in: Listen. Rezensionszeitschrift, Nr. 65, Frankfurt a. M., 2002, S. 30-31.

Kämpfendes Subjekt
Die Lebensgeschichte des Antikolonialisten Frantz Fanon

Von Jens Kastner

Er mochte Leute nicht, die mit ihren Kräften haushalten. Als Sartre nach einer langen Diskussion um zwei Uhr nachts ins Bett gehen will, protestierte Fanon, den schon die permanente Anwesenheit Simon de Beauvoirs genervt hat, weil auch sie in seinen Augen zu den Menschen gehörte, die mit ihren Kräften haushalten. Fanon haushaltete nicht und starb mit 36 an Leukämie. Eine solche Schlußfolgerung ist natürlich heikel, mindestens genauso fraglich wie die Anekdote als biographisches Merkmal auszuweisen.
Frantz Fanon hielt sein eigenes Leben für nebensächlich. Wir seien nichts, schreibt er kurz vor seinem Tod in anachronismusverdächtigem Pathos an einen Freund, „wenn wir nicht zuallererst Sklaven einer Sache sind, der Sache der Völker, der Sache der Gerechtigkeit und der Freiheit“. Alice Cherki hat dennoch eine Lebensgeschichte geschrieben, und natürlich ist es die Story einer schillernden Persönlichkeit geworden. Das Schillern und den Glanz bettet sie jedoch gekonnt in die sozialen Situationen ein, in denen der Protagonist agiert. In Sachen Freiheit und Gerechtigkeit zieht der aus Martinique stammende Fanon schon in den Zweiten Weltkrieg gegen Nazi-Deutschland, praktiziert ab 1953 als Psychiater die humanistische Sozialtherapie in Algerien, wo er sich dann später dem antikolonialen Befreiungskampf anschließt. Sein psychiatrisches Engagement läßt sich schon früh von seinem politischen nicht trennen und nebenbei diktiert er einer Bekannten abends noch (aus dem Kopf) die nächsten Seiten seines neuen Buches. In der Tat bekommen wir hier einen aktivistischen Maniac vorgeführt, der nur drei Stunden pro Nacht schläft und dessen Frau und Kinder nur wenige Erwähnungen wert zu sein scheinen. Es muß also zwischen den Zeilen gelesen werden, um dem von Cherki gezeichneten Porträt ein wenig Inkohärenz abzutrotzen. Und dabei läßt sich mehr als ein durchaus aufschlußreiches Schwanken feststellen: zwischen der Orientierung an den Intellektuellen des sogenannten „Mutterlandes“ Frankreich und der Konzentration auf die nationale Befreiung Algeriens, zwischen dem politischen und dem militärischen Flügel der Befreiungsbewegung FLN und einem Engagement für die Afrikanische Einheit bei gleichzeitiger Enttäuschung über die sich bereits abzeichnenden Irrwege der postkolonialen Eliten.

Indem sie sich detailliert der Vita des Politaktivisten widmet, schlägt sie immerhin einen Weg der Annäherung an Fanon ein, der quer liegt zu den Rezeptionen seines theoretischen Werkes. So wie es Fanon bereits mit seinem ersten Buch Schwarze Haut, Weiße Masken um die Auswirkungen kollektiver Situationen auf die Dispositionen und Handlungen einzelner geht, stellt Cherki die Entwicklung seines eigenen theoretischen Schaffens in einen radikal erfahrungsgeschichtlichen Kontext. Wenn Fanon sich beispielsweise gegen einen starren Kulturbegriff wendet, aus dem Mentalitäten und Verhaltensweisen abgeleitet werden, spricht bereits der – wie es heute heißen würde – hybride Intellektuelle, der erlebt hat, daß eine ursprüngliche, traditionelle Kultur dank Jahrhunderte währender Kolonialgewalt nicht existiert. Auch Cherkis Interpretation von Fanons Hauptwerk Die Verdammten dieser Erde als ein „Warnruf“ vor einer korrupten bürgerlichen Elite und der von den Kolonisatoren übernommenen Ethnifizierung von Kultur gründet auf ihrem erfahrungsbetonten Ansatz. Denn bislang wurde dieses einzige auf deutsch erhältliche Buch Fanons eher als sozio-ökonomische Studie oder zumindest doch als politische Abhandlung gelesen (so zuletzt auch in der Arbeit von Udo Wolter, Das obskure Subjekt der Begierde, Münster 2001). Das zum Bewußtsein über seine Situation und das Leiden der anderen gekommene und deshalb kämpfende Subjekt ist also zentrales Thema – bei Fanon wie bei seiner ehemaligen Mitarbeiterin Alice Cherki.

