in: graswurzelrevolution, Münster, Nr. 414, Dezember 2016, S. 20.

Respektloser Hammer
In einem aktuellen Buch erklären Zapatistinnen und Zapatisten ihre Sicht auf den Kapitalismus der Gegenwart.



Als die Zapatistische Armee zur Nationale Befreiung (EZLN) Mitte Oktober 2016 ankündigte, für die mexikanische Präsidentschaftswahl eine indigene Frau aufzustellen, war die Verwunderung groß. Der gemeinsam mit dem Nationalen Kongress der Indigenen (CNI) gefasste Plan, sich an den Wahlen zu beteiligen, erntete viel Spott und Häme. Nun also doch. Hatten die Zapatistinnen und Zapatisten nicht immer gegen das politische System gewettert und alle Parteien dabei gleichermaßen kritisiert? Hatten sie nicht sogar 2006 mit ihrer skeptischen Haltung gegenüber dem aussichtsreichen Kandidaten von der Partei der Demokratischen Revolution (PRD), Andrés Manuel López Obrador, diesem die Präsidentschaft versaut? Gewonnen hatte damals nur sehr knapp der konservative Felipe Calerón. Viele Linke hatten es den Zapatistas übel genommen, sich nicht auf die Seite des linken Sozialdemokraten geschlagen zu haben. Stattdessen begann damals die groß angelegte „Andere Kampagne“, ein basisdemokratischer Mobilisierungsprozess, dem sich zeitweise bis zu 1000 Gruppen und Personen angeschlossen hatte.

Zum Wahlboykott hatten die Zaptistinnen und Zapatisten übrigens 2006 nicht aufgerufen. Das wird von ihren GegnerInnen immer wieder behauptet. Allerdings hatte etwa der damalige Sprecher der EZLN, Subcomandate Marcos, auf einer Veranstaltung in Mexiko-Stadt nur zwei Monate vor den Wahlen noch gesagt: „Wer wählen will, soll wählen“. Auch wenn deutlich basisdemokratischere Mobilisierungen stets im Fokus der Bewegung standen, hat sich an dieser Haltung nichts verändert. Das lässt sich nun auch im neuen Buch nachlesen, das von einigen Aktvistinnen und Aktvisten der EZLN geschrieben wurde. Darin betont beispielsweise der jetzige EZLN-Sprecher, Subcomandante Insurgente Moisés: „Als Zapatisas [...] rufen wir weder zum Nichtwählen noch zum Wählen auf. Als Zapatistas [...] sagen wir den Menschen – sooft es möglich ist –, dass sie sich organisieren sollen, um Widerstand zu leisten, um zu kämpfen, um das zu erreichen, was nötig ist.“ (286) Das Buch enthält die gesammelten und ergänzten Beiträge eines Seminars, das die zur sozialen Bewegung gewordene Guerilla-Organisation im Mai 2015 unter dem Titel „Das kritische Denken angesichts der kapitalistischen Hydra“ abgehalten hatte.

Die zapatistische Bewegung hatte am 1. Januar 1994 überraschend einen bewaffneten Aufstand gegen die Zentralregierung in Mexiko begonnen. Ihre Basis hat sie in vielen indigenen Gemeinden in Chiapas, dem südlichsten und ärmsten mexikanischen Bundesstaat. Ihr Kampf richtete sich gegen die rassistische Ausgrenzung der indigenen Bevölkerungsgruppen, gegen die Armut und gegen den Neoliberalismus. Schon zwei Wochen nach Beginn der Erhebung verlegten die Zapatistas ihren Kampf von der militärischen auf die zivilgesellschaftliche Ebene: den Aufbau kommunaler Strukturen und vielfältige basisdemokratische Organisierungen. Der Tag des Aufstands war gut gewählt, denn damals trat das Nordamerikanische Feihandelsabkommen (NAFTA) zwischen den USA, Kanada und Mexiko in Kraft. Den Kampf gegen den Neoliberalismus zu richten, erwies sich als extrem fruchtbar. Die damals noch nicht so verbreitete Vokabel wurde zum Kampfbegriff: Sie bot die Möglichkeit für viele soziale Bewegungen auf der ganzen Welt, sich unter einem kleinen gemeinsamen Nenner zu vernetzen. Von Chiapas aus wurde insofern unter anderem auch die globalisierungskritischen Bewegungen der späten 1990er und frühen 2000er Jahre mit angestoßen.

