in: graswurzelrevolution, Münster, Nr. 492, Oktober 2024, Libertäre Buchseiten S.8.
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Schockstarre
Jens Balzer beklagt den „moralischen Bankrott“ der queeren und postkolonialistischen Linken, gibt sie aber nicht ganz verloren


Der Schock sitzt tief. Die queere und postkolonialistische Szene hat das Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 zu einem großen Teil schulterzuckend hingenommen und nicht selten als widerständigen, dekolonialen Akt interpretiert und bejubelt. Der Kulturjournalist Jens Balzer attestiert ihnen in seinem aktuellen Essay deshalb einen „moralischen Bankrott“ (15). Er subsumiert beide Ansätze und Bewegungen unter dem Begriff woke, der in den letzten Jahren Feuilleton- und linke Debatten befeuert hat.
In diesen Debatten funktionierte „wokeness“ als Phänomen ähnlich wie vorher schon Political Correctness und Identitätspolitiken: Kaum jemand rechnet sich selbst aktiv dazu, aber die politische Front dagegen ist Lager übergreifend groß. Vor allem Konservative und Rechte nutzen die Kampfvokabel, um Ansprüche von Minderheiten, die sie zu bedrohlichen Mehrheiten stilisieren, zu diskreditieren. Aber auch von links ist die Front breit, die die woke Kritik an alltäglichen Phänomenen für Ablenkung von richtiger Politik hält, die meist mit Klassenkampf assoziiert wird. 
Ein Verdienst von Jens Balzer liegt darin, die Geschichte der Wokeness in den Äußerungen von sozialbewegten, antirassistischen Akteur*innen zu sehen, d.h. sie als solche zu rekonstruieren. Sie appellieren an „wokeness“ im Sinne einer Aufmerksamkeit für Privilegien und Machtverhältnisse, die sich im Alltag niederschlagen und ungleiche Ausgangspositionen für Praxis stiften. Damit zielen sie auf mehr Gleichheit und die Ausweitung gesellschaftlicher Teilhabe. Auch der Anarchismus mit seiner Kritik an Herrschaftsverhältnissen, die sich auch in scheinbar privaten Interaktionen niederschlagen, ließe sich als eine Quelle von wokeness ausmachen. Balzer aber konzentriert sich mehr auf antirassistische Traditionen in Pop und Black Liberation-Bewegungen. Wie schon in seinem Vorgängerbuch „Ethik der Appropriation“ (2022) argumentiert er stets sachlich und angenehm undogmatisch.

Der Schock entsteht durch den Verrat an queeren und postkolonialistischen Grundannahmen, die in den 1980er und 1990er Jahren von beiden Denkansätzen und den Cultural Studies formuliert worden waren: dass es zwar identitäre Zuschreibungen gibt, Identitäten aber weder naturgegeben noch rein sind, dass es im Hinblick auf soziale Gruppen keinerlei Essenzen, sondern nur historisch entstandene Differenzen und Ungleichheiten gibt, dass es hinsichtlich Gender und Sexualität immer schon Uneindeutigkeiten, Vermischungen, Hybriditäten gab und diese auch gegen jede Vorstellung von Homogenität und Wesensannahmen zu verteidigen sind.
Der Schock entsteht daraus, dass all dies infrage gestellt scheint, wenn der Schutz von Jüdinnen und Juden nicht als solidarisches Anliegen in Betracht gezogen wird (weil Jüdinnen als Weiße klassifiziert werden) und wenn die Hamas als „Widerstandsbewegung“ beschrieben und in eine unauflösliche Reihe mit antikolonialen Befreiungsbewegungen gestellt wird (ohne ihren patriarchalen, autoritären, jihadistischen Charakter zu thematisieren). „Denn wer sich mit einer islamofaschistischen Terrorgruppe solidarisiert“, so Balzer, „kann dadurch kaum noch irgendeinen Anspruch auf moralische Autorität oder politische Glaubwürdigkeit erheben“ (83).

Während Balzer zwar die RAF erwähnt, bleibt der Antiimperialismus insgesamt undiskutiert. Der aber wäre als kognitiver Horizont vieler Linker im 20. Jahrhundert sicherlich als Grundlage für die diagnostizierte Rückkehr dichotomischer Gesellschaftsbilder (Schwarz/ weiß, Imperium/ Volk, …) mit zu berücksichtigen, wenn Schweigen und Zustimmung vieler dekolonialer Linker zum Terror der Hamas und zum Islamismus verstanden werden sollen. Neben allen Errungenschaften bei der Analyse von globalen Abhängigkeiten und Ausbeutungsverhältnissen in sozioökonomischer und kultureller Hinsicht, durchzieht die antiimperialistischen Diskurse zuweilen eine geradezu kindliche Logik: Wenn die einen böse sind, können die anderen nur gut sein. Anders ist nicht zu erklären, warum die einflussreiche US-amerikanische Philosophin Judith Butler die Hamas immer wieder als „Widerstandsbewegung“ beschreibt und damit in die Geschichte linker, antikolonialer Befreiungsbewegungen einschreibt. 
„Der Kampf der Palästinenser*innen gegen den israelischen Staat“, schreibt Balzer auch, werde zu einem „exemplarischen, symbolisch hoch aufgeladenen Kampf eines indigenen, ‚authentischen‘, ‚unentfremdeten‘ Volkes gegen eine unauthentische, von der Natur entfremdete, kolonialistische Macht umgedeutet“ (70). Das Wort Widerstand ist in der Linken ein positiv aufgeladener Begriff, keine neutrale Bezeichnung. Butler weiß das. Wie Benennungen wirken, davon handelt ihre Sprachphilosophie.
Zu Recht beschreibt Balzer Judith Butler als „Symbolfigur des moralischen Bankrotts“ (77) der queerfeministischen und postkolonialen Linken nach dem 7. Oktober. Leute wie der dekolonialistische Theoretiker Ramón Grosfoguel, die dafür auch herhalten könnten, sind sicherlich in ihren anti-israelischen und pro-islamistischen Äußerungen noch unverhohlener, aber sie hatten vorher nie den großen Einfluss, den Butler in den letzten dreißig Jahren auf die Kultur- und Sozialtheorien ausgeübt hat. Je größer das Comittement, desto größer die Enttäuschung und eben der Schock.
Aber Balzer gibt nicht alles verloren. Anders als so manche Autor*innen aus dem antideutschen Spektrum spricht er den postkolonialen und queeren Ansätzen ihre emanzipatorischen Potenziale nicht ab. Identitäts- und woke Politik müsste „sich wieder darauf besinnen, dass sie in jedem Moment des Aktivismus, der Wissenschaft oder der Politik das Konzept und die Ideologie der Identität als solche zum Thema der kritischen Reflexion macht“ (90). Nicht zuletzt angesichts des Vormarsches der Rechten mit ihren Vorstellungen naturgegebener Geschlechterarrangements, ethnischer Reinheit usw. ist Balzer nur zuzustimmen, wenn er schreibt: „Progressive Politik muss immer eine antiessenzialistische Politik sein“ (88). 

Jens Kastner

Jens Balzer: After Woke. Matthes & Seitz, Berlin 2024, 105 Seiten, 9,99 Euro, ISBN 978-3-7518-3019-5.


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