Obwohl es Cherkis ausgesprochenes Anliegen ist, den 1961 gestorbenen Fanon als „Kind der heutigen Zeit“ darzustellen, werden die heftigen Diskussionen nicht aufgegriffen, die spätestens seit Homi Bhabhas Aufsatz „Remembering Fanon“ (1986) zwischen PoststrukturalistInnen auf der einen und MarxistInnen auf der anderen Seite u.a. um das Subjekt bei Fanon („dezentriert“ vs. „revolutionär“) geführt werden. Wie auch Lothar Baier im Vorwort zur deutschen Ausgabe betont Cherki stets die Notwendigkeit, Fanon gegen allerlei üble Nachrede verteidigen zu müssen. Dabei wird sicherlich verkannt, daß Fanon seit einigen Jahren wieder etablierter Bezugspunkt vieler KulturwissenschaftlerInnen ist, bis hin zu Fanon-Studies als Spezialabteilung der Cultural Studies. (Andererseits: fragen sie mal an ihrem Institut, wer Frantz Fanon ist. Und sofort wird Cherki zu einer wichtigen Informationsquelle).
Um sich aber so interessanten Fragen annähern zu können, ob Fanon ein Verherrlicher der Gewalt war, wie Hannah Arendt meinte, oder vielleicht doch der legitime Vorfahre einer boomenden Unidisziplin wie der Cultural Studies, müßte noch einmal eingetaucht werden in die Theorie. Am Thema Gewalt wird dieses Defizit vielleicht besonders deutlich. Cherkis herumlavieren um diesen zentralen Topos in Fanons Werk gipfelt in dem unbegründeten und letztlich ziemlich dummen Satz, die Gewalt, die Menschen ausschließe, rufe „die Gewalt zur Eroberung der Macht hervor“. Jeder unorganisierte Vorstadt-Riot, aber auch geplanter gewaltfreier Protest und selbst die zapatistische Guerilla im Süden Mexikos beweisen das Gegenteil. Der Wille zur Herrschaft ist eben kein Reflex auf Marginalisierung. Und weil das so offensichtlich ist, hängt letztlich doch von der Theorie die Antwort auf die Frage ab, was uns Fanon heute überhaupt noch sagen soll. Aber Cherkis Anspruch ist eben keine wissenschaftliche Auseinandersetzung, sondern, wie sie selbst schreibt, ein „distanzierter Augenzeugenbericht“. Und der ist allemal sehr plastisch, gut lesbar und die Person und ihre Zeit nahebringend gelungen.


Alice Cherki: Frantz Fanon. Ein Porträt, Hamburg 2002, Edition Nautilus, 349 S., 24,80 Euro, ISBN 3-89401-388-5.

Mehr zum Thema:

Der indische Anti-Fanon
Ashis Nandy über Gandhi als postkolonialen Theoretiker
in: ak – analyse & kritik, Nr. 527, Hamburg, 18.04.2008, S. 28. [Opens internal link in current windowArtikel lesen]

Postkoloniale Kritik an Deutschland
Theorie und Analysen einer bislang kaum beachteten Denkrichtung in einem Sammelband
in: Graswurzelrevolution, Nr.288, Münster, April 2004, S.17. [Opens internal link in current windowArtikel lesen]