Bei den neuen Texten aus den Reihen der EZLN, stellt sich gleich die Frage, wie viel Neues darin enthalten und was bereits aus den letzten zwanzig Jahren bekannt ist. Da lässt sich mit dem Neoliberalismus gleich einhaken. Lange Zeit war er das wichtigste zeitdiagnostische Label – Subcomandante Marcos hatte den Neoliberalismus 1997 in der internationalen Zeitung Le Monde Diplomatique einen „vierten Weltkrieg“ genannt – und zugleich zentraler Angriffspunkt. In den aktuellen Texten taucht das Wort kaum auf. Kritisiert wird nun vielmehr der Kapitalismus als solcher. Diese Schwerpunktverlagerung hatte sich in den letzten Jahren bereits deutlich abgezeichnet. Der Kapitalismus habe viele Gesichter, nein eigentlich viele Köpfe und erneuere sich ständig wie das schlangenartige Ungeheuer Hydra aus der griechischen Mythologie. Deshalb müsse zunächst seine Entstehungsgeschichte nachvollzogen werden, die Spuren der Hydra, „ihre Zeiten, ihre Orte, ihre Geschichte, ihre Genealogie.“ (240)
Ungewöhnlich und neu ist dabei auch der starke Bezug auf Karl Marx. Um zu verstehen, was in Chiapas geschehe, könne man sich getrost auf die Aussagen zur „sogenannten ursprünglichen Akkumulation“ in Das Kapital stützen. Hier schieden sich nach Marx, noch bevor der Kapitalismus einsetzte, ProduzentInnen und Produktionsmittel. Aber nicht, wie die Nationalökonomie annahm, weil einige ganz fleißig waren und sich so Eigentum erarbeiten konnten. Vielmehr habe es sich um eine gewaltsame Enteignung gehandelt. Die Zapatistinnen nennen das nun „Plünderung“ (246). Und weil diese häufig in rechtlichem Rahmen und staatspolitisch abgesichert geschehe, müsse man den Produktionsmitteln theoretisch noch die „Beraubungsmittel“ (246) hinzufügen.
Liest man zudem die ausführlichen Leidensgeschichten der zapatistischen Frauen, fühlt man sich tatsächlich in vorherige Jahrhunderte versetzt. Sie waren der brutalen Willkür und Gewalt der Großgrundbesitzer ausgesetzt und mussten dabei noch ab vier Uhr morgens Kaffee und Tortillas machen, die Kinder versorgen und waren ohne Gesundheitssystem und soziale Absicherung für die Reproduktion der männlichen Arbeitskraft zuständig. Man kann nur erahnen, welche Befreiung die Organisierung in der Bewegung bedeutet haben muss. Neben diesem Blick auf die Veränderungen im Süden Mexikos biete das Buch den Versuch einer Kapitalismusanalyse sowie die Beantwortung der Frage nach linker Organisierung.

Auffällig ist dabei auch der starke Bezug auf das kritische Denken, das die Zapatistinnen und Zapatisten erneuern wollen. Es solle die Praxis anleiten und nicht zuletzt auch dafür gut sein, „auf die Strukturen des wissenschaftlichen Denkens mit dem respektlosen Hammer der Fragen“ (240) einzuschlagen. Die immer wieder erneuerte Bereitschaft, sich über Kritik und Theorie auszutauschen, um nicht dogmatisch zu werden und linke Praxis zu verbessern, die muss man den ZapatistInnen hoch anrechnen. Dabei sind vor allem die Texte von SupGaleano, dem früher als Subcomandante Marcos bekannten Zapatisten, gewohnt anspielungsreich. Sie bedienen sich der griechischen wie der Maya-Mythologie, der Geschichten von Sherlok Holmes ebenso wie beim Kritischen Theoretiker Walter Benjamin und beim Soziologen Immanuel Wallerstein.

In den wesentlichen Aussagen unterscheiden sie sich allerdings kaum von denen der anderen AutorInnen. Und da gäbe es bei aller Faszination für die fragende Methode und die Vielstimmigkeit der Analyse doch diskussionsbedarf. Denn letztlich wird der Kapitalismus trotz Mehrköpfigkeit doch ziemlich eindimensional gesehen: Er beutet aus, unterdrückt und plündert. Das trifft zwar zu, aber hätte er ausschließlich diese Eigenschaften, wäre er wohl nicht so langlebig und – relativ – stabil. Und er träfe auch nicht auf so viel Anklang. Im zapatistischen Weltbild allerdings gibt es auf der einen Seite die „scheiß Kapitalisten“ (98) und auf der anderen die „von unten“. Für die vielfältigen Formen der Teilhabe und Beteiligung, für die Motive des Mitmachens und Aushalten interessiert man sich wenig. Allein das Wenige, über das man an Besitz und Anerkennung verfügt, noch verlieren zu können, lässt Menschen aber am Bestehenden festhalten. Als chiapanekische Bäuerin hat man wahrscheinlich wirklich nichts zu verlieren. In vielen anderen Regionen und Milieus der Welt aber sehr wohl.

Deshalb ist auch die positive Aufladung derjenigen „von unten“ problematisch, die sich im Zapatismus findet. Es gebe „keinen Grund für Befürchtungen“, schreibt Moisés, wenn „die Bevölkerung befiehlt“ (291). Die Menschen würden schon die Änderungen einleiten, die notwendig wären. Dass sich diejenigen von unten aber auch gegen andere „von unten“ wenden und rassistisch oder antisemtisch sein können, wird theoretisch ausgeschlossen. Rechtspopulismus, aber auch bloße die Unterstützung für die jeweilige mexikanische Regierung, ist dann immer nur Effekt von Repression oder Verblendung. Widersprüchliche Eigeninteressen der Abgehängten und Entrechteten werden nicht zugelassen. Dieser Fokus allerdings ist leider kein Alleinstellungsmerkmal des Zapatismus innerhalb der Linken.

Die eventuelle Kandidatur einer EZLN/CNI-Kandidatin ist nur möglich, weil erstmals parteiunabhängige KandidatInnen zur Wahl des höchsten Staatsamtes zugelassen sind. Sie findet jedenfalls findet nur dann statt, wenn die Gemeinden zustimmen. Sie werden noch gefragt. Die Kandidatur wäre wohl eher als eine von vielen Strategien zu begreifen, die Anliegen der Bewegung wieder ins Gespräch zu bringen, denn als ernsthafter Versuch, die Staatsmacht zu ergreifen.


Jens Kastner


EZLN: Das kritische Denken angesichts der kapitalistischen Hydra. Beiträge von EZLN-Aktivist*innen zur Theorie und Praxis der zapatistischen Bewegung. Münster 2016. Unrast Verlag.


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in: translate. transversal webjournal, „On Universalism“, 06/2007, Viena.
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