Thomas Wagner
in: Wespennest. Zeitschrift für brauchbare Texte und Bilder, Wien, Nr. 150, März 2008, S. 98.

Subversives Ballspiel
Max Hinderer/Jens Kastner: Pok ta Pok. Aneignung, Macht, Kunst. Wien: Turia+Kant 2007

Viele kluge Köpfe haben sich um die politischen Implikationen des Spiels Gedanken gemacht. Die einen sehen im Kinderspiel eine fröhlich-anarchische Umsturzbewegung aller bestehenden Normen, an die sich dann die kreative Neuschöpfung von Regeln anschließen kann. Andere ziehen das Beispiel des Kinderspiels heran, um ihre These von der angeblichen Universalität von Herrschaft zu belegen: Schon hier gebe es Gewinner und Verlierer, würden temporäre Herrschaftspositionen verteilt, Starke und Schwache voneinander geschieden. Weil schon die Kinder spielerisch sich unterordneten, ist in dieser Perspektive hierarchischer Zwang gleichsam eine Naturtatsache.
Mit umgekehrten politischen Vorzeichen wurde die universale Verbreitung des Spiels dann wieder als Beleg für ein allen Menschen eigenes Gleichheitsbewusstsein genommen. So zeichnen sich Wettspiele im Allgemeinen dadurch aus, dass für alle Teilnehmer gleiche Startbedingungen geschaffen werden.
Wohl unbestritten ist, dass Spiele durch ihre Regelhaftigkeit und Wiederholbarkeit den Ritualen ähneln. Sie helfen, das Soziale zu ordnen und zu stabilisieren. Die Spielforschung brachte strategische Spiele mit einer Sozialisation zum Gehorsam in Verbindung. Die strukturkonservative Funktion des Spiels betrifft aber nicht nur Ordnungen der Ungleichheit, wie sie für Klassengesellschaften typisch sind. Die Ethnologie berichtet in zahlreichen Varianten von Spielen ohne Sieger, die die angestrebte Balance einer Gesellschaft der Gleichen symbolisieren und kooperative Verhaltensformen einzuüben helfen. Durch Glücksspiele und Wetten wird individuell angehäufter Reichtum immer wieder gemeinschaftsverträglich umverteilt. Wo konkurrenzorientierte Spiele existieren, werden Vorkehrungen getroffen, dass die Sieger sich nicht dauerhaft über ihre Genossen erheben. Das präkolumbianische Ballspiel der Maya und Azteken in Mesoamerika wird demgegenüber seit den Tagen der spanischen Eroberer mit einer besonders abscheulichen Ausdrucksform der Herrschaft von Menschen über Menschen in Verbindung gebracht: dem öffentlich zelebrierten Menschenopfer.
Der Sammelband Pok ta Pok dokumentiert in Bildern und Texten den Versuch einer ebenso politischen wie künstlerischen Aneignung des indigenen Spiels und seines Mythenkontextes. Der Altamerikanist Peter Hassler, einer von insgesamt sieben Autoren, zeigt, dass blutige Schlachtrituale im Zusammenhang mit dem Ballspiel der indigenen Hochkulturen aufgrund der vorliegenden Quellen bis heute nicht seriös belegt werden. Er vermisst in der Mexikanistik ein grundlegendes Verständnis von Quellenkritik. Weder dürften die den Maya unter der Folter während der Inquisitionsprozesse in den Jahren 1563-65 abgepressten Aussagen einfach für bare Münze genommen werden, noch erlaubten mythische und bildnerische Darstellungen von grausamen Vorgängen einfache Rückschlüsse auf die gesellschaftliche Realität. Es gehe nicht an, den Maya oder Azteken zu unterstellen, „dass diese ihre Symbole beim Wort genommen hätten, weil ihnen angeblich die Fähigkeit zur Abstraktion fehlte – womit die Indigenas stillschweigend als Wilde oder Barbaren betrachtet werden. Doch eben diese >Steinzeitmenschen< [...] konnten sehr wohl abstrahieren: So definierten sie etwa 1000 Jahre vor den Völkern der Alten Welt den Begriff der Null und den Stellenwert und fixierten ein vollständig entwickeltes Zahlensystem mit ihren Schriftzeichen. Nicht zuletzt gehörten die indianischen Völker Mesoamerikas zu den größten Städtebauern während des vorindustriellen Zeitalters“.
