Stephan Grigat
in: Illustrierte Neue Welt, Wien, Dezember 2008/Jänner 2009

68 global


Schon oft wurde gefordert, die Besonderheiten des Jahres 1968 nicht nur an den Ereignissen in Berlin und Berkeley, in Prag und Paris festzumachen, sondern einen globalgeschichtlichen Blick auf die Protest- und Widerstandsgeschichte der 1960er und 1970er Jahre zu werfen. Zwei Sammelbände versuchen diesem Anspruch gerecht zu werden. Der vom Soziologen Jens Kastner und dem Historiker David Mayer herausgegebene Band "Weltwende 1968?" spannt den Bogen von der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung und der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung über die Proteste der jugoslawischen Studierenden und dem spanischen Widerstand gegen die Franco-Diktatur bis zum Mai 68 im Senegal. Die Historikerin Angelika Ebbinghaus hat eine Sammlung von "Schlüsseltexten der globalen Revolte" zusammengestellt, die neben zentralen Texten der europäischen Linken einen Schwerpunkt auf Dokumente des antikolonialen Kampfes in Afrika, Asien und Lateinamerika legt.

Beide Bücher entledigen sich der Fixierung auf das Jahr 1968, die für zahlreiche andere Publikationen zum diesjährigen 40. Jubiläum charakteristisch war, und rücken das politische Aufbegehren von der kubanischen Revolution 1959 bis zum Sturz der frei gewählten sozialistischen Regierung unter Salvador Allende in Chile 1973 ins Blickfeld. Sie entreißen Ereignisse dem Vergessen, die selbst bei einer politisch interessierten Öffentlichkeit in Europa schon lange nicht mehr präsent sind. Die Protestbewegung gegen die Ne-Win-Diktatur in Burma, der Aufstand von Karatschi 1972, der Kampf gegen die Militärdiktatur in Thailand oder der Aufstand der Arbeiter im argentinischen Córdoba sind hier ebenso zu erwähnen wie die theoretischen Innovationen beispielsweise der jugoslawischen Dissidenten. Bereits Ende der 60er Jahre formulierte die Redaktion der Belgrader Zeitschrift Praxis, um die sich die intellektuelle Opposition versammelte, hellsichtige Warnungen vor nationalistischen Tendenzen, die "in letzter Konsequenz auch den Fortbestand Jugoslawiens" gefährden könnten. Zugleich versuchten sie ein Marx-Verständnis zu befördern, das entgegen des staatsoffiziellen Kollektivismus sowohl die Rechte als auch die Potentiale des Individuums unterstrich.

Beide Publikationen rufen in Erinnerung, mit welch brachialer Gewalt den Emanzipationsbestrebungen in den 1960er Jahren weltweit begegnet wurde, seien es die hunderttausenden ermordeten Kommunisten in Indonesien, die Repressionswellen in Italien oder das Massaker an mehreren hundert Studenten in Mexiko kurz vor Beginn der Olympischen Spiele 1968. Aber auch die militärische Niederschlagung des Streiks der Hafenarbeiter von Shanghai 1967 und der Schusswaffeneinsatz gegen Demonstrationen in der Sowjetunion finden jene Beachtung, die ihnen in den maoistischen und stalinistischen Gruppen und Grüppchen in den 1970er Jahren verwehrt wurde.

Bemerkenswert ist, dass die Diskussionen über die regressiven Momente des Antikolonialismus, auf die Autoren wie Theodor W. Adorno und insbesondere Max Horkheimer schon in den 50er und 60er Jahren verwiesen haben, oder die Debatten über Antisemitismus in linken Bewegungen, die in den letzten 20 Jahren auch und gerade in der Linken selbst geführt wurden, in den Beiträgen und Textkommentierungen kaum Niederschlag gefunden haben. Bei einem Verlag wie Promedia, der ansonsten Pamphlete des Antiamerikanismus oder Manifeste wie Israel Shamirs "Blumen aus Galiläa" verbreitet, dessen französische Ausgabe von der Justiz wegen Antisemitismus verboten wurde, braucht das nicht weiter zu verwundern. Bei den Autoren von "Weltwende 1968?", die mehrheitlich einer undogmatischen, sich selbst für aufgeklärt haltenden Linken zuzurechnen sind, allerdings schon. Notwendig wäre die Einbeziehung dieser Debatten schon deshalb, um zwischen den unterschiedlichen Ausprägungen des Antikolonialismus und seiner jeweiligen Unterstützer in der westlichen Linken zu differenzieren. Während die einen sich positiv auf die amerikanische Unabhängigkeitserklärung bezogen haben und stets versuchten, aus der Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der westlichen Zivilisation ihre Kritik zu entwickeln, haben sich andere von vornherein einem antiwestlichen Furor verschrieben, der mal im maostalinistischen Jargon, mal in antizionistischen Hasstiraden wie beispielsweise in der ägyptischen 68er-Bewegung seinen adäquaten Ausdruck fand.


Jens Kastner/David Mayer (Hg.): Weltwende 1968? Ein Jahr aus globalgeschichtlicher Perspektive. Mandelbaum, Wien 2008, 208 Seiten, 17,80 Euro.
Angelika Ebbinghaus (Hg.): Die 68er. Schlüsseltexte der globalen Revolte. Promedia, Wien 2008, 224 Seiten, 12,90 Euro. Weitere Besprechungen zu "Weltwende 1968?":

Rezension von Gert Eisenbürger in [ILA lesen]

Rezension von Torsten Bewernitz in Semesterspiegel [lesen]

Rezension von Martin Büsser in junge Welt [lesen]

Rezension von Felix Wiegand in [Perspektiven. Magazin für Linke Theorie und Praxis lesen]