidaritätsgewährung“ (168) bezeichnet werden sollten, wie sie es tun, ist doch mehr als fraglich.
Die Institutionalisierung ist jedenfalls laut Süß und Torp überhaupt eines von vier zentralen Merkmalen, die die Verständnisweisen von Solidarität in der Geschichte auszeichnen. Hinzu kommt zweitens die Ausformung als Kampfbegriff, vor deren Hintergrund Solidarität immer wieder neue Protestformen zugunsten anderer und damit schließlich, zumindest ansatzweise, auch neue soziale Beziehungen hervorgebracht hat. Drittens hat das Spannungsverhältnis von Partikularismus und Universalismus die Geschichte der Solidarität geprägt, also die schwierige Frage danach, wem sie noch gelten soll und wem schon nicht mehr. Problematisch oder spannungsgeladen ist diese Frage insofern, also sie sich in allen sozialen Kämpfen mehr oder weniger bald aufdrängt, eigentlich aber dem prinzipiellen Anliegen widerspricht, eine solidarische Welt für alle schaffen zu wollen. Schließlich ist viertens die Reziprozität, also eine auf irgendeiner Form von Gegenseitigkeit beruhenden Beziehung, stetiger und stets neu auszuhandelnder Bestandteil der Geschichte der Solidarität. Dass solidarische Praktiken kein historisches Handlungsmodell aus längst vergangenen Tagen sind, sondern dass sie immer wieder neu und andersartig entstehen, ist sicherlich eine der ermunternden Schlussfolgerungen dieses Buches, das zweifellos zum Besten gehört, was in den letzten Jahren zu dem Thema geschrieben wurde. Und das ist, wie schon angedeutet, erfreulicher Weise nicht wenig.


Dietmar Süß/ Cornelius Torp: Solidarität. Vom 19. Jahrhundert bis zur Corona-Krise. Dietz Verlag, Bonn 2021.

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