Noch heute helfen die ungebrochen weitertradierten Fehlurteile über die grausamen Maya-Rituale dazu, die heute in Mexiko um ihre Rechte kämpfenden Indigenas als Erben einer barbarischen Gesellschaft zu diskreditieren. So erklärte im März 1997 ein Rechtsberater des damaligen Präsidenten Zedillo die mit den aufständischen Zapatistas geschlossenen Abkommen mit der Begründung für nichtig, die Indios würden bloß wieder Menschen opfern, wenn man ihre Sitten und Gebräuche tatsächlich zu respektieren versuchte.
Auch das im Buch vorgestellte Konzept eines noch nicht realisierten Kunstprojektes auf dem Wiener Heldenplatz stellt das mesoamerikanische Ballspiel in einen aktuellen politischen Kontext. Diesmal jedoch auf subversive Weise. Zwischen Ballhausplatz und dem Museum für Völkerkunde soll ein auf seine architektonischen Grundgestalt reduziertes Spielfeld aus zwei rampenförmigen Blöcken in Originalgröße entstehen. Der Anschein einer der Formsprache der Minimal Art verpflichtete Skulptur im öffentlichen Raum ist Teil des Konzepts. Eine Performance von indigenen Ballspielern soll dann auf die durch Herrschaftsinteressen geleitete Falschinterpretation der indigenen Tradition und die für die unterlegene Seite meist nachteiligen Missverständnisse des asymmetrischen Kulturaustauschs aufmerksam machen. Zentral sind Reflexionen über Fragen der kollektiven Selbstbehauptung gegenüber den mächtigen Repressionsinstanzen der globalisierten Welt.
Max Hinderer und Jens Kastner, die Herausgeber des Buches Pok Ta Pok, stellen die herrschaftskritischen Implikationen des Kunstprojektes heraus. „Dass das Prähispanische hier als mittlerweile Kanonisiertes der modernen westlichen Kunstgeschichte daherkommt, legt möglicherweise auch eine Spur zu der Übernahme vorkolumbianischer Methoden, Bauweisen, Form-Sprachen, die ohne Kennzeichnung in das uns so vertraute Repertoire eingegliedert und übernommen worden sind, so wie es noch jedes funktionierende Herrschaftsprojekt mit dem ihm Unterworfenen getan hat. Zugleich kann aber gefragt werden, ob es nicht gerade der Verweis auf das >Andere< im Eigenen eine Hybridität anzeigt, die immer schon das koloniale Herrschaftsprojekt subversiv unterlaufen hat.“
Außer der Einleitung sind die Essays zu wenig mit Ballspiel und Kunstprojekt vermittelt. Das gilt in besonders für Elisabeth Tuiders interessanten Beitrag zur interkulturellen Gendertheorie und Sabeth Buchmanns kenntnisreichen Aufsatz über die Rezeption der Minimal Art. Olaf Kaltmeier erörtert Identität, Raum und Gewalt im Zeitalter postkolonialer Weltordnungskriege, gebraucht das Ballspiel aber nur als illustrative Metapher der neoliberal entfesselten Gewaltdynamik. Kastner liest den Maya-Mythos vom listigen Ballspiel der Zwillinge Junajpu und Xb´alanke gegen die Herren der Unterwelt als Metapher für Kämpfe, die von Indigenen in Chiapas oder Oaxaca heute geführt werden. „Auch soziale Bewegungen ringen um die Beschaffenheit des Spielfeldes, die Regeln des Spiels und die Möglichkeiten, sie zu verwirren, zu unterlaufen oder gar zu ändern. Es geht dabei um das Spiel der Macht, um das Verhandeln der sozialen und kulturellen Spielregeln und die Kämpfe darum, wer sie bestimmt.“ Eine indigene Stimme fehlt leider unter den Autoren. Das gedankenreiche Buch ist allen an der politischen Wirkung von Kunst Interessierten dennoch sehr zu empfehlen.