in: Aktion 3 – Initiative Minderheiten (Hg.): Universalismus updaten. Kunst aufpolitisieren. Eine Publikation im Rahmen der Equalpartnerschaft wip, Wien, Dezember 2006, S. 4-6.


„Wie krank muss man sein…“
Provokation als Mittel oder Effekt (in Kunst und sozialen Bewegungen)
Oder: Ist die Provokation der Provos noch zu retten?

Von Jens Kastner

„Ihr künstlerisches Ziel ist die Provokation und die damit verbundene radikale Expansion der künstlerischen Mittel“, heißt es in einem neuen Buch zur Video Art über die Künstlerin VALIE EXPORT. Mit „künstlerischen Mitteln“ sind hier Techniken wie Performance, Foto oder eben Video gemeint und man wundert sich vielleicht, dass die Provokation hier im Dienste von deren Vervielfältigung stehen soll. Denn eigentlich war es in den 1960er Jahren genau umgekehrt: Die künstlerischen Techniken wurden ausgereizt, um – unter anderem – zu provozieren. Diese Provokationen fanden nicht selten statt, um damit wiederum außerkünstlerische, sprich gesellschaftliche Wirkungen zu erzielen.

Die Provokation ist damit eine Art Klassiker unter den ephemeren Brücken zwischen künstlerischer Produktion und sozialen Bewegungen. Dabei steht sie allerdings heute nicht mehr automatisch im Dienst jener Art von gleichzeitig „sozialer, sexueller und künstlerischer Globalrevolution“, die nach Pierre Bourdieu ohnehin total unwahrscheinlich ist. Sondern sie erfreut sich großer Nutzung bei rechten Feinden politischer Korrektheit.

Sie war lange Zeit im Kontext minoritärer Strategien wie jener feministischen, der auch VALIE EXPORT zuzurechnen ist, das probate Mittel schlechthin, um Unterdrückung (sexueller, geschlechtlicher, ethnischer Art) öffentlich zu machen und soziale Ungleichheit anzuprangern. In dieser Strategie trafen sich künstlerische Praktiken und jene sozialer Bewegungen. VALIE EXPORT schnitt sich den Schritt ihrer Jeans frei, zog durch ein Münchener Pornokino und posierte anschließend breitbeinig mit Maschinenpistole („Aktionshose: Genitalpanik“, 1969). Die AktivistInnen der Black Panther Party for Selfdefence zogen in den 1960er Jahren, offen Waffen tragend, durch US-amerikanische Innenstädte: Die Provokation bestand darin, die Verletzlichkeit der unterdrückten Körper sichtbar zu machen und sich selbst zu ermächtigen.

Dem voraus ging sozusagen eine normative Vereindeutigung. Aus dem lateinischen Ursprung des Wortes (provocare: hervorrufen, herausfordern) geht ja zunächst lediglich hervor, dass es sich bei einer Provokation offenbar um einen Effekt handelt. Eine Reaktion auf etwas, ob gewollt oder nicht. Und von der Pinselführung der Impressionisten angefangen, ist die moderne Kunstgeschichte dementsprechend voll von Provokationen, die eigentlich nicht gewollt oder zumindest nicht als solche intendiert waren. Erst mit den Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts wurde begonnen, diesen offensichtlichen Effekt, den Kunstwerke haben konnten, planmäßig einzusetzen. Spätestens in den 1960er Jahren dann wurde ein emphatischer, normativer Begriff von Provokation verwendet: Joseph Beuys hielt sie für den „Lebensstoff der Gesellschaft“ und eine Gruppe organisierter niederländischer Hippies benannte sich gar nach ihr: Die Provos. Die zwischen 1965 und 1967 bestehende Gruppe gab eine Zeitung heraus, ließ sich in den Amsterdamer Stadtrat wählen und organisierte die freie Fahrradnutzung in der Stadt. Weltruhm erlangte sie mit einer Rauchbombe auf die Kutsche des frisch vermählten niederländischen Königspaars (1966). Grund war die Nazi-Vergangenheit des Bräutigams und Gatten von Prinzessin Beatrix, Claus von Amsberg.

