in: Springerin. Hefte für Gegenwartskunst, Wien, Band X, Heft 4/04, S. 70-71.

Grupo Suma – »Suma Gráfica«.

Instituto de Artes Gráficas de Oaxaca, Mexiko, 27.8.2004 - 2.10.2004

Jens Kastner

Oaxaca. Wandmalerei hat in Mexiko Tradition, und zwar eine revolutionäre. Die Errungenschaften der mexikanischen Revolution (1910-1920) sowie die Geschichte der ArbeiterInnen- und anderer sozialer Bewegungen finden sich an vielen offiziellen Orten des Landes. Zehntausende TouristInnen bewundern alljährlich die Fresken Diego Riveras, die den Nationalpalast in Mexiko-Stadt mit landeskundlichen Historienbildern schmücken. Wie Rivera gehörten auch andere berühmte MalerInnen der »murales« genannten Bilder an öffentlichen Wänden der kommunistischen Bewegung an und fühlten sich den verschiedenen Strömungen der Revolution verpflichtet. Knapp zwanzig Jahre nach Riveras Tod im Jahr 1957 aber war die mexikanische Realität alles andere als revolutionär, die Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) hatte nicht nur die Geschichte monopolisiert, sondern auch ihr Gewaltmonopol gegen protestierende Studierende zur Anwendung gebracht. Die Toten vom 2. Oktober 1968 und 10. Juni 1971 sowie Hunderte Verschwundene im »schmutzigen Krieg« sind der Hintergrund, vor dem sich im Mexiko der siebziger Jahre nicht nur soziale Bewegungen, sondern auch künstlerische Positionen entwickelt haben.
Wände im öffentlichen Raum dienten auch der 1976 an der Nationalen Schule für Plastische Kunst (ENAP) gegründeten Grupo Suma als Projektionsfläche. Das Institut für Grafische Künste in Oaxaca (IAGO) würdigt jetzt die größtenteils ephemeren Arbeiten der Gruppe, die sich 1982 auflöste. Wie viele andere in den siebziger Jahren in Mexiko tätigen KünstlerInnengruppen versuchten die Mitglieder von Suma qua Kollektivität die Idee vom Künstlergenie auszuhebeln. Die Arbeit an Bauzäunen, Stadionfassaden oder Straßenecken war zudem der Versuch, die Kunst durch den öffentlich vollzogenen Schaffensprozess von ihrer Objekthaftigkeit zu befreien und sich selbst zugleich direkt mit dem Publikum zu konfrontieren.
Die Schattenmänner mit den Aktenkoffern gehören ebenso zu den vielfach zitierten Graffitis der Gruppe wie das großformatige Sprühen von Einzelporträts. Im Gegensatz zu auch heute noch gerne verwendeten Motiven, die ihrer Technik in Schablonenhaftigkeit in nichts nachstehen, waren es bei Suma aber weder Emiliano Zapata noch Che Guevara, die in schwarzrot an die Mauern gebracht wurden, sondern beispielsweise das Gesicht einer anonymen verschwundenen Politaktivistin. Im Gegensatz zur Staatskunst der großen Muralisten Rivera, José Clemente Orozco und David Álfaro Siqueiros verzichteten die Suma-Mitglieder nicht nur auf den didaktischen Volksbildungsimpetus, sondern entwickelten hier bereits repräsentationskritische Formen der politischen Ikonografie. Die hauptsächlich aus GrafikerInnen, MalerInnen und ZeichnerInnen bestehende Gruppe – im Laufe der Jahre gehörten ihr 17 Männer und fünf Frauen an – war eben kein politischer Kampfverband. Zwar reagierten die KunstaktivistInnen auf die repressiven Verhältnisse und engagierten sich auch über die Staatsgrenzen hinweg für ein freies, sandinistisches Nikaragua. Gesucht wurde aber vor allem nach ästhetischen, nicht sozialen Ausdrucksformen und Problemlösungen.
Lange vor dem Urbanistik-Hype stand dabei die Frage nach einer »Ästhetik der Stadt« im Zentrum des künstlerischen Interesses. Unumstrittener Fundus war und blieb dabei die Hauptstadt, mit ihren 7,5 Millionen EinwohnerInnen 1970 gerade knapp ein Drittel so groß wie heute. Wie in der Konfrontation mit dem Publikum wählte die Gruppe auch in dieser Auseinandersetzung einen interaktiven Weg, ein Geben und Nehmen sozusagen: Gab die Gruppe einerseits mit ihren Wandgemälden und Sprühereien den städtischen Flächen Farbe und Bedeutung, entnahm sie ihren Straßen und Ecken die Materialien, die sie wiederum zu neuen Motiven oder gleich zu Künstlerbüchern verarbeitete.
Die aufgehobenen und zusammengeklebten Schnipsel präsentiert die Ausstellung in Vitrinen, und auch die bedruckten Zeitungen sind hinter Glas gehängt – konservatorische Leistungen, die zum anti-institutionellen Inhalt so vieler Siebzigerjahre-Kunst zumindest in einem gewissen Spannungsverhältnis stehen. Die durch ihre Aufdrucke und Überzeichnungen zur Kunst geadelten Zeitungsseiten und Papiertüten für Süßigkeiten haben so auch ihren Weg aus dem Alltag zurück in das Museum gefunden. Nichts sei so gewöhnlich, schreibt die Kunstkritikerin Elizabeth Romero Betancourt in ihrem in der Kunstzeitschrift »Cuartoscuro« veröffentlichten Aufsatz über die Grupo Suma, wie Zeitungspapier. Und nichts so wertvoll in einem Land, in dem der Staat die Lieferungen dieses Papiers kontrolliert. Wenn schon nicht das ganze Ausmaß der »perfekten Diktatur« im damaligen Mexiko, so ist doch auf die beschriebene Weise nachvollziehbar, in welchem Verhältnis künstlerische Techniken und Gruppenstrukturen zueinander stehen. So ging beispielsweise mit dem Aufkommen der Fotokopie einerseits eine Vervielfältigung der Mittel einher, andererseits aber wandelte sich auch die Arbeit der Gruppe. Die Mittel bestimmen insofern immer auch die Produktionsbedingungen und verändern sie: Während Kopien von Zeitungsbildern an Wände gekleistert wurden und die Gemälde ergänzten oder ersetzten, vollzog sich auch innerhalb der Gruppe ein Prozess vom gemeinsamen, kollektiven Bemalen des öffentlichen Raumes – in Mexiko eher als »plastische Aktion« (acción plástica) zu kategorisieren denn als Happening oder Performance – hin zur individuellen Interpretation des Städtischen.



Nach mehreren Stationen in Mexiko kommt die Ausstellung auch in die Stadt, in der die Gruppe erstmals internationale Aufmerksamkeit genießen konnte: Als eine von vier KünstlerInnengruppen vertrat die Grupo Suma Mexiko auf der X. Biennale der Jugend 1977 in Paris.