in: Tagebuch. Zeitschrift für Auseinandersetzung, Wien, Nr. 5, Mai 2022, S. 54-55.

Gramsci weint

Von Jens Kastner

Lucia hat noch ihre Katze Nilde, Cruci, ihre Freundin, hat immerhin noch ihre Kinder Rosa und Rocco. Letzterer erzählt die Geschichte von seiner Mutter und deren Freundin, von der er nichts weiß. Warum nicht, das ist das Thema der Geschichte. Er findet heraus: Beide, Lucia und Crucifissa, lernten sich Ende der 1970er Jahre in Frattocchie bei Rom kennen, genauer in der dort ansässigen Parteischule des PCI, der Kommunistischen Partei Italiens. Erzählt wird die Geschichte einer Frauenfreundschaft, die nicht denkbar gewesen wäre ohne den Kontext der damals mächtigsten Kommunistischen Partei der westlichen Hemisphäre. Während Cruci ihren proletarischen Verhältnissen in Sizilien durch Fleiß und Gewissenhaftigkeit alle Ehre und Parteikarriere machen will, möchte Lucia Letzteres auch, kann sich dabei aber alle Freiheiten einer Tochter aus bürgerlichen, wenn auch kommunistischen Verhältnissen leisten. Beide, so wenig lässt sich verraten, stoßen an die patriarchalen Grenzen eines Parteiapparates wie er auch damals schon massiv von links kritisiert worden war. Aber das ist nicht die einzige Enttäuschung, die die Geschichte mal mehr und mal weniger detailliert nachzeichnet.
Der erzählende Sohn Rocco hat seine eigene Romanebene und fährt mit der Mutter nach Rom. Dort trifft er schließlich die Büste Antonio Gramscis, des Parteigründers, und verbringt eine Nacht oder zwei mit Hassan, den er über eine Dating App kennengelernt hat. Aufgewachsen ist Rocco in Köln, wohin sein Vater Antonio im Dienste der Partei in den frühen 1980ern geschickt worden war. Ob er außer der Parteiarbeit noch einer Tätigkeit nachging und wieso überhaupt Deutschland, wird nicht ganz klar. Das verwundert, denn das Thema Migration und der deutsche Rassismus gegenüber „Gastarbeitern“ sind durchaus präsent. Jedenfalls redigiert die Mutter dem Vater die Reden und kümmert sich ansonsten um den Haushalt.
Crucis Entfernung von der Partei ist kein Ausnahmephänomen. Bei den Europawahlen 1984 stärkste Partei Italiens, löste sie sich 1991 auf. Dass die Partei aber nicht nur Apparat, sondern auch Wegweiserin war und kollektiven Zusammenhalt bot, macht die Geschichte sehr schön deutlich.
Gerade hier entsteht folgerichtig ein Konflikt. Denn das Handeln an der Partei auszurichten, stand nicht immer im Einklang mit den individuellen Lebens- und Liebesentwürfen. Freundschaft und Liebe passen nicht immer in politische Formen. Und das ist gar nicht so sehr ihrer Apparathaftigkeit geschuldet, es ließe sich über die Partei hinaus auch auf andere Bewegungen und Kollektive der Linken übertragen. 
Das Buch erzählt erstens eine schöne und traurige Geschichte und bietet zweitens, ohne dabei didaktische Bebilderung zu sein, genug Anstöße, sich doch noch einmal mit der Geschichte des italienischen Kommunismus zu beschäftigen und nachzuschlagen, was der „historische Kompromiss“ und der „Eurokommunismus“ eigentlich waren und wieso dieser Gramsci, der am Ende weint, letztlich allen Grund zum Heulen hätte.

Enrico Ippolito: Was rot war. Kindler Verlag, Hamburg 2021.

 

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in: Kulturelle Bildung Online, 08/2015.
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Ingo Lauggas: Hegemonie, Kunst und Literatur. Ästhetik und Politik bei Gramsci und Williams, Löcker (Reihe Cultural Studies, Bd. 11), Wien 2013
in: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, Nr. 309, 56. Jg., Heft 4/2014, S. 588-589. 
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