Diese und ähnliche Provokationen aus dem künstlerischen Milieu betrieben das, was der Kunsttheoretiker Holger Kube Ventura „Kunst mit politics“ genannt hat. Diese nimmt verschiedene Formen an, das Aufzeigen, Intervenieren, Experimentieren, die Verweigerung oder das „Draußen“- oder „Anderssein“ und ist gegen gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen gerichtet. Dabei befanden sich die Provokationen häufig durchaus auch in Einklang mit einer werkgeschichtlichen Fortentwicklung, die dann im Taschen Verlag so betont wird, d. h. feministische Künstlerinnen wie VALIE EXPORT oder Yoko Ono hatten großen Einfluss auf die Entwicklung der Video- und Performance-Kunst.

Kunst wurde dabei allerdings, noch immer nicht ganz abgelöst vom romantisierenden Künstlerbild der klassischen Moderne, mit Dissidenz identifiziert. Eine Selbstverständlichkeit, die heute nicht mehr existiert – falls sie überhaupt je mehr war als ein wohl gehegter (weil nützlicher und distinktionsspendender) Mythos. Wäre der Begriff nicht für die Intellektuellen im damaligen Ostblock reserviert gewesen, hätte Michel Foucault mit „Dissidenz“ jene „Verhaltensrevolten“ benannt, die es zu allen Zeiten gegen gouvernementale, auf die Selbstführung ausgerichteten Herrschaftsstrukturen gab. Schließlich nannte er sie schlicht „Gegen-Verhalten“. Gerade vor dem Hintergrund von Foucaults Zeitdiagnose aber ist es fast unmöglich zu bestimmen, gegen wen oder was sich ein Verhalten noch richten soll in einer Gesellschaft, in der die Kontrolle aus den Wachtürmen und Schaltzentralen hauptsächlich ins Innere der Subjekte verlegt worden ist. Aber selbst vorausgesetzt, man findet doch noch Milieus und Interessen, die diese Verlegung der Kontrolle durchgesetzt haben. Problematisch ist die Dissidenz, die als Grundlage der Provokation dient, dennoch.
Zum einen ist sie extrem kontextabhängig und als Negation eines Konsenses auch nicht per se „gut“ oder emanzipatorisch. Für das Gegen im Verhalten stand wohl keine Bewegung so sehr wie Punk. Schon das Hakenkreuz T-Shirt von Sex Pistols-Bassist Sid Vicious, ein schlechter Modegag, noch als dissidenter Akt gegen den anti-deutschen Konsens des britischen Establishments und zusätzlich gegen die Hippie-VorgängerInnen gerichtet, weist nicht nur auf die Relativität der Provokation hin. Sondern auch auf ihre Ambivalenz. Dass Spießer, Beamte, Reiche, das Bürgerliche schlechthin zum Establishment gehörten, schien klar. Dass man aber neun Jahre nach 68 auch schon Hippies dazu zählen konnte, stellte auch diese Selbstverständlichkeit in Frage. Hier wurde deutlich, was sich knapp zwanzig Jahre später die Rechte sehr zu Nutze machte: Dass die Provokation als Strategie selbst erst diejenigen bezeichnet und als Gruppe mit herstellt, die sie herausfordern will. Sie ist selbst konstituierender Bestandteil des Spiels von Minderheit gegen Mehrheit.

