in: WOZ. Die Wochenzeitung, Zürich, Nr.46, 11.November 2004, S.21.

Hypertext und Hundigkeit
Peter Weibel. Die Neue Galerie Graz zeigt das Frühwerk des Aktionskünstlers, Medientheoretikers und Museumsdirektors.

Von Jens Kastner

Ende der 1960er Jahre führte die Künstlerin VALIE EXPORT einen Kollegen an der Leine durch die Wiener Innenstadt. Der auf allen Vieren kriechende Aktionskünstler hieß Peter Weibel und die Performance ist laut Generali Foundation, in deren Besitz sich die dazugehörige Fotodokumentation befindet, „eines der zentralen Werke der österreichischen Kunstgeschichte“. Das Schaffen und Wirken Weibels allerdings beschränkt sich kaum allein auf Österreich. Zwar war das Wien der späten 1960er Jahre dem in Odessa (Ukraine) geborenen Künstler Kontext und Kulisse, viehische Haltungen aller Art bloßzustellen und vorzuführen. Als der Wiener Aktionismus seine besten Jahre bereits hinter sich hatte, fing die Karriere Weibels allerdings erst an. Dem Einsatz des eigenen Körpers folgte schon 1969 erstmals ein Videorecorder. Die Medien der Kritik, ob hard- oder wetware, waren dem Impulsgeber der österreichischen Konzeptkunst immer auch Kritik der Medien.
„Mit der Wirklichkeit aufzuräumen“ hatte er sich 1969 vorgenommen, und „mit der Sprache, die sie kommuniziert und konstruiert“. Die Lehren des Poststrukturalismus mit der politischen Ernsthaftigkeit der 60er verbindend, mangelte es den Arbeiten Weibels nie an Didaktik bis zum Zeigestock: „Abbildung“, so viel war damals klar, „ist ein Verbrechen“ (Weibel). Unklar wurde hingegen, wer oder was die Botschaften noch transportieren sollte, wenn nicht einmal mehr auf das Medium Verlass war.
Um Probleme dieser Art zu lösen, schien die künstlerische Existenz nicht auszureichen. Mitte der 1970er Jahre trat Weibel erstmals als Kurator in Erscheinung, inzwischen listet das Wiener Kunstarchiv „Basis“ unter seinem Namen 121 Ausstellungen und Projekte („davon 80,17% in Österreich und 19,83 % im Ausland“). Der studierte Mathematiker, Mediziner und Philosoph kann daher als eine Art Prototyp betrachtet werden. Der umtriebige Kunstmanager war einer der ersten, die das künstlerische Schaffen programmatisch mit der Theorieproduktion und das Ausstellungsmachen mit der Entwicklung der dazu gehörigen Medien betrieb. Wegen seines permanenten Crossovers zwischen Fachrichtungen und Funktionen hat der Kunsthistoriker Hans Ulrich Obrist ihn daher als „reziproken Wilderer“ bezeichnet. Dabei mag seine Jagd wohl rastlos sein, illegal ist sie mittlerweile nicht mehr und willkürlich sowieso nie. So lassen sich inhaltliche Bezüge zwischen frühen künstlerischen und späten theoretischen Arbeiten durchaus herstellen.
In der Installation „Beobachtung der Beobachtung“ (1973) sind drei Bildschirme und drei Kameras sich so gegenüber und um den gefilmten Betrachter herum gestellt, dass dieser sich nie von vorne sehen kann. Die Manipulation der Wahrnehmung und die Implikationen der Beobachtung beschäftigen ihn bis heute. Als Leiter des 1997 gegründeten Zentrums für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe veranstaltete Weibel ein Symposium zum Kinokassenschlager „Matrix“. Dieser Film könne uns zeigen, dass der Mensch als interner Beobachter einer Subwelt über Schnittstellen zu anderen Beobachtungsstandpunkten verfüge wie die Matrix-Leute über das Telefon. Grundlage dafür ist natürlich eine grundlegende Verschiebung des Raum-Zeit-Verhältnisses: Die „Techno-Transformation“, eine der zentralen Vokabeln aus dem Weibel´schen Theorierepertoire.

Seit fünf Jahren ist Weibel Chef des ZKM und nicht nur dort als Initiator, Katalysator und Anreger von Debatten aktiv. Durch Wien, wo er als Professor für visuelle Mediengestaltung seit zwanzig Jahren einen seiner Arbeitsplätze hat, bewegt er sich mittlerweile häufiger mit Chauffeur als auf Knien. Und als langjähriger Leiter der Ars Electronica in Linz hat er ebenso seine Diskursmarker gesetzt wie als Macher großer Ausstellungen. Nicht immer allerdings sind Zusammenhänge dabei so eindeutig herausgearbeitet worden wie in seinen frühen Performances und „Tele-Aktionen“. Die Neigung zum Großspurigen hat ihm gerade bei den großen Schauen wie der zum Postkolonialismus (1997) oder jener zu Kunst und Krieg (2003) die Kritik eingetragen, zu summarisch vorzugehen. Wirkte die Einführung postkolonialer Diskurse in die deutschsprachige Kunstwelt fünf Jahre vor der von diesen dominierten Documenta 11 immerhin noch innovativ, geriet die groß angelegte Ausstellung „M_ARS“ für die europäische Kulturhauptstadt Graz mit ihrer unüberschaubaren Werkfülle doch eher beliebig.
Repräsentationsprobleme sind aber mittlerweile keine moralischen oder juristischen mehr, wie noch zu Zeiten der Revolte. „Wir leben in einer Epoche“, schreibt Weibel 1994, „in der die Codierung als neues Gestaltungsmittel auftaucht“. Haben Hypertext und Simulacrum mit materiellen Wirklichkeiten gleichgezogen, macht sich auch mit Abbildungen aller Art niemand mehr zum Verbrecher. Dass sich die Konzeptkunst neben der Kritik an der Objekthaftigkeit des Werkes auch in Abgrenzung zum Ideal des Künstlergenies entwickelte, ist angesichts ihrer heute oft recht schillernden Vertreterpersönlichkeiten leicht vergessen. Dass eben auch die künstlerischen Anfänge des Medienmenschen Weibel in den subjekt- und sprachkritischen Konzepten der 60er Jahre zu suchen sind, daran erinnert eine aktuelle Ausstellung. In der Neuen Galerie am Landesmuseum Johanneum in Graz, dessen künstlerischer Leiter Weibel von 1993 bis 1999 war, wird erstmals das Frühwerk des ehemaligen Aktionskünstlers gewürdigt.
Am Ende ist der 60jährige mit dieser Rückschau allerdings noch lange nicht. In der Liste noch nicht verwirklichter Projekte steht eines ganz oben: Einen Film wolle er machen, sagt Weibel im Interview mit Obrist, „über die Folgen der Privatisierung von Gefängnissen“. Darin würden dann Gefangene nach Wert taxiert und von der Anstalt gehandelt wie Fußballer vom Verein.  Für die Wertsteigerung wäre dann jeder auch selbst verantwortlich, von den Umständen zum attraktivsten Verbrechen getrieben. Der Mensch auf Knien vor seiner Umgebung: Nur insofern wären die Bilder dieser Transaktionen dann sicher auch etwas für die „Mappe der Hundigkeit“, in der die eingangs erwähnte Dokumentationsfotos liegen.