in: Frankfurter Rundschau, 30. Juni 2000, S. 7.

Der Kampf um Würde
Ein Sammelband zum zapatistischen Politikverständnis

Von Jens Kastner

„Die Zapatisten ergeben sich nicht. Stop und Ende“. Die aktuelle Version von „Hauptmanns Weber“, die der Regisseurs Frank Castorf an der Berliner Volksbühne inszeniert hat, endet mit diesen Worten. In Kostüm und Sprachduktus klassischer Guerilla-Bewegungen hat der Aufstand in Chiapas mittlerweile also die deutschen Theaterbühnen betreten. Ob der Süden Mexikos dadurch das Bewußtsein metropolitaner BildungsbürgerInnen erreicht, bleibt angesichts gekünstelter Politphrasen und echter Ziegen auf deutschen Bühnen aber fraglich. Besser dazu angetan, das zu vermitteln, was am zapatistischen Politikverständnis neu oder anders ist, als das Althergebrachte, ist vielleicht doch das Medium Buch. Anspruch des vorliegenden Sammelbandes von Ulrich Brand und Ana Esther Cecena ist es, die Debatten, die in Mexiko und dort vor allem in der Zeitschrift „Chiapas“, um den Zapatismus geführt werden, für die deutsche Diskussion fruchtbar zu machen. Angesprochen ist dabei explizit die sozialwissenschaftliche scientific community.

Bestimmte Lehren, die zapatistische Politik dabei vermitteln könnte, gibt es nicht. Anne Huffschmid beschreibt in ihrem Beitrag, wie unterschiedlich der Zapatismus in Intellektuellen- und Politgruppenkreisen rezipiert wurde und wird. Aus dieser anschaulich beschriebenen Rezeptions-Vielfalt entwickelt sie die These, daß wesentliche Charakteristika zapatistischer Politik erst aus dem Austausch mit der Außenwelt entstanden seien. So sei beispielsweise das machtkritische Demokratieverständnis erst in den Debatten mit der Zivilgesellschaft einer herkömmlichen Sozialismus-Vorstellung gewichen. Zugleich habe der Zapatismus mit der neuen Begriffsbestimmung aber auch auf die wissenschaftliche Diskussion zurückgewirkt. Diese Wechselwirkung mache laut Huffschmid die eigentliche Essenz  zapatistischer Politik aus. Anstatt universelle Zukunftsentwürfe zu verkünden, werden politische Begriffe diskursiv neu bestimmt. Huffschmids Diskursanalyse gehört sicherlich zu den gewinnbringendsten Beiträgen des Buches, insofern sie die von den HerausgeberInnen erhofften Möglichkeiten, politisch und wissenschaftlich an den Zapatismus anzudocken, selbst auslotet.

Ob der Zapatismus aber tatsächlich hauptsächlich in seiner Rezeption entsteht, also durch das, was andere in der Guerilla sehen wollen und wie diese darauf reagiert, bleibt umstritten. Gewissermaßen den Gegenpol zur postmodernen Auffassung der TAZ-Korrespondentin Huffschmid stellt der neo-marxistische Ansatz John Holloways dar. Holloway, Politikprofessor in Puebla, hält am Marx´schen Entfremdungsbegriff fest. Das spezifisch Neue am Zapatismus sieht er darin, die „zu oft unterschlagene Kehrseite“ der Entfremdung zum zentralen Motiv zu machen, nämlich den Begriff der Würde. Es ist ein bekanntes Statement Ulrike Meinhofs, daß die Würde des Menschen antastbar und insofern kein essentielles, unveränderliches Gut ist. Auch Holloway versteht den Begriff als permanent umkämpften, als Kampfansage auch gegen die verordnete Passivität des Entfremdet-Seins. Der zapatistische Kampf um Würde ist deshalb nicht zufällig antistaatlich, ein Kampf gegen die Definitionsmacht und gegen das begrenzende jeder Definition selbst. Die Würde, sagt Holloway, „ist ein Angriff auf die Trennung von Moral und Politik“. Damit ist sie inhaltlich sehr in die Nähe des anarchistischen Freiheitsbegriffes gerückt. Wie dieser, droht sie jedoch wegen der definitorischen Offenheit radikal zu klingen, aber letztlich nichts mehr zu bedeuten.

Da neben Theoriedebatten auch die politisch-ökonomische Entwicklung Mexikos und empirische Fakten über Rolle us-amerikanischer Aufstandsbekämpfungsprogramme in den Band Eingang gefunden haben, ist ein ebenso systematisches wie abwechslungsreiches Panorama aktueller Positionen entstanden. Das Buch stellt den bislang einzigartigen, gelungenen Versuch dar, die akademischen Debatten, die in Mexiko über den Neozapatismus geführt werden, für hiesige Diskussionen zugänglich zu machen.  Um sie sich anzueignen, bedarf es des Theaterbesuches jedenfalls nicht.


Ulrich Brand und Ana Esther Cecena (Hg.): Reflexionen einer Rebellion. „Chiapas“ und ein anderes Politikverständnis; Münster 2000 (Verlag Westfälisches Dampfboot), 327 S., 39,80 DM.



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