Das erkannten auch Leute, die entweder mit Provokationen Sachen verkaufen wollten (wie, laut Kunsthistoriker Walter Grasskamp, auch schon die historischen Avantgarden ihre Werke), oder solche, die sich die Provokationsstrategie zur Durchsetzung politischer Ziele aneigneten: Zur ersten Gruppe zählen weite Segmente der Musikindustrie, die sich als Minorität aufführen, um den Marktwert ihrer Produkte zu steigern. Dieser „Mainstream der Minderheiten“, wie Tom Holert und Mark Terkessidis ihn genannt haben, funktioniert letztlich auch im Hinblick auf die zweite, die politkulturelle Ebene. Hier formieren sich rechte „Kulturkrieger“ (Diedrich Diederichsen) bewusst als Minderheit, um die Dringlichkeit ihrer Anliegen zu vermitteln. Sie beanspruchen das gleiche Recht auf Aufmerksamkeit, das exkludierte Minderheiten und andere strukturell Benachteiligte sich mühsam erkämpft haben: Der Schauspieler und Waffenfan Charlton Heston behauptete vor ein paar Jahren, die Mitglieder der National Rifle Association (NRA) würden in den USA verfolgt wie die Juden in Deutschland der 1930er Jahre, der Medienwissenschaftler Norbert Bolz sieht in seinem aktuellen Buch („Die Helden der Familie“) die Familie von „feministischen Karrierefetischisten“ bedroht, und auch rassistische Diskurse wie die Wahlkampfhetze des BZÖ bedienen sich der Perspektive einer „zukünftigen Minderheit“ („wenn nicht bald etwas passiert…“). Immer wird das Bild einer hegemonialen Situation geschaffen, in der bestimmte Leute in Macht- und Mehrheitspositionen sind (Waffenfeinde, Feministinnen, AusländerInnen), die sie objektiv nicht innehaben. Und gegen diese wird dann als Tabubruch und Provokation aufgefahren, was eigentlich ohnehin schon konsensfähig ist (Freiheit für Waffenbesitzer, Familienwerte stärken, AusländerInnenanteil begrenzen).

„Gegen-Verhalten“ im Sinne Foucaults ist das ganz sicher nicht. Aber ist die Provokation der Provos noch zu retten? Trotz Marktförmigkeit und rechter Agitation, in die das Mittel der Provokation verstrickt ist, muss künstlerische Produktion und/oder sozialbewegte Aktion nicht unbedingt darauf verzichten. Ansetzen müsste sie gerade an der Analyse der Provokation als Effekt. Entscheidend an dieser ist ja vor allem, wer sich durch was wann wo und wie provoziert fühlt. Daran anzuknüpfen hieße, die reaktionären Reaktionen auf egal was weiter anzugreifen. Und zwar auf der Grundlage situativer, relationaler, nicht essenzieller Dissidenz.
Es ist zwar nicht mehr selbstverständlich, dass man sich mit einer bestimmten Hautfarbe oder auch nur Haarlänge an bestimmten Orten in Lebensgefahr bringt, aber es kommt vor. Oder dass zwei sich küssende Frauen in einem Wiener Kaffeehaus als Provokation empfunden und deshalb hinausgeworfen werden, dass eine Arbeit der Künstlerin Katrina Daschner, die vor der Städtischen Kunsthalle München steht und auf der auch Dildos zu sehen sind, als Provokation empfunden und zerstört wird oder dass die am MigrationsAktionstag im Oktober 2006 von verschiedenen Gruppen erhobene Forderung „Bleiberecht für alle!“ im Internetforum der linksliberalen Tageszeitung Der Standard Kommentare provoziert, dass man sich die in der Kronenzeitung gar nicht ausmalen möchte: „Wie krank muss man sein, um ein `Bleiberecht´ zu fordern?“ heißt es da, und ein anderer Standard-Leser meint, er sei auch für ein Bleiberecht, wenn „die ganze Schar der Asylanten dann ausschließlich bei diesen Aktionisten“ einziehen würde. Dann werde man ja sehen.

Was man daran sehen kann, ist u. a., bis in welche Milieus rassistische und sexistische Positionen noch hineinreichen und von welcher Position aus – dementsprechend „draußen“, „dissident“ oder eben „krank“ – sich also strategische Provokationen wieder ansetzen lassen. In der österreichischen Provinz eine schwarze Frau zur Bürgermeisterin kandidieren zu lassen, im besagten Kaffeehaus nur noch Lesbenfrühstücke in großen Gruppen zu veranstalten, auf allen Münchener Museen das zerstörte Plakat anzubringen oder eben die Bleiberechtsforderung den privilegierten Arschgesichtern ständig um die Ohren zu hauen, wären dann eben doch noch Provokationen im antihegemonialen, emanzipatorischen Sinne. Und Rauchbomben in Internetforen werfen wäre doch mal eine Kunst.



In leicht veränderter Fassung ebenfalls erschienen in:
ak – analyse & kritik, Nr. 511, Hamburg, 17.11.2006, S. 28.


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